Ein Lautsprecher ist Alois Glück nie gewesen. Platte Bierzeltreden und Stammtischparolen sind ihm fremd. In seiner Partei, der CSU, gilt er als nachdenklicher und besonnener Mensch. Und doch ist Alois Glück, geboren 1940 in Hörzing im Chiemgau, bis heute eine einflussreiche und zentrale Figur in der bayerischen Politik. 1970 zog der Sohn eines Landwirts in München in den Landtag ein und machte sich in den Reihen der CSU bald als Umwelt- und Sozialpolitiker einen Namen. Früh warnte er etwa vor den Risiken der Kernenergie und sorgte damit durchaus für Verdruss in der eigenen Partei. Nach zwei Jahren als Staatssekretär im Umweltministerium wurde Glück 1988 unter Ministerpräsident und Parteichef Franz-Josef Strauß zum Fraktionsvorsitzenden der CSU im Landtag gewählt, ein Amt, das er 15 Jahre lang überaus selbstbewusst und auch unangepasst ausübte, oft auch in Opposition zum langjährigen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber. Gemeinsam mit Stoiber hatte er zuvor Überlegungen des früheren Ministerpräsidenten Streibl, mit den rechtsextremen Republikanern eine Koalition einzugehen, eine klare Absage erteilt. [*] Zehn Jahre lang leitete Alois Glück die Grundsatzkommission der CSU. Ab 2003 prägte er als Landtagspräsident das politische Geschehen im Freistaat. 2008 trat er bei der Landtagswahl nicht mehr an. Das Amt als Präsident des Zentralkomitees der Deutschen Katholiken hatte er bis 2015 inne. Bis heute gilt Alois Glück vielen in der CSU als moralische Instanz und zugleich mächtiger Strippenzieher.
Alois Glück: Das war eigentlich alles nicht geplant. Ich weiß heute gar nicht mehr genau, wie es sich entwickelt hat.
Abschied vom Hof.
Birgit Wentzien: Der hintere Kraxenbach und die Heitholzer Alm, das sind wichtige Orte für Sie, oder?
Glück: Ja, Orte, an denen ich mich immer gut erholt habe. Das sind ganz unterschiedliche Orte, aber Orte meiner Heimat.
Wentzien: Man hat mir zugetragen, wenn Sie dorthin verschwinden, dann kommen Sie mit Gedanken, mit Anregungen und mit Denkanstößen zurück. Wann waren Sie das letzte Mal da?
Glück: Das ist jetzt schon einige Jahre her. Und wir haben eine eigenartige Entwicklung für mich: Die Berge werden immer höher.
Wentzien: Können Sie mir das noch mal beschreiben: Die Berge, den Bach und die Alm. Ich kenne es nicht. Das ist rund um den Chiemsee, das ist so die grobe Richtung?
Glück: Der Kraxenbach ist am Sonntagshorn. Das ist ein sehr ursprünglicher Aufstieg. Bergsteigen ist ein bisschen anspruchsvoll, aber jedenfalls, man ist ziemlich allein unterwegs. Wunderbare, ursprüngliche Gegend. Das ist einfach für mich immer die beste Erholung gewesen. In Ruhe gehen, abschalten, neue Eindrücke sammeln.
Wentzien: Und die Alm?
"Ich bin da irgendwo hineingewachsen oder -gestolpert"
Glück: Die Alm ist auf einem anderen Berg, am Geigelstein. Ja, das ist die Almwirtschaft. Dort gibt es wiederum ganz besonders im Juli eine ganz besondere Strecke auf diesem Weg zum Geigelstein, mit einer Blumenpracht, die sagenhaft ist. Und früher war ich natürlich in jungen Jahren am Berg unterwegs mit Freunden, mit Blick auf die Uhr. Wenn die am Watzmannhaus in drei Stunden waren, musste es bei uns weniger sein und Ähnliches. Mit der Zeit und vor allen Dingen durch meine Frau habe ich dann gelernt, die kleinen Dinge zu sehen, die Blumen. Und später war ich dann sehr gern unterwegs immer, wenn nicht unbedingt Sonne war, sondern oft bei Nebel oder auch anderen Dingen. Die Stimmungen, die Kleinigkeiten. Jetzt habe ich auch wieder ein bisschen begonnen, mehr zu fotografieren, und zwar in erster Linie so die kleinen Dinge in der Natur. Das tut mir gut.
