
Ein Hauch von großer Oper weht durch den Gerichtssaal im Schlossbezirk von Karlsruhe, wenn die Richter des Bundesverfassungsgerichts einziehen. Der Gerichtsdiener ruft "Das Bundesverfassungsgericht" und die kardinalrot leuchtenden Roben signalisieren: Deutschland steht unter der Herrschaft des Rechts. Das war nicht immer so. Schon bei der feierlichen Eröffnung des Bundesverfassungsgerichts am 28. September 1951 war klar, dass nach den Verwüstungen des Rechts im Dritten Reich gewaltiger Änderungsbedarf bestand. Das Bundesverfassungsgericht hatte mit dem Grundgesetz eine der freiheitlichsten Verfassungen der Welt auf seiner Seite, stieß aber auf viele Gesetze, die uns heute hoffnungslos rückständig vorkommen. Hans-Joachim Strauch ist Professor für Rechtstheorie und war lange Jahre Präsident des Oberverwaltungsgerichts Weimar:
"Das Recht stammte eben aus der Kaiserzeit, der Weimarer Republik und der NS-Zeit. Man stelle sich vor, das war die Zeit, wo selbstverständlich die Ehefrau noch eine Genehmigung des Mannes brauchte, wenn sie arbeiten wollte oder nur ein Bankkonto eröffnen."
Selbstbewusst im Staatsgefüge platziert
Auch dass der Staat die Presse kontrollierte und die Berufsausübung nach Gutsherrenart regulierte, war damals selbstverständlich. Dem trat das Gericht von Anfang an kraftvoll entgegen und machte in einer aufsehenerregenden Denkschrift klar, dass es seinen Platz im Staatsgefüge nicht unter, sondern neben Regierung und Parlament sah. Dazu weiter Hans-Joachim Strauch:
"Und es ist die große Leistung des Bundesverfassungsgerichts, gegenüber dem alten Recht die Grundrechte und die Werte der neuen Verfassung durchgesetzt zu haben. Den Durchbruch brachten berühmte Urteile, viele Entscheidungen zur Gleichberechtigung und nicht zuletzt die Erfindung des Datenschutzes als Grundrecht."

Umstrittene Urteile
Es gab und gibt auch Kritik, nicht nur an der manchmal allzu salbungsvollen Sprache der Urteile. Einen schweren Irrtum begingen die Richter 1957, als sie den berüchtigten Paragrafen 175 des Strafgesetzbuches, nach dem männliche Homosexualität mit Zuchthaus bestraft werden konnte, für rechtens erklärten. In letzter Zeit handelt sich Karlsruhe immer wieder Rüffel vom Europäischen Gerichtshof ein, vor allem, wenn es die in Deutschland übliche Bevorzugung der Kirchen verteidigt oder die europäische Währungspolitik angreift, so Hans-Joachim Strauch:
"Natürlich sind die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts nicht immer auf Zustimmung gestoßen. Aber man muss sich darüber im Klaren sein, dass die Entscheidung von Verfassungsfragen politisch nie neutral sein kann. Und diese Verfassungsfragen sind heute Europarechtsfragen. Und damit ist zwangsläufig der Konflikt zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof strukturell ein Fakt."
Armdrücken Karlsruhe versus Luxemburg
In der Tat ist es momentan eine der brisantesten Fragen, wie das Armdrücken zwischen Bundesverfassungsgericht und dem in europarechtlichen Fragen eigentlich letztzuständigen Europäischen Gerichtshof ausgeht. Er sei gespannt, was nun passiere, sagt Hans-Joachim Strauch: "Es ist nur zu fürchten, dass das Bundesverfassungsgericht daraus nicht als Gewinner hervorgeht."
Doch selbst wenn das BVerfG den Vorrang des Europäischen Gerichtshof anerkennen muss, bleibt ihm Spielraum, für Freiheit und Recht in unserem Land zu sorgen. Im Klimabeschluss vom März 2021 hat Karlsruhe erstmals anerkannt, dass die Älteren den Jüngeren nicht durch hemmungslosen Konsum die Zukunft verderben dürfen.
Die Autorität des Bundesverfassungsgerichts lebt weniger von feierlichen Auftritten und Machtgesten als von der Tatsache, dass die Verfassungsrichter seit 70 Jahren unermüdlich und mit Erfolg für die Durchsetzung der Grundrechte in Deutschland eintreten.