Christoph Heinemann: Wie muss man sich die Atmosphäre vor 200 Jahren in Wien vorstellen?
Thierry Lentz: Es war eine sowohl arbeitsame Atmosphäre, man hatte ja einiges zu tun, und eine Feststimmung, denn immerhin waren gerade 25 Jahre Krieg beendet. Die Leute wollten sich amüsieren, und das hat man ihnen ermöglicht. Der Satz des Fürsten de Ligne, „Der Kongress macht keine Fortschritte, aber er tanzt", bezieht sich einerseits auf die Volksfeste, andererseits aber auch auf die Veranstaltungen für die Verhandlungsführer und vor allem für die Herrscher, die nach Wien gekommen waren, obwohl sie üblicherweise nicht an den diplomatischen Verhandlung teilnahmen. Man hatte ein Programm von Empfängen auch deshalb vorbereitet, um sie zu beschäftigen.
Heinemann: Und diese Herrscher sind mit ihren Frauen und ihren Mätressen angereist?
Lentz: Sie hatten in ihren Kutschen und Koffern alles dabei, was sie benötigten. Wir wissen ziemlich genau, was sich in den Betten und den Schlafzimmern während des Wiener Kongresses zugetragen hat, weil die österreichische Polizei alle überwacht hat. Deshalb stehen in den Polizeiberichten ausgesprochen intime Einzelheiten, was in dieser Epoche sehr selten war.
Heinemann: Französisch war die Sprache der Diplomatie - sprach jeder gut genug Französisch?
Lentz: Anders als man glauben mag, bestand keine Verpflichtung, Französisch zu sprechen. Das war zu einer Gewohnheit, einer Tradition geworden. In einigen Delegationen wurde sehr wenig Französisch gesprochen, vor allem in der englischen: Castlereagh sprach ein klein wenig Französisch, aber sonst niemand in seiner Delegation. Deshalb wurden aus London junge Diplomaten geschickt, die die Sprache beherrschten, sodass die Verhandlungsführer die Verhandlungen verstehen konnten - und auch die Schriftstücke. Man darf nämlich nicht vergessen, dass diese Diplomatie, wie die heutige, überwiegend über schriftliche Noten vonstattenging. Damit sollte verhindert werden, dass die Interessen gegenüber der mündlichen rhetorischen Gewandtheit ins Hintertreffen geraten würden.
"Maßnahmen, die in gewisser Weise für die ganze Welt galten"
Heinemann: Musste der Kongress die Ideen oder einige Ideen der Revolution berücksichtigen?
Lentz: Ja. Es heißt oft, der Wiener Kongress habe die Revolution auslöschen wollen. Das ist vollkommen falsch. Territorial musste der Kongress alles das berücksichtigen, was sich seit dem Beginn der Französischen Revolution ereignet hatte. Vor allem in Deutschland: es gab eben keine Rückkehr zum Heiligen Römischen Reich mit seinen dreihundertsoundsoviel Staaten. Aber auch ideengeschichtlich: in der Schlussakte steht, man müsse die Zeit berücksichtigen, und dies bedeute, Verfassungen auszuarbeiten und in Kraft zu setzen.
Heinemann: Also ging der Kongress deutlich über das Ziel einer Restauration der Monarchien hinaus?
Lentz: Erstmals in der Geschichte der Diplomatie hat der Kongress das beschlossen, was wir heute supranational nennen. Maßnahmen, die in gewisser Weise für die ganze Welt galten.
Heinemann: Sie sprechen in Ihrem Buch von einem „Sicherheitsrat" bevor es diesen Begriff überhaupt gab.
Lentz: Das bezieht sich auf das, was der Kongress das „Europäische Konzert" nannte. Das bedeutete, dass sich die vier großen Staaten, Österreich, Preußen, England und Russland im Krisenfall treffen und Beschlüsse fassen konnten, die für alle anderen galten. Zu den vier kam in den 20er-Jahren Frankreich hinzu. Später hat man Spanien und in den 60er-Jahren Italien aufgenommen. Und dies erklärt, warum für ein Jahrhundert in Europa kein großer Krieg ausbrach. Es gab Kriege in dieser Zeit, aber man konnte verhindern, dass sich diese Kriege auf den gesamten Kontinent ausdehnten. Wegen dieses Europäischen Konzerts.
Heinemann: Wieso hat dieses Europäische Konzert 100 Jahre später den Großen Krieg von 1914 bis 1918 nicht mehr verhindern können?
Lentz: Ein Grund besteht darin, dass sich die Supermacht jener Epoche, England, mit dem beginnenden 20. Jahrhundert zusehends weniger für die europäischen Angelegenheiten interessierte. Bis dahin hatten die Engländer mehr oder weniger für alle anderen entschieden.
"Man muss direkt mit Putin sprechen"
Heinemann: Deshalb sprechen Sie in Ihrem Buch von einer Pax Britannica?
Lentz: Die Engländer lieben keine Kriege, sie wollen lieber Geschäfte machen. Dafür bedarf es des Friedens. Und entsprechend hat England so lange wie möglich auf dem Kontinent interveniert. Mit den Balkankriegen zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat sich das geändert. Die Engländer verstanden diese nicht und meinten, sie beeinträchtigten nicht die englischen Interessen. Die Lektion, die man daraus lernen kann, und die beinahe eine für die gegenwärtige Lage ist, lautet: Wenn sich eine Supermacht zurückzieht, gibt es niemanden mehr, der in der Lage wäre, im internationalen Konzert für Ordnung zu sorgen.
Heinemann: Damals ging es darum, das post-napoleonische Frankreich zu integrieren. Heute geht es darum Putins Russland in eine Art Sicherheitsmechanismus zu integrieren. Taugt der Wiener Kongress dabei als Vorbild?
Lentz: Die Vorgehensweise in Wien war klug: Seit Peter dem Großen wollte Russland immer ein europäischer Staat sein. 1814 hat man das erstmals anerkannt, und Russland hat dann an der Ausgestaltung der europäischen Politik teilgenommen. Wenn man dies mit der heutigen Lage vergleicht, wäre das erste, diesen europäischen Charakter Russlands anzuerkennen. Was mich gegenwärtig sehr beunruhigt, ist, dass Russland als rückständig betrachtet wird, ein Land, das von einem Diktator geführt wird. Dabei bleibt außen vor, dass es sich um das größte Land der Erde und trotz allem um eine Großmacht handelt.
Der französische Staatspräsident hat kürzlich erklärt, er pflege mit Wladimir Putin nur einen indirekten Kontakt. Das halte ich für einen Fehler: man muss direkt mit Putin sprechen. Es reicht, zum Hörer zu greifen und ihn anzurufen. Der Mann ist kein Teufel, sondern ein Staatschef. Zwar wurde er so gewählt, wie er nun einmal gewählt wurde, das ist ein anderes Thema. Aber er ist ein Staatschef und ein Partner von Europa. Gegenwärtig erleben wir eine Meinungsdiplomatie. Die Diplomatie ist aber kein Gefühl, sondern ein Geschäft. Und so muss man sie auch handhaben.