Das Interview der Woche wird um 11.05 Uhr im Deutschlandfunk gesendet.
Dirk-Oliver Heckmann: Herr Aly, im Mai 1968, da kam es in Paris zu tagelangen Straßenschlachten. Auslöser war bekanntlich die Schließung der Universität von Nanterre und der Sorbonne wegen fortgesetzter Unruhen. Und bei der Räumung der Barrikaden, da gab es Hunderte zum Teil Schwerverletzte, zahllose Festnahmen natürlich. Die französischen Gewerkschaften, die riefen zum Generalstreik auf und weltweit gab es eine Solidarisierung mit den Studenten. Sie, Herr Aly, waren damals 21 Jahre alt, wenn ich richtig gerechnet habe. 50 Jahre ist das jetzt her. Welchen Eindruck haben diese Unruhen in Paris auf Sie gemacht?
Götz Aly: Ja, also wir waren furchtbar aufgeregt damals, überall diese Ereignisse, und haben die französische Polizei für die Ausgeburt des Faschismus gehalten und Leute wie Cohn-Bendit als junge, agitatorisch wirksame Führer einer solchen Massenbewegung bewundert. Nicht ich, aber einige meiner Freunde und Altersgenossen sind sofort nach Paris gefahren. Der eine kam begeistert zurück, ein Künstler, der sich später totgetrunken hat, Harald hieß er. Dieser Mann erzählte dann: "Ich habe die Pariser Börse brennen gesehen!" Also mit dieser Emphase hat sich das in Deutschland gespiegelt und natürlich hier die schon beginnende 68er-Revolte verstärkt.
Heckmann: Und diese Unruhe, die waren ja ein Höhepunkt der 68er-Bewegung in Europa oder auch weltweit, aber entstanden ist diese Bewegung ja auch schon früher. Was war denn Auslöser für Sie, dort sich zu beteiligen?
Aly: Das ging noch am Ende der Schulzeit los mit der Diskussion um die Notstandsgesetze. Das war ein mich politisierender Vorgang, und ich habe dann Kontakt gewonnen auch zur SDS-Gruppe, also dem Sozialistischen Hochschulverband in München der Deutschen Studentenschaft. Da gab es eine für die Schüler zuständige Agitatorin, und da wurde einem zum ersten Mal die Internationale zu Gehör gebracht und vorgesungen. Da gab es dann aber auch so Schriften als Raubdruck wie die Funktion des Orgasmus von Wilhelm Reich, und damit konnte man in bayrischen Schulen sehr viel bewirken damals noch. Das musste man nur auf den Tisch legen und schon war der Teufel los.
Gemischte Atmosphäre in der Bundesrepublik
Heckmann: Wie würden Sie denn die Atmosphäre in der Bunderepublik damals beschreiben? Wie war das?
Aly: Gemischt, also extrem gemischt. Wir hatten in der Oberstufe in München sehr aufgeklärte CSU-Lehrer, die auf andere Formen des Unterrichts Wert legten und sich vollständig unterschieden von den Lehrern, die wir vorher hatten, die alle den Zweiten Weltkrieg noch mitgemacht hatten, die einen Arm, ein Bein oder ein Auge verloren hatten und auch entsprechend waren, unberechenbar im Durchschnitt und cholerisch. Das kann man ihnen nicht übelnehmen, aber so war die Situation im Nachkriegsdeutschland. Das hat sich verändert in der Oberstufe, in den späten 1960er Jahren in liberaler Weise, und es kam noch etwas hinzu. Wir wurden auf einen Schlag in diesen bayrischen Schulen über die deutschen Naziverbrechen aufgeklärt, und zwar das geschah so: Wir wurden in den Filmkeller geführt, da kriegte man normalerweise diese komischen Lehrfilme gezeigt, mit denen man heute keinen Schüler mehr hinter dem Ofen hervorlocken könnte, und da kriegten wir diese Filme von Erwin Leiser zu sehen mit den Szenen von der Befreiung von Auschwitz, Buchenwald und Bergen-Belsen, also mit diesen Leichenbergen, Sterbenden, und es hat uns vorher kein Lehrer darüber informiert und auch hinterher keiner etwas gesagt. Die führten uns schweigend, weil es war offensichtlich eine Aufforderung des Kultusministeriums, also des Staates, das zu tun, und es geschah weiter nichts und beim Abendessen zu Hause kam dann diese bekannte doofe Frage: "Wie war es denn in der Schule?" "Interessant." "Ach", das war eine unerwartete Reaktion. "Erzähle doch mal." Und meine Eltern, die waren versteinert. Und das hat sich damals in Zehntausenden Familien ganz ähnlich ereignet.
