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75 Jahre Überfall auf die Sowjetunion
"Ein verschatteter Fleck in unserer Erinnerung"

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sei in Deutschland die Erinnerung an die Opfer in der Sowjetunion und an den Krieg im Osten an den Rand getreten, sagte der Historiker Volkhard Knigge im DLF. Es sei Aufgabe von heutigen Historikern, das richtige Gleichgewicht zu finden zwischen Themen wie Widerstand, Holocaust und den Opfern in der Zivilbevölkerung, und den Gesamtumfang der deutschen Verbrechen tatsächlich ins Auge zu fassen.

Volkhard Knigge im Gespräch mit Michael Köhler |
    Volkhard Knigge, Direktor der Stiftung Buchenwald und Mittelbau-Dora, in der neuen Dauerausstellung "Buchenwald. Ausgrenzung und Gewalt 1937 bis 1945" in Buchenwald bei Weimar
    Volkhard Knigge, Direktor der Stiftung Buchenwald und Mittelbau-Dora. (picture alliance / dpa / Martin Schutt)
    Michael Köhler: Es gibt Wellen der Erinnerung, die branden auf oder ebben bewusst ab, oder sie werden gar nicht erst aufgeblendet, kommen gar nicht erst hoch. Die Auseinandersetzung mit den Gräueln des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion vor 75 Jahren zählt dazu. Am Morgen des 22. Juni 1941 begann das Unternehmen Barbarossa. Es war Hitlers Krieg, ein Eroberungs- und Vernichtungskrieg, der allein auf sowjetischer Seite etwa 27 Millionen Menschen das Leben kostete. Über drei Millionen davon verhungerten in deutschen Lagern oder wurden ermordet.
    Die sogenannten Stalags, die Stammlager auf deutschem Boden, die gibt es teils heute noch als Ehrenfriedhöfe zu besuchen. Auch sie waren Teil des NS-Systems. Aber sie wurden in der Erinnerung weitestgehend ausgeblendet, und das hat Gründe. Darüber haben wir gesprochen mit dem Historiker Volkhard Knigge. Er ist Leiter der Gedenkstätte Buchenwald Mittelbau-Dora.
    Wer erinnert, der geht wie ein Archäologe vor, hat mal der Literaturwissenschaftler und Philosoph Walter Benjamin gesagt. Er muss also die Erdschichten freilegen, die Spatenstiche der Erinnerung stets miterinnern, darf nicht nur die Funde seiner Grabungen präsentieren. Das Erinnern muss selbst erinnert und historisiert werden.
    Fünfeinhalb Millionen sowjetische Soldaten gerieten während des Zweiten Weltkriegs in deutsche Gefangenschaft, drei Millionen davon verhungerten in deutschen Lagern. Ziel des Unternehmens Barbarossa war die Ermordung und Versklavung ganzer Völker. Volkhard Knigge, ist das der blinde Fleck in unserer Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg bis heute?
    Volkhard Knigge: Wenn nicht erblindet, dann aber doch ein verschatteter Fleck, denn in diesem Raub- und Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion in diesen wenigen Jahren verdichten sich doch die nationalsozialistischen Massenverbrechen. Wenn man allein daran denkt, dass gegen 27 Millionen Menschen, Bürger der verschiedenen Republiken der Sowjetunion, zu Tode gekommen sind, wenn man sich klar macht, dass etwa 14mal so viele Zivilisten auf sowjetischer Seite, 14mal so viele wie deutsche Zivilisten zu Tode gekommen sind durch Verhungern, durch unmittelbaren Mord oder in Folge der Kriegshandlungen, dann hat man eine ungefähre Dimension von der Monstrosität dieser Art des Verbrechens.
    "Es beginnt eigentlich schon mit Goebbels"
    Köhler: Wie kommt es zu diesen Erinnerungslücken, trotz der viel gelobten deutschen Aufarbeitungskultur? Kalter Krieg, Blockbildung, kollektive Erinnerungslücken - erklären Sie es mir.
