Seitdem wir reden und das Gesprochene aufschreiben, drucken und lesen, seitdem hat sich bei einem kleinen Teil der Gesellschaft ein Unbehagen entwickelt - und zwar bei Menschen, die professionell mit Sprache zu tun haben. Sie betrachten das Geschriebene wie ein Chirurg, und ab und zu lautet die Diagnose: Hier stimmt was nicht, hier sollte operiert werden. Zum Beispiel am "Boot" mit seinen zwei o, wo es zur "Not" doch auch mit einem Vokal ginge. Das hat Philipp von Zesen, einer der ersten deutschen Berufsschriftsteller, bereits im Barock zu ändern versucht, und zwei Jahrhunderte später auch Jacob Grimm, sagt Horst Haider Munske, emeritierter Professor der Sprachwissenschaft an der Uni Erlangen.
"In seinem kritischen Wörterbuch hat er gesagt: Da mache ich eine moderne Schreibung, nämlich gerade bei den Vokalen. Aber sein Verleger hat das abgelehnt. Er hat gesagt: Dann kannst du das nicht mehr verkaufen, wenn du hier eine eigene Schreibung machst. In einem hat er sich dann leider doch durchgesetzt - er war ja ein Vertreter einer radikalen Kleinschreibung. Er hat es tatsächlich erreicht, dass sein Verleger das akzeptiert hat. Und darunter leiden wir noch heute."
Rechtschreibreform im 19. Jahrhundert
"Wir" meint jene Wissenschaftler, die an Grimms Werk weiterarbeiten, und "leiden" tun alle, die eine sinnvolle Groß-Klein-Schreibung gewohnt sind. Eine radikale oder nur gemäßigte Kleinschreibung wurde immer wieder abgelehnt - so auch im Kompromiss der Rechtschreibreform zwischen 1876 und 1901, festgehalten im Wörterbuch des Konrad Duden.
"Das Ergebnis 1901 war die Vereinheitlichung. Das war ein großer Gewinn, zweifellos. Duden selbst war durchaus reformorientiert, war ein Pragmatiker und hat gesehen: Das ist nicht durchsetzbar. Diese Lager hat es schon damals gegeben: Journalisten, Autoren, Literaturwissenschaftler waren schon immer gegen Reformen; Sprachwissenschaftler, Didaktiker, manchmal auch Schulmänner waren dafür."
Bald aber wurde "Der Duden" selbst Gegenstand von Reformbemühungen. Warum? Neben dem allgemeingültigen, noch recht schmalen Duden wurde ein spezieller Duden für das Druckgewerbe herausgebracht, der Normen in ganz anderer Art und Zahl setzte. Nach Konrad Dudens Tod 1915 wurden beide Werke zusammengeführt - mit üblen Folgen, sagt Horst Haider Munske:
"Der Drucker-Duden wurde zur allgemeinen Richtlinie. Damit war ein Weg einer sehr, sehr engen Reglementierung der Rechtschreibung beschritten, den wir heute bedauern; der auch dazu geführt hat, dass die Kritik an den Duden-Regeln immer stärker anwuchs."
Widerstand gegen Überegulierung
Und es bereits in den 20er- und 30er-Jahren zur Gegenwehr gegen diese Überregulierung kam. Sie richtete sich zum Beispiel gegen das ß als relativ spät hinzugekommener Teil der s-Schreibung. Der Schweizer Peter Gallmann, Sprachwissenschaftler und Professor an der Uni Jena, erinnert sich an Stationsschilder in Berliner U-Bahnhöfen wie "Klosterstrasse".
"Wenn die Schilder noch aus den 20er Jahren stammen, finden Sie häufig in Antiqua geschriebene Schilder mit Doppel-s. Es war also mal ein Trend im ganzen deutschen Sprachraum, und der Unterschied war nur: In der Schweiz hat sich der Trend Richtung mit Doppel-s durchgesetzt. In Deutschland hat man in den 30er-Jahren die Antiquaregel wieder an diejenigen der Fraktur angepasst nach dem Motto: Es sollte nicht je nach Schrift unterschiedliche Rechtschreibregeln geben."
Dann kippte Hitler die Frakturschrift, das ß jedoch blieb.
In der Bundesrepublik der 50er-Jahre scheiterten zwei Reformvorstöße. Es dauerte drei Jahrzehnte für einen erneuten Anlauf. Den Ball ins Rollen habe das Institut für Deutsche Sprache in Mannheim, kurz: IDS, gebracht, sagt Horst Haider Munske. Gerhard Stickel, Direktor des IDS von 1976 bis 2002, argumentierte gegenüber der Kultusministerkonferenz, der KMK:
"Das Schreiben wird leichter, wird einfacher, sowohl für die Schüler als auch für die Lehrer, und wir machen das - wir von unserem Institut, und es gibt ja noch eine Reformgruppe in der DDR, in Österreich, in der Schweiz; wir arbeiten alle zusammen und machen ihnen einen Vorschlag."