Wentzien: Eigentlich sollte jetzt vor mir sitzen Alois Glück, der Hoferbe, der Landwirt. Das war geplant. Warum kam es anders?
Glück: Sehr früh eigentlich schon bin ich irgendwo hineingewachsen oder -gestolpert, wenn man will, in den Bereich der katholischen Jugend, dann in der Katholischen Landjugend, war da schon dann sehr engagiert, damals auch vor allen Dingen waren das Zeiten des Strukturwandels in der Landwirtschaft im ländlichen Raum, und war da ehrenamtlich auf der Kreisebene und dann auf der Diözesanebene. Und dann kam das Angebot der Landesebene, sie suchen einen hauptamtlichen Landessekretär. Das hat mich gereizt, ich war vorher eh schon daran unterwegs, und in der Frühe habe ich beim Melken mit dem Schlaf gekämpft immer. Im Stall ist es warm, und da bin ich immer spät heimgekommen durch irgendwelche Aktivitäten. Und dann hat sich eben ergeben, dass meine jüngere Schwester – ich hatte zwei Schwestern, die ältere Schwester hatte Kinderlähmung, war damals auch vom Arzt nicht erkannt, hat dann am Hof gelebt nach vielen Jahren im Krankenhaus. Der Vater im Krieg gefallen, und ich hätte also nicht weggehen können. Nur meine jüngere Schwester hätte in anderen Hof eingeheiratet. Und das allerschmah war dann, dass eben ihr künftiger Mann zu uns auf den Hof ging, und ich konnte weggehen nach München und war dann sieben Jahre Landesgeschäftsführer der Katholischen Landjugend in Bayern.
Wentzien: Das klingt von heute aus betrachtet so einfach. Das war es damals ja nicht. Das war damals auch ungewöhnlich, denn Sie waren ja eigentlich in der Pflicht. Sie sollten den Hof weiterführen in der Tradition der Familie. Sie wurden dann von jemand anderem überzeugt, etwas anderes zu tun, Sie wollten auch etwas anderes tun. Wie haben Sie denn Ihre Mutter überzeugt?
Glück: Für meine Mutter war das schon schwierig, und ich habe ihr da schon einiges zugemutet. Zumal ich immer schon eben ein bisschen ein Stück anders war, viele andere Dinge gemacht habe und ähnliche Dinge mehr. Aber dadurch, dass eben meine jüngere Schwester mit ihrem Mann dann auf dem Hof das Ganze übernommen hat, war es möglich. Aber für sie war es ganz gewiss keine leichte Strecke. Und ich war insgesamt, denke ich, in meiner Jugendzeit für sie schon auch anstrengend.
Wentzien: Also Sie waren nicht ganz normal eigentlich, denn normalerweise wäre es so gewesen zu der Zeit damals, man wäre dort geblieben, in die Pflicht gestellt, und hätte den Hof weitergeführt.
"Der Strukturwandel in der Landwirtschaft war eines meiner Themen"
Glück: Ja, gleichzeitig waren es aber schon die Zeiten des beginnenden Strukturwandels in der Landwirtschaft. Mir persönlich war auch damals klar, dass ein Betrieb mit 15 Hektar, der damals noch Vollerwerbsbetrieb war, sich auf Dauer nicht tragen wird. Aber nicht deswegen bin ich weggegangen. Der Wandel, der hatte damals schon begonnen, der Strukturwandel in der Landwirtschaft, und das war dann eines meiner Schwerpunktthemen in der Arbeit, die Entwicklung in der Landwirtschaft und im ländlichen Raum. Das war meine erste große, wichtige Erfahrung mit den ganzen Begleiterscheinungen, politischen Debatten, menschlichen Begleiterscheinungen des Strukturwandels in der Landwirtschaft und im ländlichen Raum.
Wentzien: Also die Katholische Landjugend wurde auf Alois Glück aufmerksam, Sie besuchten Seminare der Jugend- und Erwachsenenbildung, und Sie sind ein Kollege, Herr Glück, denn Sie haben damals auch als Fachjournalist gearbeitet für die Verbandszeitschrift der Landjugend und dann für den Bayerischen Rundfunk. Jetzt habe ich das so ein bisschen verfolgt. Aus dem Landwirt wurde der Journalist. Wann und warum wurde aus dem Journalisten dann der Politiker?
