Buenos Aires, 1. Juni 1978: Im Stadion Monumental der argentinischen Hauptstadt eröffnete Jorge Rafael Videla, Präsident der Militärjunta, die Fußball-Weltmeisterschaft.
"Ich bitte Gott unseren Herrn darum, dass dieses Ereignis wirklich dazu beitragen wird, den Frieden zu bejahen. Den Frieden, den wir alle wollen, für die Menschen in der ganzen Welt."
Während Videla mit wohlklingenden Worten von Frieden sprach und die Welt ihm bei der Liveübertragung zuhörte, machten die Militärs überall in Argentinien Jagd auf Mitglieder und Sympathisanten linker Organisationen. Ihr Ziel war es, sogenannte 'subversive Kräfte' auszumerzen. Gut zwei Jahre zuvor, am 24. März 1976, hatten sich Videla und andere Generäle an die Macht geputscht.
Verschleppungen, Folter und tausendfacher Mord
Die Junta - die Regierung der Generäle - sah die Weltmeisterschaft als ideale Gelegenheit an, ihr Image im eigenen Land und international zu verbessern. Die offizielle Hymne der WM '78 klang fröhlich, doch hinter den Kulissen des Fußball-Festes gingen die schweren Menschenrechts-Verletzungen weiter: Militärs und Sicherheitskräfte verschleppten systematisch Menschen, folterten sie und brachten sie in den meisten Fällen um. Die Opfer waren Mitglieder von Untergrundgruppen, Studenten, Schüler, Gewerkschafter, Wissenschaftler und Intellektuelle.
"Gustavo, mein Sohn, verschwand am 15. April 1977. Bis zum heutigen Tag weiß ich absolut nichts darüber, wohin sie ihn verschleppt haben und wie er gestorben ist. Ich habe ihn immer gesucht, so wie das alle Mütter der Verschwundenen tun."
Nora Cortiñas ist eine von vielen Müttern, die sich ab 1976 bei der Suche nach ihren Kindern begegnet sind. Mütter, die damals auf die Plaza de Mayo, den Platz vor dem Regierungspalast in Buenos Aires, zogen und gemeinsam Aufklärung über den Verbleib ihrer Kinder forderten. Ihr Mut, ihre Hartnäckigkeit und ihr friedlicher Protest haben die Madres de Plaza de Mayo weltberühmt gemacht.
Doch während der ersten Jahre der Militärdiktatur in Argentinien waren die Madres, die Mütter und die anderen Angehörigen der Desaparecidos, der Verschwundenen, allein mit ihrer Ungewissheit. Auch deshalb vergisst Nora Cortiñas, heute 88 Jahre alt, die Fußball-Weltmeisterschaft von 1978 nicht.
"Wir durchlitten riesigen Schmerz"
"Wir haben uns sehr einsam gefühlt. Während das ganze Land die Fußball-WM genoss, durchlitten wir riesigen Schmerz. Es war schrecklich. Eine von uns Müttern hat damals ihren Mann verloren. Er begann, sich schlecht zu fühlen, als Argentinien ein Spiel gewonnen hatte und die Menschen auf den Straßen feierten. Seine schwangere Tochter war verschwunden und er hat den Jubel nicht ausgehalten, am nächsten Tag ist er an einem Herzinfarkt gestorben. Wir haben viel geweint, als wir gesehen haben, wie die Diktatur den Fußball als Ablenkungsmanöver benutzt hat."
Aber für die Familien der Verschwundenen bedeutete die Weltmeisterschaft auch einen Hoffnungsschimmer. Die Augen der Welt waren im Juni 1978 auf Argentinien gerichtet und die Mütter bemühten sich, die Menschenrechtsverletzungen in ihrem Land international bekannt zu machen.
"Einige Spieler ausländischer Mannschaften wollten mit uns Müttern reden. Das war gefährlich, denn die Militärs haben sie überwacht. Wir haben uns möglichst unauffällig in einem Café getroffen, mit Spielern aus Holland, Schweden und Frankreich."
Für die argentinische Gastgebermannschaft war das Turnier von 1978 ein großer Erfolg: Bevor sie im Finale gegen die Niederlande spielte und Weltmeister wurde, gewann sie vier weitere Partien. Bei jedem Sieg stand das fußballverrückte Argentinien Kopf. Mit großer Wahrscheinlichkeit war die lautstarke Begeisterung der Fans im Stadion Monumental auch auf dem knapp einen Kilometer entfernten Gelände der ESMA, der Mechanik-Schule der Marine, zu hören. Dort befand sich eines der größten Foltergefängnisse der Militärdiktatur, in dem - wie man heute weiß - zwischen 1976 und '79 rund fünftausend Menschen gefangen gehalten wurden - nur wenige überlebten.
