Zwischen der Forderung nach bürgerlicher Gleichstellung in der preußischen Frühaufklärung und der Erklärung des Israelpatronats zur deutschen Staatsräson liegen gerade einmal 250 Jahre - und der deutsche Massenmord an den europäischen Juden. Nichts, was das Verhältnis von Deutschen und Juden betrifft, kann ohne den Schatten der Shoah noch gedacht werden, nicht im Rückblick, nicht in der Gegenwart und nicht in der Zukunft.
Eine alte Tradition zwischen Hass und Idolatrie, Philosemitismus und Antisemitismus, selten echter Freundschaft und häufig offener Feindschaft kennzeichnet das Verhältnis von Deutschen zu Juden; das Fremde, das Ausgrenzende, das "Wir und Die" ist bis heute nicht überwunden - ob in Gestalt eines rassistischen Antisemitismus, eines vereinnahmenden Philosemitismus oder einer blinden Israelbegeisterung. Der Historiker Moshe Zuckermann hat einmal gesagt, es sei schon ein Kreuz, womit man sich als Jude befassen muss, wenn Deutsche erst anfangen, über Juden zu reden.
Wenn Deutsche erst anfangen, über Juden zu reden
Zu dem Verhältnis zwischen den beiden Gruppen ist - auch als Folge des Genozids - das Verhältnis von Staaten getreten, der Bundesrepublik und dem 1948 gegründeten Israel, besiegelt durch die nun 50 Jahre alten diplomatischen Beziehungen. Vor allem, so hatte der israelische Schriftsteller Amos Oz zum 40. Jahrestag dieses Vertrages gesagt, vor allem: Keine Normalisierung. Normale Beziehungen zwischen den beiden Staaten könne es nicht geben. Zwischen Deutschland und dem jüdischen Volk, so hatte er konstatiert, herrschten seit über 200 Jahren ambivalente Beziehungen.
Mögen sich auch in das deutsch-jüdische Verhältnis in der Zwischenzeit die Kritik an jüdischem Nationalismus, der Palästina-Konflikt und neuer Antijudaismus muslimischer Jugendlicher in Deutschland geschoben haben: Wer sich mit den Beziehungen der Menschen und der Staaten befasst, muss sich die Projektionen vor Augen führen, die Klischees und Ressentiments, die sich in 250 Jahren gewandelt haben mögen - überwunden wurden sie nie.
Verwirrungen und Widersprüche, versteckte und offene Absichten lassen sich schon an der Sprache ablesen: Muss man doch schon zögern, umstandslos von Juden und Deutschen als Verschiedenes zu sprechen. Jüdisch, deutsch, deutschjüdisch, deutsche Juden, Juden in Israel, nichtjüdische Deutsche, israelitisch, israelisch, jüdisch-israelisch - wo ist Genauigkeit des Begriffs gefordert und wo verrät schon die Wahl der Formulierung eine ideologische, eine vorurteilshafte Absicht?
Ressentiments nie überwunden
Besonders deutlich wurde das Sprachproblem unmittelbar nach dem Krieg in der jungen Bundesrepublik. Nach dem industriell organisierten Mord an sechs Millionen europäischer Juden nahm man in Deutschland das Wort „Jude" nicht gern in den Mund. Bundespräsident Theodor Heuss, der den Begriff der "Kollektivscham" an Stelle von "Kollektivschuld" in den deutschen Diskurs eingebracht hatte, sprach von der Gefahr einer "suggestiven Wiederholung". Zu vertraut war doch noch der Gebrauch des Wortes Jude als im Konsens benutztes Schimpfwort der Nazizeit. Und nun deutete "Jude" doch allzu unverhüllt auf den Judenmord, den Judenhass, und damit auf die eigene Schuld hin. "Jüdische Mitbürger" klang da freundlicher, versöhnlerischer - und war eines der vielen Anzeichen der Verleugnung.