Heckmann: Das heißt, die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit war dort, an dieser bayrischen Schule, bei Ihnen schon im Gang, auch bevor Sie richtig in der ‘68er Bewegung eigentlich mitgemischt haben.
Aly: Ja, aber natürlich, und das Interessante ist, dass der Staat diese Aufarbeitung vorangebracht hat und die Schwierigkeiten, und das weiß ich von Dutzenden meiner Altersgenossen, im Privaten, in den Familien lagen. Die Familien bildeten die Schweigekartelle, nicht so sehr der Staat. Wir haben uns dann später gegen den Staat gewandt.
Heckmann: Und zwar durchaus militant. Sie sind im Wintersemester ‘68 nach Berlin gegangen. Zwei Jahre später sind Sie als studentischer Vertreter in den Fachbereichsrat des Otto-Suhr-Instituts an der FU Berlin gewählt worden - als Vertreter der "Sozialistischen Arbeitskollektive", so hieß es damals. Sie waren Mitbegründer, Redakteur der Zeitung "Hochschulkampf. Kampfblatt des Initiativkomitees der Roten Zellen in West-Berlin", so der vollständige Titel, und 1971 beteiligten Sie sich an einer Aktion, bei der Aktivisten der Roten Zellen in ein Seminar eindrangen und mit Gewalt gegen den Professor vorgingen. Dafür sind Sie auch mit einer Geldstrafe belegt worden. Sie haben mal geschrieben, es sei schwer, den eigenen Kindern zu erklären, was einen damals trieb. Was ist Ihre Erklärung?
Die Lust an der Revolte
Aly: Also natürlich war es die Lust, irgendwelche wilden Umtriebe zu machen, die sind altersentsprechend, und es war die Lust an der Revolte. Das bringt viel durcheinander und bringt auch Menschen zusammen, die sich sonst ganz fremd sind und natürlich auch eine altersentsprechende Rechthaberei. Wir haben uns ja sehr stark also dem Marxismus zugewandt damals. Das war in den Schulen natürlich tabuisiert. Dort haben wir niemals etwas von Karl Marx erfahren, und der Kommunismus war nur der Generalfeind, also, das würde ich alles in den Bereich der Normalität nehmen, Gegenpositionen eingenommen und hatten plötzlich das Glück, eine eindimensionale Welterklärung zu finden.
Heckmann: Aber war es nicht auch die Empörung über eine total verstaubte Gesellschaft, die durchsetzt war mit Eliten, die aus der Nazi-Zeit kamen?
Aly: Nein, das hat uns damals nicht so sehr berührt. Die Frage Globke spielte keine Rolle. Kiesinger, gut, darüber wurde gesprochen, aber man muss sich klarmachen: Das damalige Kabinett Kiesinger hatte acht ehemalige NSDAP-Mitglieder.
Heckmann: Eben.
Aly: Ja, das hat uns aber nur im Fall Kiesinger interessiert. Die vier von der SPD haben uns gar nicht interessiert. Nein, was ich sagen wollte: Ich glaube, etwas spielt jedenfalls für mich und auch für viele andere eine große Rolle, auch für Rudi Dutschke, das hat ja nun gerade auch wieder Gretchen Dutschke betont: Wir sind aufgewachsen in einer schweigenden, kalten Nachkriegswelt, die auch gewalttätig war, die unangenehm war. Die Eltern, die Lehrer wussten im Grunde überwiegend, dass sie keine Vorbilder sein konnten mehr nach dem, was sie in diesem Krieg gemacht hatten und nach dem, was vorangegangen war und nach dem, wie sehr sie sich überwiegend mit Adolf Hitler und diesem Regime identifiziert hatten, und aus heutiger Sicht denke ich, das ist ganz normal, das musste so sein. Dann hat es begonnen mit der Verhaftung von Eichmann, an die ich mich lebhaft erinnere, dann mit dem Auschwitz-Prozess. Ich bin in Veranstaltungen von Fritz Bauer gegangen bei der "Humanistischen Union". Ich habe alle Nachrichten über NS-Prozesse gelesen und wir hatten damals etwa 30 Schwurgerichtsprozesse im Jahr, in denen meistens Männer angeklagt waren, die so alt waren wie unsere Väter, unsere Vorbilder, unsere Lehrer, die vorher und nachher normal waren und wir sind mit der ‘68er Bewegung aus diesem Land geflohen. Und wer das sofort erkannt hat, das habe ich in meinem Buch ja auch geschrieben, "Unser Kampf" heißt es ja, wer das sofort erkannt hat, war Kurt Georg Kiesinger. Kurt Georg Kiesinger hat damals intern gesagt seinen Beratern, und das ist protokolliert: "Diese jungen Studenten benehmen sich uns gegenüber heute genauso wie wir uns, die Nachkriegsgeneration, nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg 1932 gegen die damaligen Eliten und Regierung benommen haben."