"Wir können die Logik der betriebswirtschaftlichen Wirkung der Mechanisierung nicht außer Kraft setzen"
Glück: Wir hatten in der Landjugend ja uns ganz stark politisch engagiert. Wir waren in heftigen Debatten um eine neue Agrarpolitik, in der Auseinandersetzung mit dem Landwirtschaftsminister Hund, haben mit dem Bauernverband, mit der Wissenschaft… . Und in der gesamten Konstellation hat eine ganz große Rolle gespielt, der Konstellation dieser Debatten, der damalige Leiter des Landfunks im Bayerischen Rundfunk, der Dr. Erich Geiersberger. Erich Geiersberger hatte eine Konzeption entwickelt, wie man anstelle der Forderungen des damaligen EU-Agrarkommissars, die notwendige Antwort auf die Maschine und auf die notwendige Rationalisierung ist der große Betrieb, und natürlich aufhört bei uns unsere Agrarstruktur, hat er nüchtern, aber auch kreativ eine Antwort entwickelt, die hieß: Jawohl, wir können die Logik der betriebswirtschaftlichen Wirkung der Mechanisierung nicht außer Kraft setzen durch irgendwelche Sprüche oder sonst was. Aber wir können eine intelligentere Antwort geben, anstelle von nur Großbetriebe machen, nämlich eine gut organisierte überbetriebliche Zusammenarbeit der Landwirte.
Wentzien: Maschinenring.
Glück: Der Maschinenring. Später waren es die Erzeugerringe und andere Dinge mehr. Und dafür haben wir gekämpft. Und da kamen ja schon die vielen Berührungen mit der Politik, und von daher kam irgendwann, das war eigentlich alles nicht geplant, ich weiß heute gar nicht mehr genau, wie es sich entwickelt hat, halt der Vorschlag, ich sollte auf dem Landtag auf der Liste kandidieren. Und ich bin nur in den Landtag gekommen wegen der Besonderheit des bayerischen Wahlrechts. Denn in Bayern ist es so, dass bei der Landtagswahl die Zweitstimme man nicht einer Partei gibt, wie bei der Bundestagswahl, oben angekreuzt, sondern einer Person. Und ich war in der Partei unbekannt, ich hätte nie einen vorderen Platz bekommen. Ich war im Alphabet, ich glaube, auf Platz 24, irgend so etwas. Aber ich hatte die Unterstützung der Landjugend, ich war in den Bereichen ziemlich bekannt durch die Landfunkdebatten, denn ich war für die Landjungend häufig in Rundfunkdebatten, sehr kontroversen. Und plötzlich war ich bei der Wahl im Landtag, über die zweite Stimme. Ja, und so hat sich das Ganze politisch entwickelt.
Glück: Ich habe sicher einen starken Gestaltungswillen. Einfach so, was machen wir denn? Was können wir machen? Mir reicht es nicht zu sagen: Man müsste, man sollte, irgendjemand.
Spannungen und Spielräume. Der Kosmos CSU
Wentzien: Es gibt viele Titel, Herr Glück, die Ihnen zugeschrieben werden. "Graue Effizienz" ist einer davon, "Strippenzieher" ist der andere, "Grübler" und "Gewissen der Partei". Welcher sagt Ihnen zu?
Glück: Mein Gott, das sind alles Schablonen.
Wentzien: Suchen Sie sich einen aus!
Glück: Ich habe sicher die Art – und das habe ich auch schon in der Landjugend gelernt –, ich sehe Entwicklungen. Und mich haben schon immer Zukunftsentwicklungen interessiert. Und ich frage mich dann: Was sind eigentlich die Wirkkräfte, was bewirkt diese Veränderung damals in der Landwirtschaft, was die Technik, die Mechanisierung? In der Landjugend hatten wir formuliert, und das ist auch heute noch in vielen Bereichen, drei Schritte: sehen, urteilen, handeln. Und sehen ist das eine. Und man will ja aber nicht stehenbleiben. Und es war nie meine Sache zu sagen, aha, so ist es, und dann urteilen, und dann zu sagen: Man müsste, man sollte. Sondern ich habe gewissermaßen einen Trieb in mir: So, was machen wir denn? Was können wir machen?
Wentzien: Nachdenker, Macher.