Die Frage nach der Bezeichnung für das Gegenüber klärt noch nicht die Frage nach der Definition: Wer ist eigentlich ein Jude? Wer bestimmt, wer ein Jude ist, was sind die Merkmale, die die Zugehörigkeit objektiv und subjektiv bestimmen? Unter den sich wandelnden historischen Bedingungen der vergangenen 250 Jahre wurde diese Frage unterschiedlich beantwortet. Die Bestimmung ausschließlich durch die Religionszugehörigkeit hatte solange für beide Seiten Geltung, solange es Juden unmöglich war, aus ihrer Gemeinde auszutreten und sie als religiöse Minderheit klar eingrenzbar waren. Der Austritt aus dem sozialen Zusammenhalt der Gemeinde wäre dem sozialen Tod gleichgekommen. Jüdischer Glaube und jüdische Herkunft, im Sinne einer gemeinsamen Geschichte der Vertreibung in die Diaspora, das war nicht zu trennen.
Heftige Kontroversen
Erst als in den geschlossenen religiösen Kosmos die Philosophie einbrach, die sich den Fragen der Welt-Erkenntnis durch die menschliche Vernunft widmete, setzte der Niedergang des Definitionsmonopols der Religion über Denken und Alltag der jüdischen Gemeinschaften ein. Mit dem Einzug der vernunftgeleiteten Selbstbestimmung des (bürgerlichen) Individuums stellte sich die Frage neu: Ist auch ein Jude, der kein Jude mehr sein will? Kann einer, der nicht von einer jüdischen Mutter geboren ist, zum Judentum konvertieren? Und bis heute lösen diese Fragen heftige Kontroversen aus, auch und gerade unter Juden selbst. Eindeutig zu beantworten sind sie nicht. Jurek Becker hat einmal seinen dem Lager entronnenen Vater mit den Worten zitiert: Wenn es keinen Antisemitismus gäbe, hätte er sich keine Sekunde als Jude gefühlt.
Antijudaismus war jahrhundertelang in der christlichen Welt der Stoff religiöser Rivalität mit fatalen, oft tödlichen Folgen für die jüdische Minderheit. Christentum und Judenhass waren eins, was allerdings umgekehrt nicht galt. Juden mit Gewalt zum Übertritt zu zwingen oder sie zu töten begleitet die christliche Geschichte seit die Kirche sich mit weltlicher Macht verbünden konnte.
Für die Mitglieder der jüdischen Gemeinschaften stellte sich die Frage, wer ein Jude sei, erst mit der Distanzierung von der religiösen Tradition Ende des 18. Jahrhunderts und vermehrt im 19. Jahrhundert. Nicht wenige wandten sich den verschiedenen Strömungen des Sozialismus zu, noch mehr sahen in der Assimilation an die preußisch-deutsche Gesellschaft die einzige Chance für eine rechtliche Gleichstellung und ein Ende ihres von Ressentiments und Diskriminierung bestimmten Außenseitertums. Der Taufzettel, die Konversion zum christlichen Glauben, katholisch und protestantisch, schien, wie Heinrich Heine schrieb, ein Eintrittsbillett in die europäische Kultur zu sein. Gleichheit und Brüderlichkeit, die Parole der Französischen Revolution, und später die sozialistische Forderung nach Aufhebung der sozialen Ungleichheit beförderten die Hinwendung vieler Juden zur Arbeiterbewegung und die Abwendung vom Judentum.
Versprechen der rechtlichen Gleichstellung
Den nach Assimilation Strebenden war das ein Dorn im Auge, waren doch auch die Linken eine Minderheit in der bürgerlichen Gesellschaft, ein Quell des Aufruhrs, in dem Juden erneut das Missfallen der nichtjüdischen Mehrheit und damit die so unerwünschte negative Aufmerksamkeit weckten. Das Versprechen der rechtlichen Gleichstellung in der bürgerlichen Epoche des 19. Jahrhunderts versprach auch einen bis dahin verstellten ökonomischen Aufstieg vor dem Hintergrund der durch die Ausgrenzung erzwungenen Erfahrung in Geldgeschäften und den über die nationalen Grenzen hinausreichenden Beziehungen im Handel. Protestantische Theologen, wie der reaktionäre Hofprediger Adolf Stoecker, lieferten die Stichworte für neue Varianten der traditionellen Judenfeindschaft: das "verjudete Großkapital" und die "verjudete Linke" wurden zu einflussreichen Konstrukten des Vorurteils.
