Donata de Andreis ist eine feine, ältere Dame. Jahrgang 1929. Über den deutschen Theologen Dietrich Bonhoeffer spricht die Römerin, als wäre er ein enger Verwandter, ein Freund, ein Kollege. Ein Ding der Unmöglichkeit. Donata war 16, als Bonhoeffer im Konzentrationslager Flossenbürg umgebracht wurde. Sie hat ihn nie persönlich kennengelernt. Sie kennt ihn nur aus den Erzählungen ihres Mannes. Gaetano Latmiral war 20 Jahre älter als seine Frau, ein Zeit- und Leidensgenosse Dietrich Bonhoeffers. De Andreis:
"Als die SS gekommen ist, um Bonhoeffer abzuholen, nach dem Attentat auf Hitler am 20. Juli, hat der Gefängnisdirektor gefragt: Kann ich etwas für Sie tun? Und Bonhoeffer hat geantwortet: Ja, ich würde mich gern von meinen Freunden im Gefängnis verabschieden. Für Gaetano war das der Moment seines Lebens, es hat ihn berührt und vermutlich auch verändert."
Latmiral: "Seine Würde, seine Güte, seine mutige Milde"
Gaetano Latmiral war italienischer Offizier, wie Bonhoeffer inhaftiert im Wehrmachtsgefängnis Berlin Tegel. Latmirals Verhaftung ist einer dieser zahlreichen, sinnlosen, traurigen Zufälle des Krieges. Der Wissenschaftler arbeitete gemeinsam mit deutschen Kollegen an der Entwicklung der Radartechnik und hielt sich dafür im September 1943 in Berlin auf. Genau an jenem Tag, als die Italiener Diktator Benito Mussolini absetzten und dem Deutschen Reich die Allianz aufkündigten. Aus Freunden wurden Feinde und Latmiral kam als "Geheimnisträger" ins Gefängnis. Dort freundete er sich mit dem Berliner Pfarrer und Untersuchungshäftling Dietrich Bonhoeffer an. "Seine Würde, seine Güte, seine mutige Milde waren wie ein Licht in Finsternis, in der Sinnlosigkeit dieses Gefängnisses", schrieb er später.
"Jeden Tag brachten sie sie aus den Zellen in diesen Hof. Wenn der Deutsche, der sie begleitete, nett war, ließ er sie statt einer halben Stunde auch eine Stunde in den Hof und statt sie zu zwingen, hintereinanderzugehen, erlaubte er ihnen auch zu sprechen. Für ein deutsches Gefängnis war das eine sehr angenehme Situation."
Bei einem dieser Spaziergänge im Gefängnishof entstand das letzte Foto von Dietrich Bonhoeffer. Der tadellos mit Anzug und Krawatte gekleidete Theologe umringt von seinen italienischen Mitgefangenen. Neben ihm Gaetano Latmiral. Ein Jahr verbrachten sie gemeinsam. Später erinnerte sich Latmiral vor allem an die Ruhe und das Gottvertrauen, das Bonhoeffer ausstrahlte. "Ich denke, er hatte eine so feste Hoffnung, dass Gott durch Christus alles wiederbringen wird, alles vollenden wird, deswegen war er so ruhig", schrieb Latmiral im Rückblick, und seine Frau erinnert sich an das Zutrauen, das Bonhoeffer zu seinen italienischen Mitgefangenen fasste:
"Er war ganz frei. Wenn sie im Hof spazierten, ließ er kein gutes Haar an Hitler. Er sprach schlecht über alle. Als sie dann Freunde geworden waren, hat Gaetano ihn gefragt: Du schimpfst über Hitler, über Deutschland, über den Krieg, auch wenn jemand dabei ist, den du nie gesehen hast und nicht kennst. Bonhoeffer hat gelacht: Wenn man Menschen nicht mehr auf den ersten Blick trauen kann, dann lohnt es sich nicht, zu leben."
Bonhoeffer zeichnete eine Weltoffenheit aus
Dietrich Bonhoeffer begegnete Fremden, Ausländern nicht mit Misstrauen, sondern mit einer entwaffnenden Neugier. Ihn zeichnete eine Weltoffenheit aus, wie sie für diese Zeit außergewöhnlich war. Er war als Theologe und später dann im Dienst des Widerstands häufig im Ausland: USA, Schweden, Groß-Britannien. Er sprach, auch das war damals nicht selbstverständlich, perfekt Englisch. Und vielleicht auch noch ein paar Brocken Italienisch.
Frühjahr 1924. Der 18-jährige Theologiestudent Dietrich Bonhoeffer darf seine erste große Reise machen. Sie führt ihn nach Italien, nach Rom. 44 Stunden dauerte damals die Bahnfahrt über den Brenner mit etlichen Pausen. Zeit genug, um den "Baedeker" gründlich zu studieren und ein bisschen Italienisch zu lernen.
"7 Uhr morgens Florenz, dann endlich 2:20 Uhr Rom. Schon vor der Einfahrt sieht man Sankt Peter liegen, ein seltsam feierlicher Augenblick. Auf dem Bahnhof schon begann allerdings die Gaunerei."
