"Was man sieht, ist ein Gelehrter, der an seinem Körper vier sehr schwere Folianten hat, er steckt aber nur in ein einziges von diesen vier Büchern seine Nase. Die Bücher benutzt er nicht zum Lesen. Die Bücher geben ihm Halt. Die sehen aus wie Ausstülpungen aus seinem Körper. Und das ist das Auffällige an dem Bücherwurm – und sagt, glaube ich, sehr viel über diese Metapher: Der menschliche Bücherwurm ist einer, der Bücher nicht unbedingt lesen muss, aber Bücher geben ihm Halt – und sie lassen ihn schweben zwischen der Erde und den Sternen."
Nein, besonders sympathisch wirkt er auf den ersten Blick nicht: der Bücherwurm. Zumindest nicht auf dem Gemälde, das Carl Spitzweg 1850 gleich in vier Varianten von ihm gemalt hat – und das unsere Vorstellung von ihm bis heute prägt:
"Also, da ist der Bücherwurm natürlich so ein grauer, weishaariger, gebückter, alter Herr, der vermutlich nicht so wahnsinnig lebenstauglich ist, weil er sein ganzes Leben nur zwischen irgendwelchen Folianten verbracht hat – und das macht halt einfach nicht sexy, ja?!"
Nicht sexy, nicht lebenstauglich, zwar belesen, aber irgendwie aus der Zeit gefallen: Wenn man jemand anderen als "Bücherwurm" bezeichnet, ist das ein vergiftetes Lob. Und es schwingt dabei immer ein abwertender Unterton mit, weiß der Kölner Fernsehjournalist und promovierte Germanist Hektor Haarkötter:
"Ich saß damals in der sehr gut sortierten Bibliothek der Universität Göttingen und stolperte eben über diesen Begriff 'Bücherwurm' und dachte mir: Ach komm, jetzt guckst du doch mal, wo dieses Wort eigentlich herkommt. Und, ob da wirklich sachlich was dahintersteckt. Also, ob es dieses Tier eigentlich wirklich gibt – und wie es eigentlich kommt zu dieser Metonymie, also zu dieser Übertragung vom Tier zum Menschen, vom tierischen Bücherwurm zum menschlichen Bücherwurm. Und siehe da, es gibt ein relativ ausführliches Schrifttum über diese zoologische Entität, über dieses Tier Bücherwurm, wobei ich direkt sagen muss – es gibt nicht einen Bücherwurm, die Wissenschaft hat – ich glaube - über 160 verschiedene Tiere und Lebewesen identifizieren können, die man als Bücherwurm bezeichnen kann."
Über 160 verschiedene tierische Bücherwürmer gibt es, die meistens allerdings unter die Kategorie "Insekt" fallen. Die Prominentesten von ihnen listet Haarkötter in seiner Kulturgeschichte des Bücherwurms auf, übrigens die erste und bislang einzige Abhandlung zum traditionsreichen Spottbegriff. Und der Autor kommt dabei auch nicht von ungefähr auf das ausschweifende Sexualleben der Schädlinge zu sprechen - angefangen beim rappeligen Holzwurm über das promiskuitive Silberfischchen bis hin zur rammeligen Bettwanze:
"Man kann sagen: Der Bücherwurm kennt keine Moral. Er kennt auch keine Freunde oder Feinde. Er macht sich über alles her, was ihm unterkommt. Und ich glaube, da haben wir auch einen der Vergleichspunkte hin zum menschlichen Bücherwurm. Weil der menschliche Bücherwurm ist ja auch einer, der keine Freunde und Feinde kennt. Er muss einfach jedes Buch haben. Da haben wir ganz klassische Vertreter zum Beispiel einen Landadeligen aus England im 19. Jahrhundert, dessen verwegener Plan war, jedes gedruckte Buch besitzen zu müssen, das jemals in der Menschheitsgeschichte erschienen ist. Der Nachlass dieses Mannes, der dreimal umziehen musste, weil seine Landschlösser nicht mehr groß genug für seine Büchersammlungen waren, der Nachlass dieses Mannes ist bis heute von Sotheby's in London in über 50 Versteigerungen an den Mann gebracht worden. Und es gibt immer noch große Bestände, die bis heute nicht verkauft wurden, weil dieser Mann einfach alles an Buch aufgekauft, erworben, geklaut, gestohlen hat, was er nur irgendwie finden konnte."