Assimilation aber, die so viele deutsche Juden für eine Antwort auf die sogenannte Judenfrage hielten, bedeutete Anpassung nicht Integration, und schon gar nicht Aufnahme. Integration, die Aufnahme als Juden, wäre nur möglich geworden durch unverstellte Konfrontation: der religiösen und kulturellen Unterschiede, der Widersprüche und Vorurteile. Das Fremde, das Trennende hätte außerhalb der kleinen Kreise der Freunde, die es vereinzelt auch gab, Gedanke und Sprache werden müssen. Eine solche offene Auseinandersetzung fand nicht statt. Christliche Orthodoxie mit ihrem gesellschaftlichen Alleinvertretungsanspruch ebenso wie weltliche Herrschaft, die aus der Rechtlosigkeit der Juden auch weiterhin ökonomischen Nutzen zu ziehen beabsichtigte, ließen das in Deutschland nicht zu.
"Verspätete Nation"
Während sich in den Salons des 19. Jahrhunderts jüdische und deutsche Intellektuelle, Männer und Frauen, über Philosophie und Dichtung, über Musik und Politik die Köpfe heißredeten, begann sich in der Folge der gescheiterten deutschen Revolution von 1848 ein Nationalismus zu entfalten, der dem deutschen Antisemitismus eine neue und weit gefährlichere Richtung gab. Infolge der Bildung der "verspäteten Nation" 1871 nahm der völkische Gedanke Fahrt auf. Auf den ohnehin im kollektiven Bewusstsein tief verwurzelten christlichen Judenhass pfropfte sich der nationale Gedanke auf. Dieser Gedanke setzte auf eine Exklusivität, die nicht durch Anpassung und Übertritt zu erreichen war: Sie konstruierte einen Geschichtsmythos, der sich mit den entwickelnden Naturwissenschaften auch noch eine biologische, das heißt "rassische" Komponente zu verschaffen begann. Das "fremde Volksthum" machte sich im deutschen Sprachgebrauch breit.
"Die Juden sind unser Unglück"
Im Berliner Antisemitismusstreit von 1879/80 war bereits alles angelegt, was 50 Jahre später das geistige Arsenal der Massenvernichtung ausmachen sollte. Und Heinrich von Treitschke, der mit seinem Text "Unsere Aussichten" diesen Streit auslöste, war kein Stammtischbruder, sondern ein Geschichtsprofessor. Die von ihm in den "Preußischen Jahrbüchern" verkündete "unleugbare Schwäche des jüdischen Charakters" versah das Ressentiment mit akademischen Weihen. "Eine Schaar strebsamer hosenverkaufender Jünglinge" dringe "aus der unerschöpflichen polnischen Wiege" herein, "deren Kinder und Kindeskinder dereinst Deutschlands Börsen und Zeitungen beherrschen sollen", und: "Die Juden sind unser Unglück." heißt es in Treitschkes Text.
Dieser Satz ist bis heute das Leitwort des Antisemiten geblieben. In ihm ist alles enthalten, was das Ressentiment brauchte, um dem Hass den Schein von Recht zu geben. Die Juden und Wir, sie gehören nicht zu uns, welche Anstrengungen sie auch immer unternehmen mögen, deutsche Bürger zu werden. Der Begriff des Unglücks, das in Gestalt dieser als fremd empfundenen Minderheit über die Mehrheit hereinbricht, insinuiert eine metaphysische Macht, die das Wir von jeder Verantwortung zu befreien verspricht - gerade so, als sei es das unberechenbare Schicksal, gegen das es sich zu wehren gelte. Zudem bediente sich Treitschke eines bekannten demagogischen Tricks: Er stellte die Behauptung gar nicht selbst auf, machte sich „nur" zum Interpreten "des germanischen Volksgefühls".