"Und es hieß, in der nächtlichen Stille auf Torjubel zu warten. Ein Tor für Argentinien, wie in den Nächten zuvor, und es würde, wenigstens bis zum nächsten Morgen, wahrscheinlich keine weiteren Schreie geben."
"Ich habe die WM mit absoluter Naivität erlebt"
Versetzt sich der Schriftsteller Martín Kohan in seinem Buch 'Zweimal Juni' in die Lage der Gefangenen von damals. Sein Roman spielt während der Fußball-WM und Kohan nimmt mal die Perspektive der Opfer ein, mal die eines Rekruten. Martín Kohan ist einer der zeitgenössischen argentinischen Autoren, die sich heute intensiv mit Themen der Erinnerung auseinandersetzen.
"Als Elfjähriger habe ich die Weltmeisterschaft mit absoluter Naivität erlebt. Fast das ganze Land fieberte mit, feierte die Siege unseres Teams, und ich war dabei. Meine Erfahrung war also eine ganz andere als die, die ich in 'Zweimal Juni' erzähle."
Wann endete in Argentinien diese Ahnungslosigkeit? Wann wurde sich die Bevölkerung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit bewusst? Verbrechen, die das Militär während der Fußball-Weltmeisterschaft und während der sieben Jahre lang andauernden Diktatur begangen hatte? Für den Schriftsteller Martín Kohan war der Wendepunkt der von der Junta angezettelte Falkland-Krieg, den Argentinien gegen Großbritannien verlor.
"Wir haben nichts gewusst, wir erfahren erst jetzt, was passiert ist - sagten damals alle. Meiner Meinung nach war diese Reaktion übertrieben. Denn es stimmte ja nicht, dass die Argentinier völlig unwissend waren. Die Militärs hatten Angst und Einschüchterung verbreitet. Viele Menschen wollten lieber nicht wissen, was passierte, oder sie taten so, als wüssten sie nichts. Und manche waren gar nicht dagegen, was während der Diktatur geschah."
Im Oktober 1983 endete die Diktatur in Argentinien - die Militärs dankten ab. Es fanden demokratische Wahlen statt, die Raúl Alfonsín von der sozialdemokratisch orientierten 'Radikalen Bürgerunion' gewann. Kurz nach seinem Amtsantritt als Präsident setzte Alfonsín eine Kommission zur Aufklärung der Verbrechen der Militärs ein. Vor der CONADEP, der 'Nationalen Kommission über das Verschwinden von Personen', sagten innerhalb weniger Monate Tausende von Opfern aus.
Im September 1984 legte die CONADEP unter dem Titel Nunca más, 'Nie wieder', ihren Abschlussbericht vor. Darin dokumentierte sie knapp 9.000 Fälle gewaltsamen Verschwindenlassens. Menschenrechts- und Opferorganisationen gehen bis heute aber von einer höheren Zahl aus, sie sprechen von 30.000 Personen, die verschwunden sind.
Gefängnisstrafen für die Generäle
Nunca más, 'Nie wieder' - das waren auch die Worte, mit denen Staatsanwalt Julio César Strassera im Jahr 1985 im Prozess gegen die Junta sein Abschluss-Plädoyer beendete. General Jorge Rafael Videla und Marine-Admiral Emilio Massera wurden zu lebenslanger Haft verurteilt, die anderen Junta-Mitglieder erhielten kürzere Gefängnisstrafen.
Erinnerung, Wahrheit und Gerechtigkeit - so lautete die Forderung der argentinischen Diktatur-Opfer von Anfang an. Der Schriftsteller Martín Kohan meint, das Entstehen eines kollektiven Gedächtnisses sei eng verbunden mit der juristischen Aufarbeitung.
"Erinnerung ist entscheidend für die Forderung nach Gerechtigkeit. Die Herstellung von Gerechtigkeit ist wiederum entscheidend für die Konstruktion von Erinnerung. Dass in Argentinien sofort die Diktaturverbrechen dokumentiert und die Generäle verurteilt wurden, erklärt zum großen Teil, warum bei uns schneller kollektive Erinnerungsprozesse einsetzten als in anderen Ländern mit Militärdiktaturen, wie Chile, Uruguay und Brasilien. Auch die 'Mütter der Plaza de Mayo' mit ihrem Kampf für Wahrheit und Gerechtigkeit waren sehr wichtig für die Konstruktion von Erinnerung in der Gesellschaft."