Der arme Student muss ein saftiges Trinkgeld für eine Pferdedroschke berappen und die Zimmerwirtin lässt sich von Dietrich und seinem Bruder Klaus zwei Nächte extra bezahlen. Sie habe schließlich schon früher mit ihnen gerechnet. Die Brüder logieren am Pincio, in der via Lazio. Unweit der evangelischen Christuskirche. Doch in seinen Reiseaufzeichnungen erwähnt Bonhoeffer die damals gerade erbaute Kirche mit keinem Wort. Ihm ging es, sagt der heutige Pfarrer der evangelischen Gemeinde in Rom Jens-Martin Kruse, um die Antike und um die katholische Kirche. Jens-Martin Kruse:
"1924 sind wir lange vor der offiziellen Ökumene, also in Zeiten, in denen es zwischen der evangelischen und katholischen Kirche keine Berührungspunkte gegeben hat. Von daher zeichnet ihn das aus, dass er mit einer großen Offenheit und einem großen Interesse hier in Rom wahrnimmt, was er erlebt und dass er versucht, es zu verstehen. Er schreibt in seinen Briefen, dass er an einer Messe teilnimmt und dankbar dafür ist, dass neben ihm einer ein Messbuch hat, sodass er Liturgie verfolgen und verstehen kann."
"Heute Vormittag von zehn bis halb 1 Uhr Messe in St. Peter, von einem Kardinal gehalten. Das Unglaublichste war der Knabenchor. Zum Teil haben sie ausgebildete Stimmen wie Frauen, es sollen Kastraten sein. Zum Teil aber noch herrlich ausgesprochene Kinderstimmen."
Ostertage in Rom
Vor 90 Jahren verbrachte der angehende evangelische Pfarrer Dietrich Bonhoeffer die Osterfeiertage in Rom, in den großen Kathedralen der römisch-katholischen Weltkirche: Sankt Peter, San Giovanni in Laterano, Santa Maria Maggiore. Die feierlichen Gottesdienste, die offensichtliche Frömmigkeit, lebendige Traditionen beeindruckten den jungen Theologen und prägten ihn ein Leben lang. "Ich fange an, den Begriff Kirche zu verstehen", schreibt er in Rom.
Jens-Martin Kruse:
Jens-Martin Kruse:
"Er merkt natürlich auf seinem Hintergrund, dass das hier ganz anders ist, dass diese Kirche ganz anders aufgestellt ist. Er merkt, das ist nicht seins. Aber gleichzeitig ist er so berührt und auch fasziniert, dass ihn dieses Thema 'Kirche', wie existieren wir als Christen, wie existiert Christus zeitlebens nicht mehr loslässt."
Besonders beeindruckt hat Bonhoeffer ein Nachmittag in Santa Maria Maggiore. In seinen Aufzeichnungen beschreibt er die lange Schlange vor den Beichtstühlen - nicht abschätzig preußisch-protestantisch. Beichte sei für viele offenbar kein "Muss", sondern ein "Bedürfnis", die "einzige Möglichkeit mit Gott zu sprechen". Sein Rom Aufenthalt hat Bonhoeffer zu einem Theologen ohne Scheuklappen gemacht, offen für das Fremde, das Andere. Auch deshalb genießt er in der katholischen Theologie hohes Ansehen. Gerhard Ludwig Müller hat in den 70er-Jahren über Bonhoeffers Theologie der Sakramente promoviert. Heute ist der Kardinal Präfekt der römischen Glaubenskongregation. Gerhard Ludwig Müller
"Dass er hier zum ersten Mal erkannt und erlebt hat, was Kirche ist. Dass Jung und Alt, gebildete und nicht gebildete Menschen zusammen sind und beten, dass viele beichten gehen, das hat ihn sehr beeindruckt. Und das bildet den Hintergrund, dass er später versucht hat, im evangelischen Sinn die Beichte als eine religiöse Praxis wieder zu gewinnen."
Drei Monate verbringt Dietrich Bonhoeffer in Italien. Vor der Rückfahrt nach Deutschland, geht Bonhoeffer noch einmal in den Petersdom, um Abschied zu nehmen von dieser Stadt. "Noch einmal zum Schluss sah ich, was Katholizismus ist, und gewann ihn wieder herzlich lieb", schreibt er in sein Tagebuch.
Zweiter Besuch von Rom
1942, mitten im Krieg, kehrt Bonhoeffer zurück nach Rom. Diesmal unter ganz anderen Vorzeichen, im Widerstand gegen Adolf Hitler. Über den Vatikan versuchte er, Kontakt zur britischen Regierung zu knüpfen und diese über die Putsch- und Attentats-Pläne deutscher Offiziere zu informieren. Diese konspirative Tätigkeit brachte ihn ins Gefängnis nach Tegel, wo er den Italiener Gaetano Latmiral kennenlernte. De Andreis:
"Mein Mann hat Bonhoeffer gefragt: Wenn du die Möglichkeit hättest, Hitler umzubringen, würdest du das tun? Wie kann man als Pastor jemanden umbringen, auch wenn er noch so böse ist? Bonhoeffer hat gesagt: Ja. Wenn ich auf einer Straße mit vielen Menschen bin und ein Verrückter fährt die Menschen um, was muss ich dann tun? Muss ich da als Pastor die Toten segnen und den Sterbenden helfen, oder muss ich versuchen, auf das Auto aufzuspringen und den Verrückten zu stoppen, auch wenn das mein oder sein Leben kostet?"
Dietrich Bonhoeffer hat die Antwort auf diese Frage mehr als einmal gegeben: Man muss dem Rad in die Speichen fallen. Dafür bezahlte er vor 70 Jahren im Konzentrationslager Flossenbürg mit seinem Leben.