Deutsch-jüdische Symbiose
Vor allem auf jüdischer Seite hatte sich die Vorstellung einer deutsch-jüdischen Symbiose in den Köpfen festgesetzt. Sie war Ausdruck einer Hoffnung auf das Verschwinden der traditionellen Feindschaft durch die kulturelle Hegemonie eines liberalen deutschen Bürgertums. Diese Illusion nährte sich vorwiegend aus intellektuellen Zeugnissen der Aufklärung. Lessings Gedanke der Religionstoleranz, verkörpert im weisen Nathan, Kants Kritik der reinen Vernunft, Friedrich Schillers Emphase für eine demokratische Nation der Gleichheit aller Bürger, das sind die in allen Schichten der deutschen Judenheit unzählige Male zitierten Zeugnisse dieser Hoffnung. Die vermeintlichen Garanten einer Verschmelzung von "Judentum und Deutschtum".
Wie tief die rassistischen Vorurteile sich im Bewusstsein der nicht jüdischen Mehrheit festgesetzt hatten und wie leicht sie an die Oberfläche zu holen waren, wenn die politische Lage es opportun erscheinen ließ, sollte sich in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts nach dem Wahlsieg der NSDAP zeigen. Die nationalsozialistische Ideologie verschaffte der verdrängten Wut des deutschen Kleinbürgers das Ventil: Im Demütigen, Enteignen, Stehlen, Vertreiben und Vernichten tobte sich der Hass aus ohne Strafe befürchten zu müssen. Der Jude war als Fremder, als "Rassenschädling" nun offen der Feind, wer ihn verteidigte wurde es ebenfalls. Das "Juda verrecke" blieb nicht mehr nur eine Hassparole, es wurde millionenfache Wirklichkeit, ausgeführt in einer Gesellschaft, die einen aufgeklärten Humanismus zu ihren Traditionen gezählt hatte.
Über die psychologischen Wurzeln des Antisemitismus und seine Funktionsweise ist viel geforscht und geschrieben worden. Der eigentliche Gewinn, auf den der Volksgenosse rechne, heißt es in der "Dialektik der Aufklärung", sei die Sanktionierung seiner Wut durchs Kollektiv. Horkheimer und Adorno machten die falsche gesellschaftliche Ordnung als die Ursache des Antisemitismus aus. Er konstruiere sich eine Gegenrasse als negatives Prinzip und brauche gar keinen realen Juden.
Industriell organisierter Massenmord
Nach dem Ende des industriell organisierten Massenmords an sechs Millionen europäischer Juden legte sich zunächst ein bleiernes Schweigen auf alle Fragen des deutsch-jüdischen Verhältnisses. Das Monströse dieses Verbrechens, die bürokratische Kälte, mit der es ausgeführt worden war, die breite Zustimmung, die der Nationalsozialismus in der deutschen Bevölkerung gefunden hatte - für all das Erklärungen, überhaupt Worte zu finden, schien in den ersten Jahren nach 1945 fast unmöglich.
In der jungen Bundesrepublik sprach man zunächst gerne von der "Stunde Null". Das suggerierte einen Neuanfang, die Distanz nicht zuletzt vom Judenhass der jüngsten Geschichte. Nach einer eher halbherzigen Entnazifizierung durch die Westalliierten übernahm man große Teile des alten Personals. Ärzte und Juristen, Polizisten und Lehrer durften weitermachen. Die allmählich in ihren Details ans Licht kommenden Gräuel an der jüdischen Bevölkerung taten viele Deutsche - mindestens unter sich - als Westpropaganda ab. Und was sich nicht verleugnen und verdrängen ließ, wurde im Sprachgebrauch zu "Verbrechen im Namen des deutschen Volkes", zu Untaten "der Nazis", zu denen man sich selbst nicht rechnete, und besser noch: zu Hitlers Schandtaten - gerade so, als seien die Wehrmacht und Millionen Volksgenossen nicht daran beteiligt gewesen.