"Aus der Fraktion kam sehr stark, ich sollte das machen"
Glück: Ja, beides miteinander, würde ich sagen. Ich habe sicher einen starken Gestaltungswillen, einfach so, was machen wir denn? Was können wir machen? Mir reicht das nicht zu sagen: Man müsste, man sollte, irgendjemand.
Wentzien: Warum ist der offizielle Titel des Ministerpräsidenten nicht darunter? Oder des Ministers?
Glück: Ich war ja dann Staatssekretär im Umweltministerium, Franz Josef Strauß hat mich da geholt, obwohl wir in vielen Dingen, denke ich, nicht von vornherein einer Meinung waren.
Wentzien: Auf Herrn Strauß kommen wir gleich, ja.
Glück: Ja, und dann brauchte die Fraktion einen Fraktionsvorsitzenden. Franz Josef Strauß wollte eigentlich jemand anderen aus dem Kabinett und die Fraktion wollte die betreffende Person nicht. Aus der Fraktion kam sehr stark, ich sollte das machen. Mich hat das durchaus gereizt, weil es eben nicht nur Festlegung auf ein Fach ist. Und dann habe ich festgestellt, dass ich als Fraktionsvorsitzender solche Gestaltungsmöglichkeiten habe! Wenn ich mehr für Fachpolitiker bin, kann ich am meisten gestalten als Minister. Wenn ich aber insgesamt Entwicklungen beeinflussen will, ist ein Fraktionsvorsitz so gesehen viel attraktiver von den Möglichkeiten her. Du hast nicht den sozialen Status von einem Minister, aber von den Wirkmöglichkeiten, das war mir wichtiger.
Wentzien: Also, die zweite Reihe ist manchmal wirkmächtiger als die vermeintlich erste Reihe. Das war Ihre Entscheidung. Darum …
"Gestalterisch war ich in der ersten Reihe"
Glück: Ja, gestalterisch, sage ich mal, war ich in der ersten Reihe. Von der Sozialordnung her, also der Hierarchie, in der öffentlichen, ist es nicht ein Staatsamt.
Wentzien: Ich habe jetzt eine Reihe von Namen der ersten Reihe und ich möchte gerne, dass Sie jeweils zu den Genannten ganz kurz was sagen. Franz Josef Strauß, was war das für ein Mensch?
Glück: Eine ungewöhnliche Kombination von hohem Intellekt und gleichzeitig eben auch sehr emotional.
Wentzien: Edmund Stoiber, was ist das für einer?
Glück: Edmund Stoiber ist leidenschaftlich Politiker und hatte eine Phase, wo er die kontroverse Debatte geliebt hat, und dann eine Phase, wo er eigentlich sich mehr umgeben hat mit Leuten, die ihn bestätigt haben.
Wentzien: Theo Waigel?
Glück: Theo Waigel ist ein nachdenklicher Mensch, ein Stück auch Philosoph und aber auch einer, der gleichzeitig schon mit den Realitäten der Politik gut umgehen kann, was die konkreten Bedingungen sind.
Wentzien: Günther Beckstein, der Protestant?
Merkel und Seehofer "haben eine ganz gegensätzliche Prägung"
Glück: Der Günther ist von Haus aus zunächst einmal ein bewusster Christ, evangelischer Christ. Und der Günther liebt den Widerspruch, das so ein bisschen eigenständig auch Sich-Demonstrieren, aber gleichzeitig ein sehr verlässlicher Mensch.
Wentzien: Peter Gauweiler?
Glück: Der Peter Gauweiler ist ein sehr starker Denker, er ist ein genialer Volkstribun und liebt das Solo.
Wentzien: Jetzt habe ich noch zwei, die können Sie zusammen abhandeln, und interessant wäre auch, was Sie sagen zu der Beziehung der beiden. Das eine ist Angela Merkel, die einzige Frau in dieser genannten Reihe, und das andere ist Horst Seehofer. Wie geht es den beiden denn gerade so untereinander?
Glück: Wie es ihnen aktuell untereinander in ihrer Befindlichkeit geht, weiß ich nicht so genau. Beide haben natürlich eine ganz gegensätzliche Prägung und müssen einen gemeinsamen Nenner finden. Angela Merkel ist ein analytischer Kopf, sehr präzise im Denken, und Angela Merkel ist die emotionale Komponente weitgehend fremd. Sie kann es ja selbst nicht vermitteln. Und beim Horst Seehofer ist es genauso andersherum, er hat ein unglaubliches, geradezu genialisches Gespür für Stimmungen, für Strömungen, für Entwicklungen. Und von daher haben beide einen ganz unterschiedlichen Zugang zu den Themen und müssen miteinander einen Nenner finden. Und das, denke ich, ist gelegentlich schon allein von daher gesehen schwierig.
