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Afghanistan
"Schüler geraten zwischen die Fronten"

An einen normalen Schulalltag ist für viele afghanische Kinder und Jugendliche nicht zu denken. Immer wieder werden Klassenräume besetzt - von Taliban-Kämpfern oder von Regierungstruppen. Oft kommt es zu Schießereien in den Gebäuden, sagte der Direktor von Human Rights Watch in Deutschland, Wenzel Michalski, im DLF.

Wenzel Michalski im Gespräch mit Michael Böddeker |
    Grundschule in Afghanistan wurde angeblich von der Taliban gesprengt.
    Bei Gefechten zwischen Taliban-Kämpfern und Regierungstruppen würden Schulen oft zerstört, so Wenzel Michalski von Human Rights Watch im Deutschlandfunk. (dpa / picture-alliance / Str)
    Michael Böddeker: In Afghanistan sind seit dem Ende des Taliban-Regimes viele neue Schulen entstanden, auch mithilfe aus dem Ausland. Das klingt erst mal nach einer guten Nachricht. Aber wie Human Rights Watch jetzt in einem neuen Bericht feststellt, werden die Schulen immer öfter von bewaffneten Kämpfern zweckentfremdet, vor allem im Nordosten des Landes. Die Schülerinnen und Schüler geraten so zwischen die Fronten. Darüber habe ich mit Wenzel Michalski gesprochen, er ist der Direktor von Human Rights Watch in Deutschland. Ihn habe ich gefragt, wer beschlagnahmt denn diese Schulen und warum?
    Wenzel Michalski: Beschlagnahmt werden die von den Sicherheitskräften der afghanischen Regierung, und besetzt werden sie aber auch von den Taliban. Das heißt, Schüler, die geraten dort wirklich zwischen beide Fronten. Warum sie besetzt werden beziehungsweise beschlagnahmt werden, das ist ganz einfach: Oft sind diese Schulen die Gebäude, die am besten, am stabilsten gebaut worden sind, die eben für Soldaten genügend Raum bieten, um da zu schlafen und eben als Befestigung, als Burg, als Festung gelten, und deswegen werden die gerne besetzt, was allerdings illegal ist.
    Schießereien im Klassenzimmer
    Böddeker: Wie sieht das dann konkret aus? Wird die Schule dann komplett übernommen oder teilen sich dann Soldaten und Schüler das Gebäude?
    Michalski: Das ist beides der Fall. Wir haben ein Beispiel aus einem Ort, in dem Ende 2015, Ende letzten Jahres, die Taliban eingedrungen sind und die Schule komplett besetzt haben. Die Dorfältesten hatten die Taliban dann gebeten, die Schule wieder zu räumen. Da haben sie sich geweigert. Die Taliban wurden dann von afghanischen Regierungstruppen überrannt, und am Ende waren die Taliban zwar weg, aber die Schule war zerstört. Bei einem anderen Beispiel wurde die Schule 2010 besetzt von Regierungstruppen. Die wurden dann von den Taliban wiederum überrannt, dass die Schule halb zerstört war. Lehrer wurden von den Taliban in den Klassenräumen erschossen, die zum Teil noch da waren, und die Schule musste dann völlig renoviert werden. Fünf Jahre später, 2015, sind die Regierungstruppen wieder in die Schule eingezogen. Unten haben die Schüler gelernt, oben waren die Soldaten stationiert, einquartiert. Und als die Lehrer gebeten haben, die Schule zu räumen, haben die Soldaten auf die Lehrer und auf die Schüler geschossen. Also es ist alles sehr brutal, und es gibt alle möglichen Formen der Besetzung, ob total oder nicht oder teilweise. Das bleibt eben der jeweiligen Fantasie der Machthaber überlassen.
    Böddeker: Sie haben jetzt einige Beispiele genannt. Wie groß ist das Problem denn insgesamt?
    Michalski: Das Problem ist sehr groß. Wir haben uns in unseren Recherchen auf die nordöstliche Provinz Baglan konzentriert und dort zwölf Fälle untersucht. Das ist natürlich nur die Spitze des Eisberges. Jede Schule in Afghanistan läuft Gefahr, missbraucht zu werden, entweder von den Taliban oder von den Militärs und den Sicherheitsbehörden, auch von der Polizei. Jede Schule, die in einem kriegerischen Gebiet ist. Das bedeutet, dass viele Kinder eben nicht mehr zur Schule gehen aus Angst. Weil Schulen, die zu Kasernen umfunktioniert werden, auch wenn es nur teilweise ist, zu militärischen Angriffszielen werden. Schwierig ist es natürlich auch für Mädchen. Viele Eltern lassen ihre Mädchen nicht mehr in die Schule, weil sie oft zu recht eben Angst haben, dass sie von den Soldaten belästigt werden.
    Westliche Spendengelder für den Aufbau von Schulen
    Böddeker: Mal etwas weitergefasst – wie steht es denn eigentlich generell um die Bildung in Afghanistan, also wie viele Kinder können dort überhaupt zur Schule gehen?
    Michalski: Also das ist sehr viel besser geworden. Als die NATO-Kräfte einmarschiert sind 2001 und die Taliban verjagt worden sind, waren im ganzen Land nur 775.000 Schüler überhaupt registriert oder in den Schulen. Und die Zahl liegt jetzt bei acht Millionen. Also da hat sich einiges getan. Westliche Spenderländer, Geberländer investieren sehr viel Geld – Schweden, Deutschland, USA – in immer wieder neuen Bau von Schulen. Aber das läuft alles Gefahr, zunichte gemacht zu werden, diese ganzen Anstrengungen, wenn nicht dem ein Riegel vorgeschoben wird und sich zumindest mal die afghanischen Soldaten, die afghanischen Sicherheitskräfte daran halten würden, die Schulen nicht zu besetzen. Afghanistan hat auch eine entsprechende internationale Erklärung unterschrieben –
    Böddeker: Sie meinen die Safe Schools Declaration?
    Michalski: Genau. Jetzt liegt es an den westlichen Ländern, an den Geberländern, Afghanistan daran zu erinnern. Das ist aber gar nicht leicht – zum Beispiel Deutschland, aber auch Großbritannien, das Vereinigte Königreich, Frankreich und die USA haben sich bisher verweigert, diese internationale Erklärung zu unterschreiben. Das heißt, obwohl Afghanistan diese unterschrieben hat, kann es keinen ordentlichen Druck von den Geberländern geben, also das ist nicht stringent vom Westen gedacht. Es ist auch gegen internationales Kriegsrecht, zivile Ziele anzugreifen, und durch die Besetzung der Schulen werden diese Schulen dann eben zu militärischen Zielen und stellen eine große Gefahr für die Schüler und für die Bevölkerung dar.
    Böddeker: Sagt Wenzel Michalski, der Direktor von Human Rights Watch in Deutschland. Laut einem neuen Bericht der Menschenrechtsorganisation werden Schulen in Afghanistan immer häufiger zweckentfremdet und vom Militär genutzt.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.