Heckmann: Und dafür hatte er ein gewisses Verständnis. Sie hören das "Interview der Woche" mit Götz Aly, dem Politikwissenschaftler und Historiker zu 50 Jahren ‘68er Bewegung. Sie haben Ihr Buch gerade angesprochen. 2008 ist es erschienen. Der Titel: "Unser Kampf 1968 – ein irritierter Blick zurück". Das ist natürlich eine bewusste Anspielung auf Hitlers "Mein Kampf" und Ihre These ist ja, wenn ich das so zusammenfassen darf, die ‘68er waren ihren nationalsozialistisch geprägten Eltern, die Sie die 33er nennen, ähnlicher, als sie es selbst wahrnehmen wollten und Sie führen ein paar Beispiele an, die anti-bürgerliche Haltung beispielsweise, die Gewaltbereitschaft, der Antiamerikanismus, latenter Antisemitismus, das Ausblenden von Kritik an linken Gewaltherrschern. Daraufhin wurden Sie wüst beschimpft von Ihren Kritikern, kann man, denke ich, sagen, als Renegat, als Verräter, als Konvertit. Hat Sie diese Reaktion überrascht?
Aly: Nein, überhaupt nicht, interessant finde ich natürlich, dass die ‘68er, da meine Altersgenossen, dass die, die so alles infrage gestellt hatten, die Kritik zum Mittelpunkt ihrer Daseinsberechtigung gemacht hatten und die auch übrigens ja gelegentlich zu humoristischen Aktionen fähig waren, derartig versteinert und ablehnend und abwehrend auf etwas reagiert haben, was sie nun mal selber betrifft. Sie haben urdeutsch reagiert und insofern auch die These dieses Buches vollständig bestätigt. Sie sind die Kinder ihrer Eltern.
95%ige Wahrscheinlichkeit, dass der Vater bei der Wehrmacht war
Heckmann: Aber das ist ja auch kein Wunder, wenn empörte Reaktion darauf kommen, wenn Sie da hergehen und Braun gleich Rot setzen beispielsweise.
Aly: Habe ich doch nicht gemacht.
Heckmann: Sie haben aber geschrieben, dass der Begriff "Linksfaschismus" ein passender Begriff sei. Das ist in Ihrem Buch zu lesen. Norbert Frei, der Historiker, der hat gesagt, das Ganze sei eine historiografisch völlig überzogene Darstellung von Ihnen um des medialen Knalleffekts willen, und auch Wolfgang Kraushaar, der sich da viel mit dem Thema ‘68er Bewegung beschäftigt hat, hat deutliche Kritik geübt, viele andere auch. Würden Sie vielleicht zehn Jahre später sagen, der Vergleich war doch ein bisschen überzogen?
Aly: Nein, überhaupt nicht, es steht da gar nicht drin. Und übrigens: Herr Frei sagt immer, ich würde irgendwas wegen medialem Knalleffekt tun, aber meine zentrale These ist die: Wir sind aufgewachsen als die Kinder unserer Eltern, und es ist völlig normal. Wissen Sie, als ‘68er haben Sie eine 95%ige Wahrscheinlichkeit, dass der Vater bei der Wehrmacht war und da schreckliche Dinge mitgemacht und erlebt hat. Sie haben eine mehr als 30%ige Wahrscheinlichkeit, dass er Mitglied der NSDAP war und Sie haben eine weit über 60%ige Wahrscheinlichkeit, dass er das Nazi-Regime toll fand, vielleicht nicht am Ende, aber zwischendrin. Dass sich etwas von diesem alten Gift, was unsere Eltern, was unsere Lehrer prägte, auf uns übertragen hat, das harte Freund-Feind-Denken, das ja auch im Kalten Krieg noch verstärkt worden ist bzw. fortgeführt wurde, das ist doch völlig klar.