In der zweiten Hälfte der 1980-Jahre kamen in Argentinien die Gerichtsprozesse gegen die Täter der Diktatur zum Erliegen. Unter dem wachsenden Druck eines Teils der Streitkräfte erließ die Regierung Alfonsín zwei Gesetze, die mittlere und untere militärische Ränge vor Strafverfolgung schützten. Alfonsins Nachfolger, der Peronist Carlos Menem begnadigte die Junta-Generäle dann. Während der nachfolgenden eineinhalb Jahrzehnte gab es keine juristische Aufarbeitung der Diktatur - und auch nur wenig staatliche Förderung für die Erinnerungskultur.
Präsident Menem zeigte kein Interesse an Geschichtspolitik. Aber in der Hauptstadt Buenos Aires beschloss das Stadtparlament 1997 die Schaffung eines 'Parks der Erinnerung'. Nora Hochbaum ist die Direktorin.
"Menschenrechts-Organisationen hatten der Stadtregierung vorgeschlagen, eine zentrale Gedenkstätte für die Opfer des Staatsterrorismus' einzurichten. Die Organisationen wollten einen öffentlichen Park mit Kunstwerken, einen schönen Ort - keinen Friedhof. Der 'Park der Erinnerung' sollte neue Generationen anziehen - junge Leute."
Ein Park für die Erinnerung
2007 wurde der vierzehn Hektar große Parque de la Memoria eingeweiht und ist heute aus dem Stadtbild von Buenos Aires nicht mehr wegzudenken. Der Park befindet sich am Flussufer des Río de la Plata - eine Anspielung auf die grausame Praxis der Todesflüge. Auf fünf lange Granit-Mauern sind die Namen von fast 9.000 Verschwundenen und Mordopfern eingraviert, die Mauern sind zickzack-förmig angeordnet und wirken - aus der Luft betrachtet - wie eine Wunde.
"Als wir vor zwanzig Jahren den Park der Erinnerung konzipierten, gab es in Lateinamerika keinerlei Vorbilder. Wir haben damals auch nach Deutschland geschaut. Zwar war das Thema, der Holocaust, ein anderes, aber uns interessierte die Machart der deutschen und auch der französischen Erinnerungsorte. Für den Architekten dieser Gedenkstätte war Daniel Libeskinds Jüdisches Museum in Berlin eine Inspiration."
Jedes Jahr am 24. März, dem Jahrestag des Militärputsches, gedenken hier viele Familien ihrer verschwundenen Angehörigen - denn ein Grab, wo sie Blumen niederlegen könnten, gibt es in den meisten Fällen nicht. Teil der argentinischen Erinnerungskultur sind auch die großen Gedenk-Demonstrationen, die am Jahrestag des Putsches in Buenos Aires und vielen anderen Städten stattfinden. Zentrale Figuren dort sind jedes Mal die 'Mütter und Großmütter der Plaza de Mayo' mit ihren weißen Kopftüchern. Sie sind zu einem Symbol geworden: Seit vier Jahrzehnten suchen sie ihre Kinder und Enkel. Und die Großmütter haben bisher 127 ihrer inzwischen erwachsenen Enkel wiedergefunden.
La Memoria, die Erinnerung - hier besungen von dem Sänger Leon Gieco - ist in Argentinien heute höchst lebendig. Aber ist das kollektive Gedächtnis tatsächlich das Gedächtnis der ganzen Gesellschaft? Vera Carnovale, eine auf Erinnerungs-Themen spezialisierte Historikerin, sagt: "Es existiert nicht nur eine Erinnerung, sondern viele. Eins steht fest: Die argentinische Menschenrechtsbewegung hat etwas sehr Wichtiges erreicht: Einen gesellschaftlichen Konsens bezüglich des 'Nie wieder', also der Überzeugung, dass es nie wieder Diktatur und Staatsterrorismus geben darf. Doch dieser vorherrschende Erinnerungsdiskurs hat auch eine Schattenseite: Es gibt bestimmte Tabu-Themen, über die nicht geredet werden kann."
Zu diesen Tabu-Themen zählt beispielsweise die Zahl der Verschwundenen. Waren es 30.000, wie die Menschenrechts-Organisationen und ein großer Teil der Argentinier glauben? Oder waren es knapp 9.000, wie die CONADEP, die Kommission zur Dokumentierung der Verbrechen der Militärjunta, ermittelte? Eine Diskussion darüber ist in Argentinien schwierig. Denn 30.000 ist nicht nur eine Zahl, sondern vor allem ein Symbol: Ein Symbol für ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das das Verschwindenlassen von Menschen darstellt.
Weitgehend aus dem dominierenden Erinnerungs-Diskurs verbannt sind auch die Jahre politischer Gewalt, die in Argentinien dem Putsch des Militärs vorausgegangen waren.
