Man spreche in Polen schon seit Jahren von einem "kalten Bürgerkrieg", sagte der Publizist Adam Krzeminski im DLF. Das Land sei gespalten, und die politischen Lager fänden kaum eine gemeinsame Sprache. Doch auch wenn sich der Streit derzeit zuspitze, seien die meisten Ankündigungen der neuen Regierung mit Ausnahme der Verfassungskrise derzeit noch "Verlautbarungen".
Die PiS stelle sich eine Art Parteienstaat vor und verkaufe dies als notwendigen Elitenwechsel, erklärte Krzeminski. "Ich bin aber nach wie vor der Meinung, dass wir in einer Phase sind, in dem man die - in Anführungszeichen - grausamen Entscheidungen sofort trifft, damit man später moderater regieren kann." Bei den großen Demonstrationen in der vergangenen Woche seien selbst Anhänger der PiS mitgegangen. Die EU solle deshalb zwar durchaus mahnend eingreifen: "Sie sollte aber die Entwicklungen in der Gesellschaft genau beobachten."
Das Interview in voller Länge:
Jochen Spengler: Die neue polnische Regierung unter der nationalkonservativen Partei PiS greift rigoros durch, versucht, Justiz und Medien unter ihre Kontrolle zu bekommen, und besetzt alle möglichen Posten mit Parteigängern. Sie entmachtet Verfassungsrichter, schmeißt unbequeme Journalisten aus Redaktionen, gängelt Kulturschaffende, wechselt Polizei- und Verwaltungschefs aus und vorgestern Nacht stürmte sie ein von der NATO betreutes Spionageabwehrzentrum und entmachtete den Leiter. Der Protest in Polen formiert sich dagegen, schon vor einer Woche gab es eine große Demonstration, für heute sind neue Proteste angekündigt. Aus der Bundesregierung heißt es, man sei entsetzt. Anfang der Woche hatte EU-Parlamentspräsident Martin Schulz im Deutschlandfunk von einem Staatsstreichcharakter gesprochen.
O-Ton Martin Schulz: Was sich da in Polen abspielt, hat Staatsstreichcharakter und ist dramatisch.
Spengler: Und über die Dramatik in Polen wollen wir nun sprechen. Ich freue mich, dass am Telefon in der Nähe von Warschau Adam Krzeminski ist, der renommierte polnische Publizist. Guten Morgen!
Adam Krzeminski: Guten Morgen!
Spengler: Die Äußerung von Martin Schulz ist in Polen heftig kritisiert und zurückgewiesen worden. Was sagen Sie, haben die Veränderungen dort Staatsstreichcharakter?
Krzeminski: Nein, das würde ich so nicht sagen, obwohl der Begriff auch in polnischen Medien im Gange ist, und der frühere Staatspräsident Lech Walesa sprach auch von der Gefahr eines Bürgerkrieges. Nun, von einem kalten Bürgerkrieg sprechen wir hier seit Jahren schon. Dieses Land ist in zwei Lager getrennt, gespalten, die kaum miteinander gemeinsame Sprache finden. Trotzdem, die gravierende Krise, die wir jetzt haben, das ist tatsächlich die Verfassungskrise. Die neue Regierung und die Mehrheit im Parlament ist der Meinung, man müsste mit der Null-Option anfangen und das Gesetz ändern. Sie haben allerdings nicht die Verfassungsmehrheit. Und der Streit geht darum, ob das Verfassungsgericht unabhängig vom Parlament sein sollte oder dem Parlament untergeben. Ob das ein Staatsstreich ist oder nicht, juristisch gesehen, das ist eine Frage. Die andere: Die Lage innenpolitisch spitzt sich tatsächlich zu, wir hatten eine riesige Demonstration vorige Woche, es waren etwa 50.000 Kritiker der Regierung, die Oppositionellen. Übrigens: Nicht die Parteien haben es organisiert, sondern eine neue Bürgerbewegung, das Komitee zur Verteidigung der Demokratie, das ist eine Nachahmung des alten KOR, des Komitees zur Verteidigung der Arbeiter aus dem Jahre '77, das war eine Mutterzelle der Solidarnosc. Das heißt, das Land hat auch diese zivilgesellschaftlichen Traditionen. Und heute findet auch ein Konzert, ein Protestkonzert von dem Parlament statt.
Spengler: Also immerhin, es gibt noch die Protestbewegung. Herr Krzeminski, Sie haben Anfang Dezember im Radio gesagt, dass die Regierung bislang eher auf starke Worte gesetzt habe statt auf Taten und dass Sie daran glauben, dass sie sich noch mäßigen werde. Ist das immer noch Ihre Überzeugung?