Heckmann: Aber andererseits wurden die ‘68er natürlich auch als Gegenbewegung immer interpretiert. Man selber hat es ja auch so interpretiert und die Unterschiede, die es ja zwischen diesen beiden Bewegungen ergibt, die man ja so bezeichnen kann, die lassen Sie unter den Tisch fallen, nämlich der Rassismus, der fanatische Antisemitismus der Nationalsozialisten, das Führerprinzip, um drei Beispiele zu nennen.
Aly: Also, zum Führerprinzipe will ich einmal Folgendes sagen. Wir haben Mao Zedong verehrt, wir haben Hồ Chí Minh verehrt. Wir haben alle gejubelt über die Revolution in Kambodscha. Wir wussten darüber nicht viel, aber wir fanden es ganz toll und wir haben Führungsfiguren wie Rudi Dutschke abgöttisch verehrt. Wir haben Führungsfiguren wie Daniel Cohn-Bendit abgöttisch verehrt. Es war eine Männerbewegung, also dass wir da so rein antiautoritär gewesen wären, ‘67, ‘68, ‘69, ‘70, das hat sich später dann erst langsam geändert. Das ist eine Lüge. Es hat überall diese klassischen Leitungsstrukturen gegeben und auch diese Bewegungen in Richtung Parteigründung und so weiter, egal, ob das jetzt Trotzkisten waren, ob das die Kommunistische Partei – Aufbauorganisation oder ML oder eine proletarische Linke war, die waren alle autoritär auch durchstrukturiert. Insofern ist auch da das alte Gift. Aber ich will noch einmal etwas sagen. Das Problem an der ‘68er Generation in Deutschland ist auch das. Wenn ich meinen Vater nehme, der ist 1912 geboren und sein Vater kam 1918 als Artillerieoffizier völlig zerschlagen und ruiniert mit einer Niederlage zurück, Artillerieoffizier bei Verdun, das war keine angenehme Sache. Da werden sie nämlich auch dauernd beschossen. Und mein Vater sagt und seine fünf Geschwister, das war reiner Terror, als der zurückkam und in dieser ‘68er Generation spiegeln sich sehr ungünstig beide Kriegsniederlagen und setzen sich in ihr auch in dieser Gewaltverherrlichung, auch in diesem Autoritarismus, auch in dem Revolutionarismus, den man schon 1932 sieht, fort, ohne dass das jeweils dasselbe ist, aber das muss man sehen als eine besondere deutsche Geschichte, und ich kann meine Altersgenossen nur auffordern, das auch an den eigenen Familien nachzuvollziehen und zu sehen, wie befangen sie sind.
Eine Schuldverschiebung?
Heckmann: Ihre Kritiker sagen auf der anderen Seite, Sie differenzieren überhaupt nicht, diese ‘68er Bewegung war nicht die Bewegung, sondern es gab unterschiedlichste Kreise und die kann man nicht alle in einen Topf werfen. Ich möchte aber einen anderen Punkt noch einmal rausgreifen: "USA, SA, SS!" – das war eine Parole, die Furore gemacht hat. Eine andere Parole war: "Schlag die Zionisten, wo ihr sie trefft!" Welche Rolle spielten Antiamerikanismus und Antisemitismus ‘68?
Aly: Ja, das verstehe ich nur gar nicht, warum Sie mich das fragen. Das ist ja nun genau der Punkt, von dem ich handele, von den Kontinuitäten. Wir waren die erste Generation im Unterschied zu Ihnen, die ungeschützt und unvorbereitet in den Abgrund von Auschwitz gucken musste. Dabei hat uns niemand geholfen, wir wurden hart damit konfrontiert. In den späten 1960er Jahren, in einem Alter, in dem man besonders auch empfindlich ist und auch ratlos sein kann und ‘68 war in Deutschland auch eine Ausweichreaktion, eine notwendige Ausweichreaktion. Was die Leute ja gar nicht begreifen: Ich verteidige in diesem Buch ‘68, wir waren überfordert mit der gesellschaftlichen Situation in Deutschland, mit den Schweigekartellen, mit dem Nicht-Sprechen, mit der Kälte, auch mit der Gewalt, die es noch gab. Die Prügelstrafe ist in den Schulen offiziell erst 1972 langsam abgeschafft worden, vor allem in Süddeutschland, während in der DDR zum Beispiel 1952, und wir sind ausgewichen. Was haben wir gemacht? Wir haben gesagt: "Wir bekämpfen nicht den Nationalsozialismus, das haben uns vorher die deutschen Richter und Staatsanwälte und Kriminalbeamte und Israel mit dem Eichmann-Prozess schon bekannt gemacht. Wir bekämpfen jetzt den Faschismus und der Faschismus ist ein internationales Phänomen!" Der hat keine deutschen Namen mehr. Und die Faschisten wohnen in Teheran, beim Schar von Persien, sie wohnen in Saigon und sie wohnen in Washington, allesamt sehr, sehr weit weg.