Büchersammeln als erotische Ersatzbefriedigung: Es sind nicht zuletzt die oft tragisch endenden Anekdoten von besinnungslos leidenschaftlichen Bücherliebhabern, die Haarkötters Abhandlung so vergnüglich machen. Einer der größten menschlichen Bücherwürmer überhaupt war zweifellos der englische Landadelige Sir Thomas Phillipps, der im frühen 19. Jahrhundert die größte Privatbibliothek der Welt besaß – und sich dafür finanziell und emotional ruinierte. Völlig verarmt und verbittert starb Phillipps 1872, nach zwei gescheiterten Ehen. Und auch Lessing, der die Spottmetapher "Bücherwurm" in seinem Theaterstück "Der junge Gelehrte" 1749 eigentlich als Erster aufgebracht hatte, konnte ihr schließlich selbst nicht entgehen. Als Bibliothekar in Wolfenbüttel schaffte sich Lessing später gleich Tausende von sündhaft teuren Büchern an, sodass man ihn prompt ebenfalls als "Bücherwurm" verspottete. Ein Schmähbegriff, der ab Mitte des 18. Jahrhunderts nicht ohne Grund immer populärer wurde. Denn als Bücherwürmer verhöhnte man nun all jene, die sich mit dem tief greifenden Medien- und Mentalitätswandel der Zeit nicht abfinden wollten. Wo vorher noch der Universalgelehrte und der feste Glaube an weise Bücher geherrscht hatten, die das Weltwissen quasi auf ewig in sich aufspeicherten, setzte sich nun, in der Aufklärung allmählich das wissenschaftliche Spezialistentum durch. Und damit auch: die moderne Auffassung, dass Bücherwissen höchst flüchtig und schnell veraltet ist:
"Es gibt so ein Zitat aus der Zeit, das heißt: 'Gebildete lesen Bücher, Menschen lesen Aufsätze.' Man liest Bücher nur noch, um irgendein nutzloses Faktenwissen anzuhäufen, aber das bringt einen überhaupt nicht mehr weiter. Man braucht die kurze, knackige Information. Und der Bücherwurm, das ist der alte Polyhistor, der Bücher um der Bücher willen und Wissen um des Wissens willen anhäuft – während es sozusagen dem Forscher modernen Typs um die Realien geht, um die reale Welt. Um die praktische Anwendbarkeit von Wissen. Wissen ist kein Selbstzweck mehr, sondern Wissen muss zu irgendetwas nütze sein: das ist eben diese Nützlichkeitsideologie. Dieses Denken fing eben genau zu dieser Zeit an – und da ist Lessing eben einer der ersten Protagonisten."
Bei Haarkötter erscheint der menschliche Bücherwurm bei genauerem Hinsehen als ein liebenswerter Fußlahmer der Geschichte. Als melancholisch zurückblickender Nostalgiker inmitten einer sich bis heute rasant wandelnden Wissensgesellschaft. Er sammelt schon deshalb so viele Bücher, weil er von modernen und postmodernen Erkenntniszweifeln nichts wissen möchte. Entsprechend ist der menschliche Bücherwurm meistens viel mehr am Aussehen seiner Exemplare als an deren Inhalt interessiert. Denn nur mit Blick auf eine prachtvolle Bibliothek kann er sich noch einmal zurückträumen in jene Welt der Vormoderne, in der das ganze Wissen der Menschheit noch tröstlich zwischen zwei Buchdeckel zu passen schien:
"Wie die meisten Wahnsinnigen lebt auch der Bücherwurm in seiner ganz eigenen Welt und wir mutmaßen, dass er in dieser Welt ein sehr glücklicher Mensch ist."