Krzeminski: Der Streit spitzt sich zu. Aber alle Ankündigungen sind ... Zum Beispiel das neue Pressegesetz gibt es noch nicht ... Das sind alles immer noch mit Ausnahme der Verfassungskrise Verlautbarungen. Zum Beispiel diese NATO-Geschichte jetzt, dieses Zentrum ist seit September im Aufbau, der Leiter dieses Zentrums wurde vor Kurzem von dem alten System noch gewählt, dieser Oberst ist ... Es war klar, dass die PiS ihn nicht akzeptiert, und er hat sich mit einem offenen Brief an die Öffentlichkeit gewendet gegen seine Absetzung. Ob das sozusagen die Gepflogenheiten der internen Führung, in Anführungsstrichen, ist, ist eine andere Geschichte. Das heißt, es gibt von beiden Seiten enorme Spannungen und ich glaube schon, dass auch die PiS sich mäßigen muss, wenn sie tatsächlich vier Jahre lang durchregieren will und nicht eine Eintagsfliege der polnischen Innenpolitik sein will.
Zur Wortwahl Kaczynskis: "Es ist eine rüde Sprache, brutal"
Spengler: Hat sie denn eigentlich vom Volk das Mandat, diese Fakten zu schaffen? Sie schafft ja schon Fakten, indem sie ständig Posten neu besetzt, wichtige Posten, unwichtige Posten, alles ist mit ihren Parteigängern offenbar besetzt!
Krzeminski: Das ist eine schwierige Frage. Sie stellt sich tatsächlich eine Art Parteienstaat vor. Sie verkauft das als einen notwendigen Elitenwechsel, es heißt, 25 Jahre nach der Wende von '89 müsse das Land durchlüftet werden und die Seilschaften, gar nicht die alten kommunistischen, sondern die neuen müssten beseitigt werden. Und ob sie die Unterstützung haben ... In der Provinz vielleicht, aber die Notierungen, die Umfragewerte der PiS stürzen rapide ab. Und eine neue Oppositionspartei, "die Modernen" heißt sie, sie überflügelt die alte Bürgerreform und nähert sich an die PiS an. Das heißt, es ist schon eine Bewegung im Lande und da muss die PiS sehr vorsichtig sein, dass sie tatsächlich nicht die Unterstützung – nicht nur in den Großstädten, sondern auch in der Provinz – verliert.
Spengler: Erschreckt Sie eigentlich die Wortwahl, die da im Gange ist?
Krzeminski: Auf jeden Fall!
Spengler: Also, der starke Mann Kaczynski spricht von der schlechtesten Sorte von Polen, die er da ersetzt mit seinen Leuten, es ist von Volksverrätern die Rede, das ...
Krzeminski: Ja, die genetisch geprägten Volksverräter ... Also, es ist eine Sprache, eine rüde Sprache, brutal. Und ob es seinen Charakter ausspricht oder kühl eingesetzt ist, ist schwer zu sagen. Jedenfalls selbst seine Akolythen sind befremdet, und das haben wir vor einer Woche wirklich auch spüren können, wo auch die PiS-Wähler bei der Protestversammlung teilgenommen haben!
Spengler: Sie haben ja nun schon mehrfach erwähnt: Es gibt die Protestbewegung, es gibt die Umfrageergebnisse, die vorsehen, dass die PiS dramatisch abfällt in der Wählergunst. Haben Sie den Eindruck, dass das irgendeinen Einfluss haben wird auf die Politik der PiS?
Krzeminski: Nun, wissen Sie, das sind sechs Wochen nach der Vereidigung dieser Regierung. Und ich bin nach wie vor der Meinung, dass es eine Phase ist, wo man die grausamen – in Anführungsstrichen – Entscheidungen sofort trifft, damit man später moderater regieren kann. Wann und ob das stattfinden wird, weiß ich natürlich nicht, aber die Logik, die Logik eines Mitgliedsstaates euratlantischer Strukturen müsste so sein, dass man tatsächlich so die Spielregeln der Allianz befolgt.
"Die Entwicklung Ungarns und Polens im 20. Jahrhundert lief gar nicht parallel"
Spengler: Geht Polen den Weg Ungarns?
Krzeminski: Nein, auf keinen Fall. Wir sind zwei befreundete Nationen seit Jahrhunderten, aber die Entwicklung Ungarns und Polens im 20. Jahrhundert lief gar nicht parallel. Das ist eine andere Geschichte. Aber man kann nur das erwähnen: János Kádár war von '56 bis '89 an der Macht, in Polen ist jeder Parteisekretär nach '56 durch die Massenproteste abgesetzt worden, das heißt ...
Spengler: Das heißt, Sie glauben, Ungarn hat eine autoritärere Tradition?
Krzeminski: Ungarn hat eine autoritäre Struktur und ist durch Trianon getroffen. Während Polen dieses Gefühl hat, doch auch aus eigenen Kräften die Geschichte zu gestalten. Und das ist eine andere Mentalität.
Spengler: Also sollte die EU nicht mahnend eingreifen?
Krzeminski: Das schon, das schon. Aber zugleich auch sehr genau beobachten, wie die Bewegungen in der Gesellschaft sind.
Spengler: Also, noch ist Polen eine Demokratie, noch ist Polen nicht verloren?
Krzeminski: Das würde ich sagen, das sind die ersten Worte der polnischen Nationalhymne!
Spengler: Danke, Adam Krzeminski, dass Sie heute Morgen Zeit für uns hatten!
Krzeminski: Danke schön, danke.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.