Wentzien: Aber es ist am Besser-Werden. Man hat ja zum Teil jetzt Treffen der beiden gesehen und die Gesichtszüge verfolgen können, also, da war nicht so sehr viel Sympathie jeweils für den anderen, auch in Anerkenntnis seiner Andersartigkeit. Ist es gerade so am Besser-Werden, dieses binnenklimatische Miteinander?
"Was soll jetzt deine Art von Konflikt mit Angela Merkel?"
Glück: Ich denke, im Prinzip war das immer so etwas, wie man sagt, Vernunftehe. Und ich habe dem Horst Seehofer im Rahmen der Flüchtlingsdebatte mal sehr direkt gesagt: Sag mir mal, was soll jetzt deine Art von Konflikt mit Angela Merkel? Da hat er berichtet von seinen fünf unterschiedlichen Phasen der engen Zusammenarbeit, schon damals im Bundeskabinett und so weiter. Und der Horst Seehofer oder beide wissen, dass man sich wechselseitig braucht.
Wentzien: Danke für die diplomatischen Einschätzungen der aktuellen Situation zwischen diesen beiden Persönlichkeiten! Und jetzt bleiben wir bei Ihrem Verhältnis, Ihrem Binnenverhältnis zu der historischen Figur Franz Josef Strauß. Sie haben es erwähnt, er hat Sie quasi an die Spitze der CSU-Landtagsfraktion geholt. Sie haben ihn auch gerade eben als so ganz anders als Sie selber beschrieben. Wie muss ich mir diese Konstellation vorstellen, Franz Josef Strauß und Alois Glück? Hat ein Ministerpräsident mit dieser Kraft überhaupt so eine Landtagsfraktion als eigenständige, vom Volk gewählte Parlamentariergruppe akzeptiert, und Sie an der Spitze?
Glück: Also, einmal … Er hat mich nicht geholt, aber er hat dann akzeptiert, dass die Fraktion mich wollte. Nun war diese gemeinsame Zeit ja nicht so lang. Es hat am Anfang gleich Irritationen gegeben, ganz massive. Aber man konnte mit ihm ernsthaft diskutieren. Strauß hatte eine unglaublich rasche Auffassungsgabe, deswegen war er gefürchtet in den Kabinettssitzungen, weil er immer gleich präzise Fragen gestellt hat. Aber wenn man gut argumentiert hat, hat er zugehört und hat aufgenommen. Und von daher sind wir da ganz gut zurechtgekommen. Nur bin ich im Juni Fraktionsvorsitzender geworden und im Oktober ist er ja gestorben ganz plötzlich. Aber man lebt dann natürlich einfach in Spannungsverhältnissen. Wenn man sich in der Politik in so eine Position begibt oder gewählt wird, aber das wird man ja nur, wenn man auch will, dann muss man sich darüber im Klaren sein, dass man auch in menschlichen Spannungsverhältnissen lebt, in Spannungsverhältnissen von Strömungen in der Partei. Und das muss man aushalten und lernen, damit umzugehen, oder man soll es bleiben lassen.
Wentzien: Ich möchte jetzt gerne mal mit Ihnen zusammen in so eine Kammer reingucken, da sitzt der Franz Josef Strauß auf der einen Seite des Tisches und Sie auf der anderen, als Fraktionschef. Ist er dann unter die Decke oder … Wie war der temperamentsmäßig?