"Perón war eine Schlüsselfigur für die Entstehung des Plans zur Vernichtung der sogenannten Subversiven"
"Dieser Diskurs verschweigt andere Verantwortlichkeiten, die zum Massaker der Diktatur führten. Nicht zuletzt die Verantwortung des Peronismus, der vor dem Putsch regierte, und von Präsident Juan Domingo Perón selbst. Perón war eine Schlüsselfigur für die Entstehung des Plans zur Vernichtung der sogenannten Subversiven, also der linksrevolutionären Gruppen. Nach dem Putsch wurde der Plan dann vollendet und umgesetzt. Diese Verantwortung Peróns kommt im vorherrschenden Geschichts-Diskurs bis heute nicht vor. Ein anderes Tabu-Thema sind die Morde, die linke Guerilla-Gruppen verübten."
Mehrere hundert Menschen haben linke argentinische Guerilla-Organisationen in den 1970er-Jahren umgebracht: Soldaten, Polizisten und Zivilisten. Das trug zur Gewaltspirale ebenso bei wie die zahlreichen Morde von rechten Todesschwadronen der 'Antikommunistischen Allianz, Triple A'. Unter den peronistischen Regierungen von 1973 bis 1976 gab es in Argentinien bereits sechshundert Verschwundene.
Weil die Gewaltspirale mit ihren diversen Akteuren, die im Jahr 1976 schließlich zum Militärputsch geführt hatte, aus der öffentlichen Erinnerung weitgehend ausgeklammert wurde, spricht etwa die Zeithistorikerin Florencia Levín von einer 'einfachen Erinnerung'.
"Die Erinnerung, für die nach der Diktatur der Bericht 'Nie wieder' die Grundlage legte, sprach die argentinische Gesellschaft gewissermaßen von aller Verantwortung frei. Die Gesellschaft erschien als Opfer eines Kampfes zwischen zwei Dämonen: Dem Staatsterrorismus auf der einen Seite und der subversiven Linken auf der anderen Seite. Diese Vereinfachung der Geschichte erlaubte es der Gesellschaft zu sagen: Wir hatten mit all dem nichts zu tun."
Das 'Nie wieder' - in der Gesellschaft fest verankert
Unter dem linksperonistischen Präsidenten Néstor Kirchner kam es im Jahr 2005 schließlich zu einer Wiederaufnahme der Prozesse um die Diktatur-Verbrechen. Bis Ende des vergangenen Jahres wurden fast 900 Personen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu Gefängnisstrafen verurteilt, überwiegend Ex-Militärs und Polizisten. Der ehemalige Diktator Videla erhielt mehrmals lebenslänglich und starb 2013 in der Haft. Kirchner und seine Frau und Nachfolgerin, Cristina, machten die Erinnerung an die Diktatur zu einer der Säulen ihrer Politik. Orte des Terrors - wie das Foltergefängnis ESMA, das Präsident Menem in den neunziger Jahren abreißen wollte - wurden als Gedenkstätten der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Zweifellos geschichtspolitische Fortschritte, doch Kritiker werfen den Kirchners vor, die Erinnerungskultur politisch instrumentalisiert zu haben. Tatsächlich brachten Néstor und Cristina Kirchner mit Gesten und Geld viele zuvor unabhängige Opfer- und Menschenrechts-Organisationen auf Regierungslinie. Nora Cortiñas von den 'Müttern der Plaza de Mayo'.
"Kirchner hat die Menschenrechtsbewegung zum großen Teil vereinnahmt, kooptiert, um seine Regierung zu stärken. Er hat viele gekauft. Die meisten Mütter der Plaza de Mayo - mit Ausnahme von mir und ein paar anderen - haben sich vereinnahmen lassen."
Manche Argentinier glauben, dass der Kirchnerismus der Erinnerung und ihren Symbolfiguren Schaden zugefügt habe. Dem jetzigen Präsidenten Mauricio Macri werfen vergangenheitsbewusste Argentinier vor, gar kein Interesse an Geschichtspolitik zu haben. Tatsächlich ließ der Wirtschaftsliberale Macri bisher kaum Affinität zur Erinnerungskultur erkennen. Etwa plant seine Regierung kein offizielles Gedenken an die von den Diktatur-Verbrechen überschattete Fußball-Weltmeisterschaft von 1978.
Heute, 40 Jahre später befindet sich die kollektive Erinnerung der Argentinier zweifellos noch im Wandel. Die Überzeugung des 'Nie wieder' sei in der Gesellschaft aber fest verankert, sagt Nora Hochbaum, die Direktorin des 'Parks der Erinnerung'.
"Mal gibt es Rückschritte in der Erinnerungspolitik, mal gibt es Verbesserungen, jede Regierung hat ihre Eigenheiten. Aber unabhängig davon hat unsere Gesellschaft die Lektion der Vergangenheit gelernt und begriffen, dass der Schutz der Menschenrechte eine Politik des Staates sein muss."