Die Gemüter der Demonstranten in Kabul sind immer noch erhitzt. Tausende belagerten vor wenigen Tagen den Präsidentenpalast. Ihre Forderung: Die afghanische Regierung müsse sie schützen vor dem Terror des sogenannten Islamischen Staates.
Vor allem Angehörige der Hazara sind betroffen. Die schiitische Minderheit macht rund 15 Prozent der Afghanen aus. Aber auch Paschtunen und Tadschiken, aufgeschreckt durch einen Terror-Akt, der auch für Afghanistan alles andere als alltäglich ist. Hamim, Reporter der Nachrichtenagentur Pajhwok:
"Eine Gruppe von Zivilisten war entführt worden, darunter ein 9-jähriges Mädchen, 3 Frauen und mehrere Männer. Die Täter haben sie enthauptet und ihnen den Hals durchgeschnitten. Später hat man die Leichten gefunden. Man hat sie nach Kabul gebracht und es gab diese riesige, historische Demonstration, um die Tat zu verurteilen."
Für Hamim ist Daesh, wie der IS hier und in anderen Ländern der islamischen Welt heißt, eine neue Herausforderung:
"Der IS in Afghanistan ist eine ernsthafte Gefahr. Die Regierung von Präsident Ghani erklärt, die Gefahr wachse mit jedem Tag."
"Ich glaube, die Bedrohung ist relativ begrenzt"
Thomas Ruttig, Mitbegründer des Afghanistan Analysts Network, einer Forschungseinrichtung, findet dagegen die Kabuler Regierung übertreibe das Risiko:
"Ich glaube die Bedrohung ist relativ begrenzt. Meines Erachtens gibt es nur drei bis fünf Provinzen, wo wirklich Gruppen aktiv sind und kämpfen, die sich IS angeschlossen haben. Aus bestimmten Gründen wird die Gefahr übertrieben. Präsident Ghani hat Afghanistan als Achse oder Standort dieser neuen Terrorismus-Gefahr Daesh dargestellt. Für mich aber sind nach wie vor die Taliban mit ganz großem Abstand die größte Gefahr für die Sicherheit in Afghanistan."
Dass die Einschätzungen zum IS in Afghanistan auseinandergehen, liegt an ungeklärten Fragen. Wer sind die IS-Kämpfer auf afghanischem Boden? Wie viele sind es? Und wer finanziert sie?
"Es heißt, der IS zahlt bis zu 500 US-Dollar an seine Kämpfer pro Monat. Bei den vielen Arbeitslosen die wir haben, den über 100.000, die das Land verlassen, ist es also lukrativ, sich dem IS anzuschließen."
Ali Amiri ist Islam-Wissenschaftler an einer angesehenen Kabuler Privat-Universität:
"Es sind nicht viele. Ich gehe von rund 3.000 IS-Kämpfern in Afghanistan aus. Vor allem im Osten. In den Provinzen Nangarhar, Kunduz und in Badakhshan."
Nicht nur der IS verwendet schwarze Fahnen
Thomas Ruttig dagegen geht von nur einigen Hundert IS-Kämpfern aus. Er sieht vor allem eine Instrumentalisierung der IS-Symbolik durch verschiedene Dschihadisten-Gruppen, die sich als IS ausgeben.
"Wichtig ist zu sehen, dass nicht nur Daesh schwarze Fahnen benutzt, sondern auch viele kleine Gruppen. Und viele vielleicht auch damit spielen, die Grenzen bewusst zu verwischen um den Leuten, gegen die sie kämpfen, mehr Angst einzujagen. Weil der Islamische Staat natürlich im Moment das größte Schreckenspotenzial."
In Achin, einem Landkreis an der Grenze zu Pakistan, kämpfen in diesen Tagen afghanische Sicherheitskräfte und Freiwilligen-Verbände gegen Gruppen des IS.
"Die Kämpfe dauern an", so dieser Polizeisprecher von Achin. "Wir haben mittlerweile in den meisten Orten die IS-Kämpfer ausgeschaltet. Sie sind nicht stark genug, um uns zu besiegen. Viele ziehen sich zurück, auf die pakistanische Seite der Grenze."
Warum aber tauchen IS-Kämpfer zunehmend im Grenzgebiet zu Pakistan auf? Nach Meinung von Ali Amiri dauern die Gefechte nicht zufällig seit Juli an. Zu dem Zeitpunkt brach der Kampf um die Nachfolge von Mullah Omar an der Spitze der Taliban offen aus. Die Taliban wiederum stehen unter Einfluss des pakistanischen Geheimdienstes ISI.
"Pakistan hält den Schlüssel des Problems in der Hand. Für Pakistan stellt der Islamische Staat eine Art Ersatz für die Taliban dar. Aber solange Verhandlungen mit den Taliban ein Ziel bleiben, braucht Pakistan eine zweite militärische Kraft, um weiterhin politischen Druck auf Afghanistan auszuüben. Denn ein Verhandlungsfrieden mit den Taliban bringt für Pakistan nur Nachteile."
Ist die Armee stark genug, um gegen IS und Taliban zu bestehen?
Im Westen wird gar gemutmaßt, der IS und die Taliban könnten zusammengehen, wie einst das Bündnis aus Al Qaida und Taliban, dass letztlich zum Krieg am Hindukusch geführt hat. Thomas Ruttig winkt ab:
"Das glaube ich nicht. Die Taliban sehen Afghanistan als ihre eigene Arena an und wollen da keine anderen Akteure drin haben. Zweitens behauptet ja Daesh der IS und ihr Führer Al Bagdadi, dass sie alle Muslime in der Welt repräsentieren. Das sehen die Taliban anders. Für mich sind die Taliban National-Islamisten, im Gegensatz zu den internationalistischen Islamisten, die man halt bei Al Qaida und dem IS also Daesh hat."
Bleibt die andere Kernfrage: sind die afghanischen Streitkräfte stark genug, um gegen Taliban und IS zu bestehen?
"Wir haben genug Soldaten. Aber das Hauptproblem ist eine schlagkräftige Luftwaffe. Der US-Oberkommandierende, General Campbell, hat versprochen, dass Ende 2017 die afghanischen Sicherheitskräfte ein schlagkräftige Luftwaffen haben werden. Bis dahin werden wir also einige Probleme haben."
Für Ali Amiri hat der verfrühte Abzug der NATO aus Afghanistan zum aktuellen Dilemma geführt:
"Ganz klar. Diese falsche Entscheidung hat dazu geführt, dass jetzt so viele junge Menschen das Land verlassen. Es geht um einen verantwortlichen Abzug. Wenn man die afghanischen Truppen ohne Fähigkeit hinterlässt, Taliban, Al Qaida oder wen immer effektiv zu bekämpfen, ist dies nicht verantwortlich."