"Strauß hat Argumente schon aufgenommen"
Glück: Im unmittelbaren Gespräch ist er kaum unter die Decke gegangen, das war mehr in der allgemeinen Debatte. Er konnte dann schon zuhören. In dem Moment, wo er gemerkt hat: Hoppla, da gibt es Argumente. Und ich glaube, dass in der Situation, die sich dann entwickelt hat, er auch akzeptiert hat mich als Fraktionsvorsitzenden. Ganz wesentlich war, dass er dann in der Debatte um Tschernobyl, um die Kernenergie gemerkt hat, dass ich gute Argumente habe. Denn ich habe damals ja eine Position vertreten: Wir können auf Dauer nicht nur auf die Kernenergie setzen. Und wir hatten in dem Gesamtkomplex ja etwas, das hat mich belastet wie nichts anderes in der Politik, das waren die fürchterlichen Auseinandersetzungen über die Wiederaufarbeitungsanlage für Brennstäbe in Wackersdorf. Und mich hat es deswegen so belastet, weil ich durch sehr intensive vertrauliche Gespräche mit dem damaligen Chef der Bayern-Werke allmählich zu der Erkenntnis kam: Von der Sache her ist das Ding nicht mehr notwendig, weil weltweit weniger gebaut wird, aber auch mehr Uran gefunden wird. Und gleichzeitig, mit dieser Erkenntnis sehen, dass quer durch die Familien in der Oberpfalz ein Riss geht, dass wir massiv Polizei einsetzen in bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Und zu wissen gleichzeitig, eigentlich ist das nicht mehr zwingend notwendig … Er war aber großer Verfechter. Und nun kommt wieder ein ganz interessanter Aspekt: Ich, durch eine diverse Diskussion, schreibe ich Franz Josef Strauß einen Brief. Und schreibe ihm: Diese Anlage wird nie in Betrieb gehen. Obwohl das eines seiner Prestigeprojekte war, aus den und den Gründen. Da bin ich neugierig, wie er reagiert – er hat überhaupt nicht reagiert. Er hat weder negativ noch sonst irgendwo, er hat es mir aber offensichtlich nicht übel genommen. Ich habe es ihm dargelegt, warum … Das ist wieder auch der Strauß, der ungeheuer emotional sein konnte, deswegen sich oft selbst im Weg gestanden ist durch die Außenwirkung – ah, unbeherrscht –, und auf der anderen Seite der Strauß, der Argumente schon aufgenommen hat.
Wentzien: Weil sie seine Macht gekostet hätten vielleicht.
"Strauß war schon ein ungewöhnlich intellektueller Mensch"
Glück: Das weiß ich nicht. Ich glaube nicht, nein. Der ist natürlich schon ein ungewöhnlich intellektueller Mensch gewesen, ganz scharfe Auffassungsgabe und ständige Lernbereitschaft. Bei Tschernobyl hat er begonnen, Literatur zu lesen über Radioaktivität und sonst etwas. Und deswegen hat er immer so präzise Fragen gestellt und deswegen war er auf dem Kabinett so gefürchtet, weil er gemerkt hat: Die schwimmen da, die machen alle allgemeines Blabla. Da war es schon vorbei.
Wentzien: Gibt es heute noch so einen Ministerpräsidenten, der so viel weiß über die Beritte seiner Politik?
Glück: Also, erstens ist es natürlich sehr viel komplizierter noch geworden als früher. Die ganze gesellschaftliche Entwicklung, politische Entwicklung. Zum anderen, was sehr viel anstrengender geworden ist für Politik, ist diese unglaubliche Beschleunigung über die Entwicklung der Medien. Der erste Schub hat begonnen mit dem Privatfernsehen, mit den privaten Medien, die ganze Elektronik und jetzt natürlich das Netz. Und diese Beschleunigung, die macht es ja ganz schwer, zu notwendigen abwägenden Entscheidungen zu kommen, und das Tempo wird immer größer, Sachverhalte komplexer. Es kommt letztlich auch nicht darauf an, dass der Einzelne möglichst viel selbst weiß, entscheidend in all diesen Positionen ist die Frage der Führungsqualität. Fördere ich Menschen, akzeptiere ich Menschen, die auch widersprechen? Und diese Frage der Menschenführung ist eigentlich für erfolgreiches Führen und Gestalten auch in der Politik eigentlich von ausschlaggebender Bedeutung.
Wentzien: Würden Sie uns Nachgeborenen sagen, die Sie als Zeitzeugen danach fragen, ob Franz Josef Strauß Führungsqualitäten hatte?
"Strauß hatte gleichzeitig die Begabung zum Volkstribun"
Glück: Ja, natürlich hatte er Führungsqualitäten und halt mit all den Facetten. Strauß war gleichzeitig eine dieser Begabungen, hoch intellektuell und gleichzeitig die Begabung zum Volkstribun. Der geniale Vereinfacher. Jetzt mag man sagen, Mensch, das kann man doch so nicht sagen …
Wentzien: Bräuchte man heutzutage so einen?