Hektor Haarkötter: "Der Bücherwurm. Vergnügliches für den besonderen Leser". Primus-Verlag, Darmstadt. 144 Seiten, viele Abbildungen, 12,90 Euro.
Nein, besonders sympathisch wirkt er auf den ersten Blick nicht: der Bücherwurm. Zumindest nicht auf dem Gemälde, das Carl Spitzweg 1850 gleich in vier Varianten von ihm gemalt hat – und das unsere Vorstellung von ihm bis heute prägt:
"Also, da ist der Bücherwurm natürlich so ein grauer, weishaariger, gebückter, alter Herr, der vermutlich nicht so wahnsinnig lebenstauglich ist, weil er sein ganzes Leben nur zwischen irgendwelchen Folianten verbracht hat – und das macht halt einfach nicht sexy, ja?!"
Nicht sexy, nicht lebenstauglich, zwar belesen, aber irgendwie aus der Zeit gefallen: Wenn man jemand anderen als "Bücherwurm" bezeichnet, ist das ein vergiftetes Lob. Und es schwingt dabei immer ein abwertender Unterton mit, weiß der Kölner Fernsehjournalist und promovierte Germanist Hektor Haarkötter:
"Ich saß damals in der sehr gut sortierten Bibliothek der Universität Göttingen und stolperte eben über diesen Begriff 'Bücherwurm' und dachte mir: Ach komm, jetzt guckst du doch mal, wo dieses Wort eigentlich herkommt. Und, ob da wirklich sachlich was dahintersteckt. Also, ob es dieses Tier eigentlich wirklich gibt – und wie es eigentlich kommt zu dieser Metonymie, also zu dieser Übertragung vom Tier zum Menschen, vom tierischen Bücherwurm zum menschlichen Bücherwurm. Und siehe da, es gibt ein relativ ausführliches Schrifttum über diese zoologische Entität, über dieses Tier Bücherwurm, wobei ich direkt sagen muss – es gibt nicht einen Bücherwurm, die Wissenschaft hat – ich glaube - über 160 verschiedene Tiere und Lebewesen identifizieren können, die man als Bücherwurm bezeichnen kann."
Über 160 verschiedene tierische Bücherwürmer gibt es, die meistens allerdings unter die Kategorie "Insekt" fallen. Die Prominentesten von ihnen listet Haarkötter in seiner Kulturgeschichte des Bücherwurms auf, übrigens die erste und bislang einzige Abhandlung zum traditionsreichen Spottbegriff. Und der Autor kommt dabei auch nicht von ungefähr auf das ausschweifende Sexualleben der Schädlinge zu sprechen - angefangen beim rappeligen Holzwurm über das promiskuitive Silberfischchen bis hin zur rammeligen Bettwanze:
"Man kann sagen: Der Bücherwurm kennt keine Moral. Er kennt auch keine Freunde oder Feinde. Er macht sich über alles her, was ihm unterkommt. Und ich glaube, da haben wir auch einen der Vergleichspunkte hin zum menschlichen Bücherwurm. Weil der menschliche Bücherwurm ist ja auch einer, der keine Freunde und Feinde kennt. Er muss einfach jedes Buch haben. Da haben wir ganz klassische Vertreter zum Beispiel einen Landadeligen aus England im 19. Jahrhundert, dessen verwegener Plan war, jedes gedruckte Buch besitzen zu müssen, das jemals in der Menschheitsgeschichte erschienen ist. Der Nachlass dieses Mannes, der dreimal umziehen musste, weil seine Landschlösser nicht mehr groß genug für seine Büchersammlungen waren, der Nachlass dieses Mannes ist bis heute von Sotheby's in London in über 50 Versteigerungen an den Mann gebracht worden. Und es gibt immer noch große Bestände, die bis heute nicht verkauft wurden, weil dieser Mann einfach alles an Buch aufgekauft, erworben, geklaut, gestohlen hat, was er nur irgendwie finden konnte."