Gleichzeitig mit der Integration des alten Personals musste die junge Bundesrepublik jedoch nachweisen, dass sie die Naziideologie des "judenrein" abzustreifen bereit war. Die Einbindung in die westliche Seite des Kalten Krieges verlangte in der Frage des zukünftigen Umgangs mit der sogenannten "Judenfrage" das Bekenntnis zur Kehrtwende. Die Folge war: Antisemitismus schlug in Philosemitismus um. Die Juden, die es nun in Deutschland aufzunehmen galt, kamen meist aus Osteuropa, viele aus den Lagern für "Displaced Persons". Von denen die sich ins Exil hatten retten können, gingen zunächst manche in die sowjetisch besetzte Zone, dann in die DDR. Unter den ebenfalls von Nazideutschland verfolgten Kommunisten dort schien ein Neuanfang glaubwürdiger.
Nach Westdeutschland zog es nur wenige der überlebenden Juden aus dem Exil zurück. Deren erste Erfahrungen mit der jungen West-Republik luden auch nicht eben zum Bleiben ein. Die Erfahrung des Fremdseins empfanden gerade die als eine tiefe Wunde, für die die deutsche Kultur, das deutsche Geistesleben vor dem Massenmord existenzieller Bestandteil ihres Lebens war.
Die Mörder und ihre Opfer
Max Horkheimer berichtete seiner Frau, ihn haben der Rektor und zwei Dekane der Frankfurter Universität "süß, aalglatt und verlogen ehrenvoll begrüßt". Sie "wüssten nicht, ob sie ihn ihm einen relativ einflussreichen Amerikaner oder den Bruder ihrer Opfer sehen sollen, dessen Gedanke in Erinnerung sei".
Dass die in die letzte Konsequenz getriebene Unmenschlichkeit, die industriell betriebene Vernichtung, Realität geworden war, ließ etwas Unversöhnliches in das Verhältnis zwischen Deutschen und Juden einziehen - die Mörder und ihre Opfer.
Die schnelle Eingliederung der Westzonen in den West-Block des Kalten Krieges, erforderte jede Form des Vorurteils gegen Juden zum Tabu zu erklären. Man wurde philosemitisch und in der praktischen Politik berechnend pragmatisch.
Der Bundestag veranstaltete zum jüdischen Neujahrsfest 1951 eine Gedenkstunde. Kanzler Adenauer gab den offiziellen Sprachgebrauch der Verleugnung vor. Er sprach von "unsäglichen Verbrechen, die im Namen des deutschen Volkes" begangen worden seien. Finanzielle Reparation trat Anfang der 50er-Jahre in den Mittelpunkt der Beziehungen, nach der Gründung der Bundesrepublik und Israels.
Man taufte sie auf das nach falscher Versöhnung klingende Unwort „Wiedergutmachung".
Von nun an schob sich in das Verhältnis zwischen Deutschen und Juden das Verhältnis zwischen (West)Deutschland und Israel. Der junge Nationalstaat der Juden verdankte seine Existenz paradoxer Weise nicht zuletzt dem deutschen Massenmord. Doch alles Deutsche war dort kontaminiert, die deutsche Sprache, die so viele dorthin Geflüchtete sprachen, ein Widerhall des Grauens, doch die wirtschaftlich prekäre Lage des jungen Staates führte schließlich unter großen Bedenken dazu, mit der Adenauer-Republik über die sogenannten Wiedergutmachungszahlungen 1952 einen Vertrag zu schließen. Er sollte die Sachschäden kompensieren, aber nicht die Schuld tilgen.
Keine Sühne, kein Vergeben
Die quälende Pein, mit der über die ersten Kontakte mit dem Land der Mörder gerungen wurde, ist in der Bundesrepublik kaum zur Kenntnis genommen worden. Der Vertrag über die sogenannte Wiedergutmachung trat im selben Monat im September 1952 in Kraft wie der sogenannte „Lastenausgleich", den Deutsche für entstandene Kriegsverluste beantragen konnten. Auch das bezeichnend für das Nebeneinander von ritualisierter Reue und abwehrender Selbstbezogenheit. In Israel musste die Hilfe ausgerechnet aus Deutschland wie ein Freikauf von der ungeheuren Schuld wirken. Nach dreitägigem Ringen in der Knesset setzten sich die Befürworter durch: Eine Erstattung des geraubten Vermögens der Ermordeten ja, aber keine Sühne, kein Vergeben lautete der Kompromiss.
