In einem Pariser Fernsehstudio: Farid Abdelkrim - dreiteiliger Nadelstreifenanzug, dichtes, nach hinten gegeltes Haar - sitzt auf einem schwarzen Ledersofa. Die Redaktion hat den 48-Jährigen in ihre Sendung eingeladen, um mit ihm über sein Buch zu sprechen. Der Titel: "Warum ich aufgehört habe, Islamist zu sein". Die Maskenbildnerin pinselt noch einmal über sein braungebranntes Gesicht, dann geht es vor die Kamera.
Das Interview ist nur eines von vielen, die Farid Abdelkrim in den vergangenen Monaten gegeben hat. Sein Buch hat in Frankreich für Aufsehen gesorgt: Insiderwissen aus den innersten Zirkeln der politischen Islamistenszene hat Seltenheitswert, nur wenige Aussteiger wagen sich an die Öffentlichkeit. Er will aufklären, sagt Abdelkrim einige Tage später. Wir treffen uns nochmal zum Interview. Er will junge Muslime davor bewahren, seine Fehler zu begehen und Glaube mit Islamismus und politischem Machtstreben zu verwechseln.
"Gott findet man nicht in politisch-ideologischen Organisationen. Die Suche nach Gott ist eine spirituelle, sehr persönliche Entwicklung. Wer Religion instrumentalisiert, um politische Ziele durchzusetzen; wer behauptet, im Namen des Islams muss man für dies und jenes kämpfen, der begeht nicht nur einen großen Irrtum. Er verrät den Islam."
Er predigte einen "Identitäts-Islam"
Es war Ende der achtziger Jahre: Abdelkrim gehört zur ersten Generation in Frankreich geborener Muslime, die sich militanten Strömungen im politischen Islam anschließen. Auf der Totenzeremonie für einen engen Freund, der von der Polizei erschossen wurde, lernt er den Imam seines Viertels kennen: einen Iraker, Mitglied der Muslimbruderschaft. Damit beginnt für ihn ein neues Leben. Aus dem Kleindealer, der davon träumt Rockstar zu werden, wird ein strenggläubiger Muslim, der davon träumt ein religiöser Führer zu werden.
"Ich habe aufgehört Alkohol zu trinken, zu rauchen, mit Frauen zusammen zu sein, in der Band zu singen und so weiter. Von heute auf morgen habe ich mein Leben radikal geändert. Überzeugt, dass ich das Richtige tue, dass es als echter Muslim meine Pflicht ist."
Er leistet den Treueeid der ägyptischen Muslimbrüder und engagiert sich in der 'Union islamischer Organisationen' - kurz UOIF, dem französischen Ableger der Muslimbruderschaft. Schon bald gehört der talentierte Redner zu den wichtigsten UOIF-Kadern. Seine Mission: Nachwuchs rekrutieren, vor allem junge Muslime, die wie er in Frankreich geboren und aufgewachsen sind. Abdelkrim weiß, welchen Ton er anschlagen muss. Er predigt einen politischen Islam, den er "Islam identitaire" nennt. Dieser "Identitäts-Islam" teilt die französische Gesellschaft in Muslime und Ungläubige auf und lockt maghrebinische Einwandererkinder genauso an wie afrikanische oder türkische.
"Nach dem Motto: Die Französische Republik lässt uns Muslime im Stich, will uns nicht haben. Frankreich wollte schon unsere Eltern nicht, hat sie nur ausgebeutet und ihre Heimatländer kolonialisiert. Wir predigen also eine Art islamische Revanche und werben für eine Lobby mit – warum nicht? – eigenen Kandidaten für die Wahlen, um die Forderungen der muslimischen Gemeinde durchzusetzen."
Rückenwind durch die Kopftuch-Debatte
Für besonderen Zulauf sorgt jedoch die Kopftuch-Debatte, die bereits Mitte der 90er-Jahre die Gemüter der Franzosen erhitzt. Als Chef der UOIF- Jugendorganisation kämpft Farid Abdelkrim an vorderster Front für das Recht, das muslimische Kopftuch in der Schule zu tragen. Eine Episode, die er heute besonders bereut. Denn es sei ihnen nicht etwa um Religionsfreiheit gegangen, sagt der Ex-Muslimbruder rückblickend. Das Kopftuch diente in erster Linie als Vehikel, um islamistische Ideologie zu transportieren.
"Die Botschaft der islamistischen Prediger kommt bei Jugendlichen an. Junge Frauen beginnen zu glauben, das Kopftuch sei das Eintrittsticket für einen authentischen Islam, der Schleier ein Zeichen großer Frömmigkeit. So wie ich es auch geglaubt, gepredigt und öffentlich gefordert habe. Dabei spielt das Kopftuch im Islam eine minimale Rolle. Es steht vielmehr für ein kulturelles Frauenbild von Muslimen, insbesondere in der arabischen Kultur: die Frau als minderwertiger Mensch, die beschützt werden muss. Sonst wird sie zu einem Einfallstor für alle möglichen Perversionen in der Gemeinde."
"Hochverrat" wird dem Abtrünnigen vorgeworfen
Der Islam als moralische und politische Ordnungskraft – dieses Konzept der Muslimbruderschaft habe in einer modernen, pluralistischen Gesellschaft keinen Platz. Davon ist Abdelkrim heute überzeugt. Auch wenn sich Organisationen wie die Muslimbrüder als gewaltfrei und „legalistisch" bezeichnen, islamistischen Terror öffentlich verurteilen, seien sie doch geistige Brandstifter. Für Farid Abdelkrim ist es ein Unding, dass die UOIF im Muslimischen Rat Frankreichs sitzt. Ihre direkte Verbindung zur Muslimbruderschaft sei offensichtlich. Ginge es nach ihm, würde der Muslimische Rat gänzlich abgeschafft. Der sei nicht mehr als eine Interessenvertretung für eine Handvoll Traditionalisten, die den Islam ihrer Herkunftsländer vertreten: Tunesien, Marokko und Algerien.
"Ich gehöre nur einer Gemeinschaft an: der nationalen Gemeinschaft. Ich bin Franzose. Glaubenssachen regle ich in der Moschee in meinem Viertel. Für den Rest brauchen wir keine muslimischen Sprecher. Dafür haben wir gewählte Politiker."
Mit seiner öffentlichen Kritik hat sich Farid Abdelkrim in der Islamistenszene viele Feinde gemacht. "Hochverrat" wird dem Abtrünnigen vorgeworfen, der bei seiner Aufnahme in der Muslimbruderschaft Treue und Gehorsam geschworen hat. Doch Abdelkrim gibt sich gelassen. Den wenigen Weggefährten von damals, die noch mit ihm sprechen, habe er einen ganz persönlichen Rat gegeben, erzählt er: Sie sollten sich weniger ernst nehmen. Ein Rat, den er selbst beherzigt. Der Ex-Islamist steigt inzwischen als Humorist auf die Bühne und witzelt über seine Zeit als Islamist und religiösen Übereifer.