Reform "von oben" erzürnt die Öffentlichkeit
1988 übergab er ihn. In die Öffentlichkeit gelangte zum Beispiel, dass der "Keiser" nun mit e-i statt mit a-i geschrieben werden sollte, was belustigte bis empörte Reaktionen hervorrief. Das eigentliche Problem war jedoch: Die Neuregelung der deutschen Rechtschreibung, so hieß das Vorhaben offiziell, war für Schulen und Behörden gedacht. Dem großen Rest der Schreibenden und Verlegenden werde nichts weiter übrig bleiben, als sich anzuschließen, so die Hoffnung. Die folgende Auseinandersetzung war also bereits angelegt, als die Kommissionen der damals noch vier deutschsprachigen Länder ihre Arbeit aufnahmen. Die Fachseite vertraten reformfreudige Sprachwissenschaftler, die administrative Seite vertraten Kultusbeamte. Horst Haider Munske war von Anfang an dabei.
"Die ersten Vorschläge zielten einmal auf die Kleinschreibung und zum anderen auf die Vokallänge und -kürze. Wie das bekannt wurde, gab es einen Aufstand in der Öffentlichkeit."
"Der Erfolg einer Reform liegt auch darin, dass sie möglichst viel ändert"
Die KMK-Rechtschreibkommission reagierte erst, als das Rumoren unüberhörbar wurde, und berief 1993 eine Anhörung ein, auf der Akademien und Verbände ihre Bedenken vortrugen. Sie waren so massiv, dass Kleinschreibungen und Vokallängen von der Neuregelung ausgenommen wurden - wie einst im Kaiserreich. Kann man dann überhaupt noch von Rechtschreibreform reden?
"Der Erfolg einer Reform liegt auch darin, dass sie möglichst viel ändert, denn sonst ist die Wirksamkeit 'Einfacher schreiben' verloren. Je mehr nun davon zurückgenommen wird, umso wirkungsloser ist sie. Und das ist der Zustand, der eigentlich jetzt erreicht ist."
Horst Haider Munske kündigte 1997 seine Mitarbeit auf. Nicht weil die Reform als solche geplatzt war, sondern weil auf Gebieten wie der Getrennt- und Zusammenschreibung weiter "reformiert" wurde, wo es nach seinem Dafürhalten nicht nötig gewesen wäre. Seine Gründe hat er in dem Büchlein "Lob der Rechtschreibung" zusammengefasst.
"Groß- und Kleinschreibung insgesamt und Getrennt- und Zusammenschreibung - das sind Gebiete, wo die Sprache sehr in Bewegung ist, also wo sich relativ schnell etwas verändert. Es entstehen neue Substantive oder Substantive werden zu Adjektiven und so weiter. Die Qualität unserer Rechtschreibung, unserer flexiblen Regeln, liegt eben darin, dass sie dem Sprachwandel folgen kann und gleichzeitig die Abbildung der Sprache verbessert."
Hinzu kam sein Groll auf die Arbeit der KMK, deren mangelnde Transparenz: Man bekomme zwar Entscheidungen präsentiert, aber deren Werden bleibe im Dunkeln.
"Also - im Hintergrund sehen wir immer die Regie von KMK-Kommissionen, aber nie übernehmen die die Verantwortung dafür. Nie kann mit denen einer diskutieren. Das ist ja das Traurige - bei der Bologna-Reform war ja genau das Gleiche -, dass uns hier Dinge aufoktroyiert werden, durch die Politik, ohne dass es in der Politik eine politische Auseinandersetzung gegeben hat zwischen den Parteien, wie das eigentlich im parlamentarischen System vorgesehen ist."
Von der Reform überrumpelt
Auch Nadine Schimmel bezeichnet den gesamten Reformprozess als politisch geprägt. Sie hat gerade ihre Dissertation zum Prozess der Rechtschreibreform an der Uni Jena eingereicht, eine "Analyse typischer Diskurse zu Rechtschreibreform", wie es im Titel heißt. Die Einführung der Reform im Sommer 1996 ähnelte mehr einer Überrumpelung. Die vorher in Wien abgestimmten Übergangsfristen wurden unterlaufen, was nicht nötig gewesen sei.
"Absolut nicht, hätte man nicht machen müssen, weil: Abstimmungsprozesse waren zwar abgeschlossen erst mal für die Initiierung des Vorhabens, aber noch nicht für die Weiterentwicklung. Man hat Übergangszeiträume ausgemacht, erst mal bis 2005. Bis dahin sollten auch keine gravierenden Veränderungen vorgenommen werden, auch nicht durch die Verlage und Wörterbücher."