Für den westlichen Teil Deutschlands bedeutete dieser Vertrag das Eintrittsbillett zurück in die sogenannte Völkergemeinschaft. Doch zugleich verdeckte der politische Pragmatismus den deutschen Widerstand gegen die Auseinandersetzung mit der Frage, wie es möglich war, dass eine große Mehrheit der Deutschen nicht nur Sympathie für die Nazi-Ideologie empfunden, sondern auch mitgemacht, teilnahmslos zugesehen oder weggeschaut hatte. Theodor W. Adorno berichtete Thomas Mann in die Schweiz, er habe nach seiner Rückkehr aus dem Exil nur „ein paar rührendmarionettenhafte Schurken von altem Schrot und Korn und noch keinen Nazi gesehen". Viel unheimlicher fand er jedoch, dass die Menschen glaubten, "sie seien es nicht gewesen", dass sie "ganz und gar verdrängten".
Wiedergutmachungsvertrag
Mit dem Wiedergutmachungsvertrag war ein Anfang gemacht. 1960 trafen sich Adenauer und David Ben-Gurion im Hotel Waldorf-Astoria in New York. Man sprach über das neue Deutschland, über das neue Israel, über den Nationalsozialismus und die Judenvernichtung, wie später berichtet wurde. Ben-Gurion wollte mit Unterstützung Adenauers "in Israel wegbereitende Spitzenindustrien" aufbauen, die der deutschen Jugend, wie er sich ausdrückte, ein „Gefühl moralischer Genugtuung für all das geben sollten, was Adenauer-Deutschland getan hat, um die Sünden Hitler-Deutschlands zu sühnen". Ben-Gurion kam aus politischem Kalkül den deutschen Interessen entgegen, in dem er nun den Begriff der Sühne wieder zuließ.
Die Auschwitzprozesse in Frankfurt am Main und der Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem zogen in den 1960er Jahren den deutschen Schleier über der Verdrängung und Verleugnung ein wenig beiseite. Das gab wiederum dem Philosemitismus Raum. Hannah Arendt, Berichterstatterin beim Eichmannverfahren, nahm in den Briefen an ihren Mann kein Blatt vor den Mund. Israel sei von Deutschen überflutet, die so philosemitisch seien, dass einem das Kotzen ankäme. Ein deutscher Journalist sei ihr - wie im Theater - laut schluchzend um den Hals gefallen, mit den Worten: „Das haben wir gemacht." Und daneben beobachtete sie die "fixen und tüchtigen Herren" des deutschen Wirtschaftswunders, die, wie sie höhnisch bemerkte, "voller Leutseligkeit und guten Willens" seien, und sie befürchtete, das werde kein gutes Ende nehmen. Die Bundesrepublik stellte keinen Antrag auf Auslieferung Eichmanns, diesen Teil der "Aufarbeitung der Vergangenheit" überließ man gerne den Juden in Israel.
Gedenktage mit sakralem Ernst
Eine geradezu hymnische Begeisterung im westlichen Deutschland begleitete den Sechstagekrieg 1967. Den Juden gegenüber, die in Deutschland sich in Distanz zur deutschen Gesellschaft einzurichten versuchten, war man überwiegend indifferent bis abweisend. Im fernen Israel bot sich nun die Möglichkeit, im Juden nicht mehr nur das Opfer, sondern jetzt den Helden zu sehen. Zuhause begegnete man Juden im Ritual der Gedenktage mit sakralem Ernst, den sie als dem Opfer-Kosmos Zugerechnete zu beanspruchen hatten. Das erleichterte zudem die Schonung der Täter. Doch die erbitterten Debatten über deutsche Schuld und Verdrängung, die die Protestbewegung anstieß, offenbarten einen tiefen Riss, der vor allem die Generationen trennte. Verleugnen wurde schwerer, Antisemitismus und seine Ursachen wurden wieder ein gesellschaftliches Thema. Und damit erhielt auch der Philosemitismus neuen Auftrieb. Moralisch motivierte Israelbegeisterung, die Literatur der "untergegangenen Stetl", Klezmermusik - all das zog als positive Klischees jüdischer Kultur in das ein, was mit dem ambivalenten Begriff der Vergangenheitsbewältigung bezeichnet wird.