    Knigge: Es beginnt eigentlich schon, könnte man sagen, mit Goebbels. Es beginnt im nationalsozialistischen Deutschland selbst. Der Antibolschewismus, einschließlich des damit verbundenen Antisemitismus und des antidemokratischen Denkens hatte ja eine lange Vorgeschichte schon vor 1933 in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Die antisowjetische, die antikommunistische Gräuelpropaganda hatte ihre Folgen gezeitigt. Dazu kommt dann natürlich der Kalte Krieg mit seinen Denk- und Wahrnehmungs-, ich hätte beinahe gesagt Verboten, aber in jedem Fall Einschränkungen. Dazu kommt dann die einseitige Fokussierung auf das natürlich zu benennende spezifisch Stalinistische an der sowjetischen Kriegsführung, aber auch dann an den Besatzungsverbrechen, Besatzungsübergriffen der sowjetischen Seite. Das alles ließ sich verwenden, um vom dicken Balken im deutschen Auge mit Hinweis auf die Splitter auf der Gegenseite, im Auge der Gegenseite sich davon abzuwenden und den Blick zu verschatten.
    Köhler: Volkhard Knigge, Sie sind Leiter der Gedenkstätte Buchenwald Mittelbau-Dora. Hat die DDR oder ist auf dem Gebiet der ehemaligen DDR anders der russischen Kriegsopfer gedacht worden?
    Knigge: Im Gegensatz zu Westdeutschland stand natürlich in der DDR die deutsch-sowjetische Freundschaft als Moment der Staatsdoktrin im Mittelpunkt. Der sowjetische Widerstand gegen die deutschen Besatzer wurde durchaus erinnert, aber selektiv und auch idealisiert. Dass die dunklen Seiten der stalinistischen Kriegsführung, der Umgang mit den eigenen Soldaten, der verschleißende Umgang mit diesen Menschen, der spätere Vorwurf, wenn sie in Gefangenschaft geraten waren, dass sie dann doch zu Kollaborateuren geworden waren, das alles wurde nicht gesagt, und darum mussten wir uns nach 1990 dann genauso kümmern, wie wir uns um die Geschichte der sowjetischen Speziallager in der SBZ kümmern mussten und kümmern wollten.
    "Unsere Aufgabe ist es, das richtige Gleichgewicht zu finden"
    Köhler: Wir haben mal zusammengefunden, weil Sie unter anderem auch im wissenschaftlichen Beirat eines Erinnerungsortes sind, der mir gänzlich unbekannt war, nämlich des größten Stammlagers auf deutschem Boden in der Nähe von Gütersloh. Gibt es so etwas wie eine Konkurrenz der Opfergruppen im öffentlichen Erinnern?
    Knigge: Es hat zumindest eine Verschiebung gegeben. Während, man könnte beinahe sagen, in ganz Europa in unmittelbarer Nachkriegszeit die jeweiligen Widerstandskämpfer der Nationen, man könnte sagen, die vorbildlichen Heroen im Mittelpunkt standen, hat sich die Wahrnehmung ab den 70er-, 80er-Jahren auf den Holocaust verschoben. Beides hat dazu geführt, dass die Opfer der Sowjetunion, der Krieg im Osten über den Holocaust hinaus tatsächlich an den Rand getreten ist, und ich glaube, unsere Aufgabe ist es, hier das richtige Gleichgewicht zu finden, Widerstand, Holocaust, Opfer in der Zivilbevölkerung, den Gesamtumfang der deutschen Verbrechen tatsächlich ins Auge zu fassen, und dazu gehören dann auch - Sie haben es angesprochen - die vielen Kriegsgefangenenlager für sowjetische Kriegsgefangene und ihnen gegenüber die Politik des verhungern Lassens. Es sind ja über drei Millionen sowjetische Kriegsgefangene in diesen Kriegsgefangenenlagern auch auf Reichsboden zunächst dem Hungertod preisgegeben worden, bis sie dann doch später im totalen Krieg als Zwangsarbeiter, obwohl sie ja als slawische Untermenschen galten, wichtig wurden.
    Köhler: Stehen aktuelle politische Ereignisse oder auch Streitfälle, nehmen wir Steinmeiers Kritik am NATO-Manöver oder die Krim-Annexion, stehen sie der Erinnerung im Wege?
    Knigge: Ich glaube, sie stehen der Erinnerung nicht im Wege. Sie sind eigentlich Teil der Erinnerung und wir sollten sie im Licht dieser historischen Erfahrung, der unmittelbaren Verbrechenserfahrung und dann, wie nach 1945 mit diesen Verbrechen umgegangen worden ist, sehen. Ich glaube, das würde zu einer größeren Sorgfalt und Sensibilität und hoffentlich auch zu einem weniger an politischer Instrumentalisierung dieser Vergangenheit beitragen. Jedenfalls würden wir so unsere Arbeit und unseren Beitrag dazu definieren wollen.
    Köhler: Über Wellen der Erinnerung der Historiker Volkhard Knigge. Er ist Direktor der Gedenkstätte Buchenwald Mittelbau-Dora.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.