Hinzu kam, dass auch die Schulen nicht genügend vorbereitet waren.
"Das war auch zu frühzeitig, zum einen deswegen, weil die Lehrer noch gar nicht didaktisch geschult waren; es gab noch keine Lehrmaterialien, keine Vorbereitungsmaterialien, die Lehrer wurden noch gar nicht umgeschult, das heißt, sie mussten erst mal auf fachlicher Ebene soweit sein, bevor sie erst mal das Material bearbeiten können. Auch das war einfach voreilig."
Klagen wurden vorbereitet, auch von Eltern, die die Zukunft ihrer Kinder in Gefahr sahen. Die Debatte wurde gereizt, ja hysterisch: Kinder würden nie mehr richtig schreiben lernen.
Manche Erwartungen seien völlig überzogen, sagt Peter Gallmann, der auch Mitglied im Rat für deutsche Rechtschreibung ist: Wer mit neun Jahren noch nicht fehlerfrei schreiben kann, ist fürs Leben gezeichnet - falsch. Und auch mit der Ansicht, dass nur ein korrektes Schriftbild zu richtigem Schreiben führe, kann er wenig anfangen.
"Wenn man sich so leicht von Schriftbildern beeinflussen ließe ... Vor allem wird immer behauptet, wenn die Kinder mal ein falsches Wort gesehen haben, prägt sich das in die Seelen ein und sie werden das Wort nie mehr richtig schreiben. Wenn das so wäre, dann müssten sich ja auch die richtigen Schriftbilder einprägen und würden nie mehr verloren gehen. Nein, das ist nicht so."
In der Praxis erstaunlich wenig Probleme
Es wurde einige Jahre lang komplizierter, aber nicht katastrophal. Für die sogenannte DESI-Studie ("Deutsch Englisch Schülerleistungen International") wurden in den Jahren 2003/2004 annähernd 11.000 Neuntklässler in Deutsch und Englisch geprüft. Eines der Resultate: Mädchen schneiden besser ab als Jungen, wobei die Geschlechter in Wortschatz und Lesekompetenz dichter beieinander liegen, als in der Textproduktion und Rechtschreibung; da hinken die Jungen hinterher. Das ist jedoch nicht neu. Aktuelle belastbare Zahlen liegen nicht vor.
Wie die Schüler abschneiden, hängt auch vom Fach- und Hintergrundwissen der Lehrer ab. Dabei reicht es nicht aus, den Duden auswendig zu kennen. Wichtiger sei, "dass wenn die Schüler Fehler machen, die Lehrer Diagnosen stellen können, worin genau der Fehler besteht, welches die Hintergründe sind, denn nur dann kann man richtige Therapien machen. Wenn man falsch diagnostiziert, langweilt man die Schüler mit überflüssigen Übungen und sie schreiben genauso gut oder schlecht wie vorher."
Auch in Zeitungsredaktionen mit Hausorthografien, die es allerdings bereits vor der Reform gab, fassten die Änderungen Fuß, stellte Nadine Schimmel fest. Im Prinzip hätte die Reform von 1996 beibehalten werden können und nicht zehn Jahre später teilweise wieder zurückgenommen werden müssen.
"Die Rücknahme der Rücknahme hat ergeben, dass sich die Umstellungsprozesse ganz gut durchgesetzt hatten, dass es in der Schule ganz gut angekommen ist, selbst in den Redaktionen. Da hatte ich ein Interview mit einem Chefredakteur, der mir bestätigt hat, dass die alten Hasen immer auf der alten Rechtschreibung bestanden haben. Aber mit den neuen Redakteuren, mit neuem frischem Blut hat sich die Variantenschreibung halbwegs aufgelöst; Man hat sich entschieden und ist heute auch gut angekommen."
Dem Volk auf den Mund geschaut
Das ist keine Annahme, sondern durch Korpusuntersuchungen bestätigt: Fast alles, was Zeitungs- und Buchverlage drucken, wird stichprobenartig auf Schreibweisen von Worten hin untersucht. In Deutschland existieren drei derartige Sammlungen: die der beiden Wörterbücher Duden und Wahrig sowie jene am Institut für Deutsche Sprache Mannheim. Allein hier stehen 25 Milliarden Wörter zur Auswertung bereit. Mit ihnen arbeitet der Rat für deutsche Rechtschreibung, seit 2004 das wichtigste Gremium für Sprachpflege. Er hat zwar seinen Platz am IDS, ist aber eine Kommission der Kultusministerkonferenz. Zweimal im Jahr treffen sich die 40 Mitglieder aus den drei deutschsprachigen Ländern; je ein Delegierter vertritt die Deutschsprechenden aus Südtirol, Liechtenstein, Luxemburg und Belgien. Sie beraten jene Fälle, die noch nicht zufriedenstellend geregelt sind, sagt Professor Ludwig Eichinger, Direktor des IDS:
"Vor allem in der ersten Zeit hat man versucht, die Stellen, wo entweder der Rat was Neues eingeführt hat - Getrennt-, Zusammenschreibung - oder eine neue Art von Variationen gebildet hat, die Stellen mal systematisch zu überprüfen an häufigen Wörtern, was die Schreiber da machen. Das war jetzt die Hauptaufgabe."