Drei Ereignisse charakterisieren auf besondere Weise den bundesrepublikanischen Umgang mit dem Erbe der deutschen Verbrechen in den 80er-Jahren. Alle drei markieren entscheidende Phasen der Entwicklung bundesdeutschen Selbstverständnisses ebenso wie den Widerstand gegen eine aufrichtige Konfrontation mit der Frage, wie es zu dem beispiellosen Verbrechen der organisierten Vernichtung von Millionen Menschen hatte kommen können.
Massenbegeisterung für den deutschen Faschismus
1985 nutzte der konservative Bundespräsident Richard von Weizsäcker die bis heute hochgelobte Festrede anlässlich des 40. Jahrestages des Kriegsendes zur Einführung einer Doppelstrategie: Der 8. Mai sei ein Tag der Befreiung gewesen, konstatierte er und bekannte sich damit staatsoffiziell zu einem Schlussstrich unter die dem Ansehen des Landes schädliche Debatte, ob es sich nicht doch um eine Niederlage, eine Demütigung für die verführten und unschuldigen Deutschen gehandelt habe. Gleichzeitig aber vermied er es, die Massenbegeisterung für den deutschen Faschismus, ihre Ursachen und Wirkungsweisen zu thematisieren. Die meisten Deutschen hätten geglaubt, sagte er, für die gute Sache des eigenen Landes zu kämpfen und zu leiden. Er sprach von Hitlers abgrundtiefem Judenhass, und: Hitler habe "das ganze Volk zum Werkzeug diese Hasses" gemacht. Weizsäcker gedachte in den üblichen ritualisierten Formeln der Opfer und erklärte Schuld zu etwas Persönlichem. Die Zeitgenossen des Verbrechens „fragten sich im Stillen nach ihrer Verstrickung". Diese Verschwisterung von Buße und Schlussstrich, die außenpolitisch die Bundesrepublik endgültig wieder satisfaktionsfähig machte und innenpolitisch den ungetrübten Blick in den eigenen Abgrund vermied, war in Inhalt und Tonlage ein Meilenstein auf dem Weg, sich des nationalsozialistischen Erbes zu entledigen.
Doch der intellektuellen Rechten reichte dieses Angebot nicht. Nur ein Jahr später 1986 beschwor der Historiker Ernst Nolte - immerhin in der bürgerlichen FAZ - die "Vergangenheit, die nicht vergehen will". Er nutzte den antikommunistischen Affekt, der schon ein mächtiger Antrieb des Nationalsozialismus war, um den deutschen Rassenmord als Folge des bolschewistischen Klassenmordes zu behaupten. Der Mord an den europäischen Juden sei eine Reaktion auf den Klassenmord am russischen Bürgertum gewesen, eine Art präventiver Angstreaktion also. Im Subtext bediente Noltes Artikel zum einen das Bedürfnis nach Rechtfertigung für die Verbrechen und zum anderen das antisemitische, nur scheinbar widersprüchliche Stereotyp vom jüdischen Bolschewisten und dem jüdischen Großkapital. „Die Juden sind unser Unglück" durfte man, wie noch Kollege Treitschke, nicht mehr sagen, aber "die Bolschewisten sind an allem schuld", das schien Ernst Nolte und seinen Kombattanten immer noch gesellschaftsfähig. Interessant an dieser als Historikerstreit breit in den Medien rezipierte Kontroverse sind weniger Noltes Thesen, als der Beistand, den er dafür von anderen Geschichtsprofessoren bekam.