Heckmann: Also eine Schuldverschiebung?
Aly: Eine Schuldverschiebung, eine Ausweichreaktion, aber eine Ausweichreaktion, die man auch noch verstehen kann, dass junge Leute vor diesem Deutschland flüchten wollen. Und das hat ungefähr zehn Jahre lang für viele gedauert, das können Sie an der Biografie von Joschka Fischer, aber auch an meiner nachvollziehen. Das ist eine völlig verständliche Ausweichreaktion gewesen. Sie müssen sich ja klar machen. Willy Brandt hat eine wunderbare Rede 1964 in New York gehalten über die Verfolgung der deutschen Juden und was die Deutschen den Juden angetan haben. Er hat in Deutschland niemals darüber gesprochen, weil er wusste, wenn er das täte, könnte er nicht Kanzler werden.
Heckmann: Willi Winkler hat mal geschrieben: Die Studentenbewegung hat durch ihr verbales Liebäugeln mit der Gewalt die Saat für die "Rote Armee Fraktion", die RAF, gelegt. Ist da was dran?
Aly: Ja, aber sicherlich ist da was dran. Die RAF ist natürlich ein Kind der ‘68er Bewegung auch. Wie in jeder größeren Verwandtschaft haben Sie auch da natürlich ganz gefährliche Elemente. Man kann nicht sagen, die ‘68er Bewegung als solche hat das hervorgebracht, aber es gehört dazu. Wir haben uns nächtelang unterhalten über Gewalt gegen Sachen, Gewalt gegen Personen und wenn Gewalt gegen Personen, gegen welche Personen? Das spielte eine große Rolle. Und ich kenne ja auch Leute, die mit mir studiert haben, die 20 Jahre im Untergrund waren, an deren Resozialisation ich dann versucht habe, mitzuwirken. Ich fühle mich da auch in der Verantwortung. Ich war Mitglied der "Roten Hilfe" eine Weile. Ich finde, man muss darüber reden, auch über den eigenen Blödsinn, die eigenen Fehltritte, um einigermaßen klar auch anderen sagen zu können, wie es dazu kam, auch andere davor warnen zu können, eindimensionalen Weltbildern anzuhängen. Und unsere Hauptgegner waren ja damals - und das ist in Deutschland eine zentrale Krankheit und verbindet auch die ‘68er mit der NS-Bewegung - das waren die Liberalen.
Liberalisierung des Landes
Heckmann: Herr Aly, springen wir ins Heute. Viele Kritiker sagen ja: "Die ‘68er, die schreiben uns das Denken vor, auch jetzt noch." Alexander Dobrindt von der CSU sagt, es gäbe eine linke Meinungsführerschaft, die ihren Ursprung habe in der ‘68er Bewegung. Er spricht von "Meinungsverkündern", von "Volkserziehern" und es brauche eine "bürgerlich konservative Wende", eine "bürgerliche Revolution". Stimmen Sie zu?
Aly: Also, man hört ja diese Sachen auch von der AfD. Das halte ich alles für eine Überschätzung. Diese Überschätzung geht teilweise, ging - jetzt sind wir ja nicht mehr richtig satisfaktionsfähig - ging von den ‘68ern auch selbst aus, aber ich glaube, dass diese Minderheit auch von Intellektuellen die Bundesrepublik zwar beeinflusst hat insgesamt dann, wenn man einzelne Biografien sich anguckt. Dazu rechne ich mich auch, in einem durchaus positiven Sinn. Dass sie aber die Meinungsführerschaft übernommen hätte, dass sie Deutschland nachhaltig geprägt hätte, das glaube ich nicht, weil die Liberalisierung des Landes hat vorher begonnen. Wir waren Profiteure der Liberalisierung. Da sind Leute wie Ralf Dahrendorf und junge CDU-Leute, wie zum Beispiel Helmut Kohl - der die ‘68er verteidigt hat als junger Ministerpräsident und gesagt hat, da ist einiges wahr an dem, was die hier sagen und wollen - die sind für das Gesamtklima in der Bundesrepublik deutlich wichtiger, auch natürlich führende Sozialdemokraten.