"Auf der jüngsten Sitzung in Liechtenstein vor einer Woche wurde unter anderem der Gebrauch von Fremdwörtern geprüft."
"Niemand will Praliné mit zwei e am Ende schreiben, oder niemand will Buffet mit ü schreiben. Das ist früher auch immer im Vorbeigehen geschehen, dass solche Dinge verändert wurden. Dann sind wir auch etwas Grundsätzliches angegangen: Zum Beispiel fehlt unseren Passämtern der Großbuchstabe ß, weil das bei Eigennamen häufiger eine Rolle spielt. Im Regelwerk steht: Den gibt es nicht. Und wir würden vorschlagen, zu beschließen, es gäbe ihn für diesen Zweck. Man müsse ihn nicht benutzen, aber man könne ihn benutzen, wenn es relevant ist."
Ob es so kommt, liegt in der Hand der Politiker. Auch in diesem Fall:
"Journalisten schreiben gern 'der Große Lauschangriff' groß, obwohl das kein Eigenname ist, und daher ist wie der 'Blaue Brief', der ein Entlassungsbrief ist und normalerweise kleingeschrieben wird, auch kleingeschrieben werden könnte - diese Abstufung etwas besser zu erfassen, war die Idee, und den Journalisten mehr Recht zu geben, so etwas großzuschreiben."
Am einprägsamsten war wohl die Debatte um den "Heiligen Vater", der nach der Reform hätte kleingeschrieben werden müssen. Er wird weiter großgeschrieben, was er letztlich dem Katholiken Hans Zehetmair zu verdanken hat. Als Kultusminister Bayerns führte er 1996 als erster die Reform ein, dann wurde er Kritiker der Reform. Als Vorsitzender des Rechtschreibrates seit Gründung übergibt er am Jahresende sein Amt an Joseph Lange.
Renaissance des Schreibens im Netz
Arbeitslos wird der Rat wohl nie; allein die elektronischen Medien verschaffen immer neue Schreibweisen, auch wenn diese oft fern dem "Duden" sind - im privaten Gebrauch von SMS oder E-Mail ist die Orthografie wohl das Letzte, was von Bedeutung ist. In den Forschungskorpus des IDS einfließen werde aber durchaus etwas aus dem Netz, sagt Ludwig Eichinger.
"In der Wikipedia, auch in der Hintergrunddiskussion, wo es informell ein bisschen zugeht, kann man davon ausgehen, dass sich die im Wesentlichen mit Normalschreibung orientieren, aber vielleicht ein bisschen lockerer sind, und dadurch die Ränder vielleicht ein bisschen stärker ausloten bei den seriösen Texten."
Und was passiert mit jenen Fällen, bei denen Mehrfachschreibungen möglich sind - was Horst Haider Munske polemisch als "Variantensalat" bezeichnet hat? Wird Rechtschreibung je eindeutig werden, wo Sprache doch immer im Fluss ist?
"Ich denke, dass es an ein paar Stellen immer Varianz geben wird. Es gibt diese kontextabhängigen Stellen, die die Getrennt- und Zusammenschreibung sehr stark betreffen, ob man etwas für 'schwerer wiegend' hält und ob man dann 'schwerer wiegend' lieber auseinanderschreibt, oder ob es eine andere Bedeutung meint, dass man dann 'schwererwiegend' zusammenschreibt - so was wird es vermutlich immer in irgendeiner Weise geben. Und dann weiß man oft nicht - wir haben ja 'ich schwimme Brust', und jetzt weiß keiner: wie schreibt man 'Brust' - groß oder 'brust' klein, weil ich 'brustschwimme'? Also, solche Übergangsphänomene, wo man nicht ganz sicher ist: ist das nun ein Substantiv, ist das keins? - solche Dinge wird es immer wieder geben. Und dann muss man mal schauen, welche Quelle es betrifft, und dann findet sich im Lauf der Zeit unter den Schreibenden eine Einigung auf eine präferierte Lösung."