Büchersammeln als erotische Ersatzbefriedigung: Es sind nicht zuletzt die oft tragisch endenden Anekdoten von besinnungslos leidenschaftlichen Bücherliebhabern, die Haarkötters Abhandlung so vergnüglich machen. Einer der größten menschlichen Bücherwürmer überhaupt war zweifellos der englische Landadelige Sir Thomas Phillipps, der im frühen 19. Jahrhundert die größte Privatbibliothek der Welt besaß – und sich dafür finanziell und emotional ruinierte. Völlig verarmt und verbittert starb Phillipps 1872, nach zwei gescheiterten Ehen. Und auch Lessing, der die Spottmetapher "Bücherwurm" in seinem Theaterstück "Der junge Gelehrte" 1749 eigentlich als Erster aufgebracht hatte, konnte ihr schließlich selbst nicht entgehen. Als Bibliothekar in Wolfenbüttel schaffte sich Lessing später gleich Tausende von sündhaft teuren Büchern an, sodass man ihn prompt ebenfalls als "Bücherwurm" verspottete. Ein Schmähbegriff, der ab Mitte des 18. Jahrhunderts nicht ohne Grund immer populärer wurde. Denn als Bücherwürmer verhöhnte man nun all jene, die sich mit dem tief greifenden Medien- und Mentalitätswandel der Zeit nicht abfinden wollten. Wo vorher noch der Universalgelehrte und der feste Glaube an weise Bücher geherrscht hatten, die das Weltwissen quasi auf ewig in sich aufspeicherten, setzte sich nun, in der Aufklärung allmählich das wissenschaftliche Spezialistentum durch. Und damit auch: die moderne Auffassung, dass Bücherwissen höchst flüchtig und schnell veraltet ist:
"Es gibt so ein Zitat aus der Zeit, das heißt: 'Gebildete lesen Bücher, Menschen lesen Aufsätze.' Man liest Bücher nur noch, um irgendein nutzloses Faktenwissen anzuhäufen, aber das bringt einen überhaupt nicht mehr weiter. Man braucht die kurze, knackige Information. Und der Bücherwurm, das ist der alte Polyhistor, der Bücher um der Bücher willen und Wissen um des Wissens willen anhäuft – während es sozusagen dem Forscher modernen Typs um die Realien geht, um die reale Welt. Um die praktische Anwendbarkeit von Wissen. Wissen ist kein Selbstzweck mehr, sondern Wissen muss zu irgendetwas nütze sein: das ist eben diese Nützlichkeitsideologie. Dieses Denken fing eben genau zu dieser Zeit an – und da ist Lessing eben einer der ersten Protagonisten."
Bei Haarkötter erscheint der menschliche Bücherwurm bei genauerem Hinsehen als ein liebenswerter Fußlahmer der Geschichte. Als melancholisch zurückblickender Nostalgiker inmitten einer sich bis heute rasant wandelnden Wissensgesellschaft. Er sammelt schon deshalb so viele Bücher, weil er von modernen und postmodernen Erkenntniszweifeln nichts wissen möchte. Entsprechend ist der menschliche Bücherwurm meistens viel mehr am Aussehen seiner Exemplare als an deren Inhalt interessiert. Denn nur mit Blick auf eine prachtvolle Bibliothek kann er sich noch einmal zurückträumen in jene Welt der Vormoderne, in der das ganze Wissen der Menschheit noch tröstlich zwischen zwei Buchdeckel zu passen schien:
"Wie die meisten Wahnsinnigen lebt auch der Bücherwurm in seiner ganz eigenen Welt und wir mutmaßen, dass er in dieser Welt ein sehr glücklicher Mensch ist."
Hektor Haarkötter: "Der Bücherwurm. Vergnügliches für den besonderen Leser". Primus-Verlag, Darmstadt. 144 Seiten, viele Abbildungen, 12,90 Euro.