Heckmann: Aber es gab doch einen wirklich gesellschaftlichen, kompletten Umbruch in dieser Zeit, der mit der ‘68er Bewegung in Verbindung gebracht wird!
Aly: Wo sehen Sie den Umbruch?
Heckmann: Sexuelle Revolution.
Aly: Ach, das ist doch völlig albern.
Heckmann: Sexuelle Befreiung, Liberalisierung der Gesellschaft, reden Sie die Verdienste der ‘68er Bewegung nicht etwas klein?
Aly: Ja, das sind eingebildete Verdienste. Sehen Sie: Wir waren die erste Generation, die die Pille hatte. Also die Frauen hatten sie, das muss man ja auch sagen. Männer haben das ausgenutzt. Das ist nicht unser Verdienst. Der Aufklärer zum Beispiel Oswalt Kolle mit seinen Filmen war wesentlich menschlicher und wesentlich massenwirksamer als die Parole von uns linken Männern ’68: "Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment!" Frauen haben sich später dagegen gewehrt, aber ich weiß, dass das durchaus Praxis war.
Heckmann: Sie würden sagen, die Verdienste der ‘68er Bewegung waren so überschaubar, wie Sie es gerade gesagt haben?
Aly: Sie sind deutlich kleiner, als es sich viele ‘68er einbilden. Wir haben nichts getan für die Aufklärung der NS-Verbrechen. Das ist eine Lüge, wenn das immer wieder behauptet wird. Wir haben uns davon abgewandt aus guten Gründen, die erklärbar sind. Die sexuelle Revolution - das bilden wir uns ein. Auch die Rock’n’Roll-Generation, 10, 15 Jahre vorher her, wusste schon sehr gut, wie es geht und was man so alles machen kann miteinander. Das ist nichts Neues gewesen. Und ansonsten natürlich, es gibt dann sozusagen im späteren Verlauf Dinge wie die grüne Bewegung. Aber das hat erst einmal nichts mit ‘68 zu tun, das entsteht später. Natürlich auch die Emanzipation von Frauen, die Veränderungen an den Universitäten. Aber auch diese Veränderung an den Universitäten, die Reformuniversitäten sind alle vorher geplant worden. Konstanz, Bochum, Bremen, das sind keine Erfindungen von ‘68. Wir haben das ausgenutzt, und viele von uns sind dort dann irgendetwas geworden und haben noch ein paar Jahre ihre wilden Theorien mit öffentlichen Geldern sozusagen verbreitet.
Heckmann: Das heißt, 68 war eigentlich überflüssig?
Aly: Als Historiker würde ich weder sagen, es war überflüssig noch notwendig. Es war so und ich versuche zu erklären, warum es in Deutschland so war, wie es war. Es ist sehr viel härter verlaufen als in Frankreich. In Frankreich war das nach zwei Jahren verschwunden und die Leute waren wieder im französischen Bürgertum, wie vorher auch ihre Familien. Da hat sich nichts geändert. Es war eine kurze romanische Revolte. In Deutschland ging das sehr viel länger und in allen Staaten, die den Zweiten Weltkrieg begonnen und vom Zaun gebrochen hatten - und das sind Deutschland, Italien und Japan. Das scheint mir ganz entscheidend. Und da spiegelt sich eben diese negative Kontinuität, mit der wir uns auseinandersetzen mussten. Das Positive an 68, das ich sehe, ist das, dass uns in aller Wildheit, in aller Irrationalität, die wir damals an den Tag gelegt haben, die Möglichkeit gegeben wurde, dieses Alte auch zu überwinden. Das ist aber kein Verdienst, das ist keine Heldentat, das ist auch ein unangenehmer Prozess. Wir haben das sozusagen versucht "auszuschwitzen". Das riecht auch nicht besonders gut. Das kann man verstehen, das kann man erklären, das kann man auch begründen, aber man muss nicht hinterher sagen: "Wir waren die Tollsten!"
Heckmann: Herr Aly, ich danke Ihnen für das Gespräch.
Aly: Bitte.
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