Masse der Täter, Mitläufer, Gaffer und Wegseher
Wie es einem ergehen kann, wenn man einen deutschen Staatsakt nutzen will, um die längst überfällige Konfrontation zu wagen, erfuhr dann zum 50. Jahrestag der Reichspogromnacht 1988 der CDU-Politiker und Bundestagspräsident Philipp Jenninger. Der Opfer war am Vortag auf Einladung des Zentralrats der Juden in Frankfurt gedacht worden und nun schickte sich Jenninger im Bonner Parlament an, ganz offiziell das Tabu über der Masse der Täter, Mitläufer, Gaffer und Wegseher zu brechen. Den ersten empörten Zwischenruf erntete Jenninger, nachdem er den Rahmen seiner Rede mit dem Bekenntnis abgesteckt hatte : "Wir müssen Rechenschaft ablegen". "Wir", sagte er, nicht: Die Deutschen. Die Störung kam von einer Grünenabgeordneten, die später zugab, sie habe den Zwischenruf, es sei doch alles gelogen, schon vorab geplant, weil sie eine der üblichen Beschwichtigungen erwartet hatte. Auch ein Ritual.
Jenninger gab den noch immer wirksamen Ausreden der Nachkriegszeit keine Chance: Der Abstieg in die Barbarei sei gewollt und vorsätzlich gewesen, wahr sei, dass das millionenfache Verbrechen aus den Taten vieler Einzelner bestanden habe. Jedermann habe um die Nürnberger Rassegesetze gewusst und: Alle hätten sehen können, was vor 50 Jahren in Deutschland geschehen sei. Das Wesentliche sei gewusst worden. Und er beschrieb die Gesinnungs- und Gefühlslagen der deutschen Mehrheit Ende der 30er-Jahre.
Kopfschütteln im Saal, Auszug von Parlamentariern, Zwischenrufe. Man warf Jenninger anschließend parteiübergreifend vor, seine Rede habe "wie eine Teilrechtfertigung der Pogrome gewirkt", er habe die Opfer nicht gewürdigt und kritisierte sein mangelndes rhetorisches Talent. Von jüdischer Seite fiel das Urteil gänzlich anders aus: Der Dichter Stefan Heym und Robert Kempner, der Chefankläger von Nürnberg, lobten Offenheit und Wahrhaftigkeit der Rede, und Ignaz Bubis hat Teile daraus später immer wieder absichtsvoll zitiert.
Rituale der Betrauerung
Wie wenig öffentliche Empörung, Verarbeitung der Verbrechen und die Rituale der Betrauerung der Opfer das kollektive deutsche Bewusstsein jederzeit bestimmen, zeigen bis heute beliebige Beispiele. Ob Christdemokraten illegale Parteispenden als jüdische Vermächtnisse zu tarnen versuchen, ob einem Bürgermeister locker von den Lippen geht, dass man zur Haushaltssanierung "einige reiche Juden erschlagen müsse", eine Disco in der TAZ als "gaskammervoll" beschrieben wird oder ein Musiker der Deutschen Oper Berlin in einem israelischen Hotel mit "Adolf Hitler" seine Rechnung quittiert - die Reflexion über deutsche Kontinuitäten ist noch längst nicht zu den Akten zu legen. Da hilft auch wenig, Israels Sicherheit zur deutschen Staatsräson zu erklären.
Die Wut des Kleinbürgers, wie es in der Dialektik der Aufklärung heißt, ist jederzeit mobilisierbar. Die Objekte wechseln - ob Juden, Schwarze, Obdachlose, Muslime - sie mögen austauschbar sein, die Wurzeln des Hasses bleiben.
Hans Mayer hat in seinen Erinnerungen einmal von seinem Bewusstsein "der existenziellen Fremdheit als Jude" gesprochen. Solange Juden - anders als christliche Minderheiten - als "Gegenrasse und negatives Prinzip" nicht für immer aus den Köpfen verschwunden sind, können aus heute verehrten Fremden morgen wieder gehasste Feinde werden.