Glück: Ein Stück weit ja. Es war nämlich nicht ein Vereinfachung im Sinne des Ignorierens von Fakten, wie wir es jetzt erleben bei den populistischen Strömungen, sondern sehr wohl Wissen um die Fakten, aber mit der genialen Möglichkeit der Vereinfachung. Oder Strauß hat Reden gehalten im Bierzelt mit langen Passagen, die die Leute dann wieder gelangweilt haben, weil ganz fachlich, und dann kam wieder so die große manchmal sehr demagogische Vereinfachung, dann kam wieder das Element des Volkstribuns. Ich habe eigentlich kaum eine zweite Person je kennengelernt, die beide Dinge so miteinander verbunden hat wie Strauß.
Wentzien: Jetzt müssen wir ganz kurz für alle, die nicht kontinuierlich bei der bayrischen Geschichte und Ihrer Lebensgeschichte dabei waren, die Lücke füllen. Als Franz Josef Strauß starb, wurde Max Streibl Ministerpräsident und Theo Waigel CSU-Chef und Sie unterlagen als stellvertretender Parteichef Edmund Stoiber, der wurde es nämlich. Und damals hieß es, dass eine konzertierte Aktion einer generell hemdsärmeligen Partei dafür gesorgt hat, dass Sie nicht zum Zuge gekommen sind. Ist das eine richtige Schilderung?
"Stoiber hat getrickst in der Geschichte"
Glück: Na ja, es war in der Tat ja so, dass es auch zwischen Edmund Stoiber und mir besprochen war, dass ich als Stellvertreter kandidiere. Und er hat es sich dann aber irgendwann anders überlegt und hat die Kurve gesucht. Er hat dann mit vielen anderen halt da sehr intensiv für gearbeitet. Okay, das hat nicht verhindert, dass wir später intensiv zusammengearbeitet haben, aber er hat getrickst in der Geschichte.
Wentzien: Aber wenn man so ungleich ist und diese persönliche Geschichte miteinander in den Kleidern hat und dazu verdammt ist zur Kooperation, wie muss ich mir das vorstellen?
Glück: Was heißt verdammt? Ich meine, wir haben eine gemeinsame Aufgabe und man muss sich ja doch über die Vielfalt menschlicher Strukturen im Klaren sein. Das ist ja ganz gut immer in der eigenen Selbsterkenntnis. Und ich bin hoch misstrauisch immer gewesen gegen Menschen zum Beispiel, die behaupten, sie würden alles nur aus purem Idealismus machen. Entweder man kennt sich zu wenig oder vielleicht zählt er tatsächlich zu den Vollkommenen auf dieser Erde, aber sehr wahrscheinlich ist es nicht. Und auf der anderen Seite, der sagt, ja, es gibt ganz unterschiedliche Strukturen von Menschen und darauf muss man sich einfach einstellen und halt einigermaßen vernünftig damit umgehen.
Wentzien: Herr Glück, ein bisschen konkreter bitte! Wie hat das funktioniert zwischen Ihnen beiden? Ich höre, dass Stoiber immer derjenige ist, der Ideen hatte, und Sie hatten Bedenken. Das ist ja auf Dauer relativ anstrengend.
"Mein Job war oft, schwierige Dinge in der Fraktion umzusetzen"
Glück: Nein, so war es natürlich nicht. Das ist eine sehr falsche Sicht der Dinge. Einmal will ich doch für mich in Anspruch nehmen, dass ich sehr viele Ideen entwickelt habe. Und wir haben uns auch sehr viel darüber ausgetauscht. Es gab unterschiedliche Phasen in der Zusammenarbeit, aber wir hatten einen großen gemeinsamen Nenner in jedem Fall unter dem Aspekt Innovation und Entwicklungen vorantreiben. Und eines der großen Verdienste von Edmund Stoiber ist: Er hat begonnen, wo in Bayern die Stimmung da war, CSU, verdient und erfolgreich für Bayern, aber allmählich müde und verbraucht. Und Edmund Stoiber, gestartet als Ministerpräsident in dieser Stimmungslage, er hat zugehört, wir haben Gespräche geführt und er hat es vor allen Dingen auch vorangetrieben mit Leuten aus der Unternehmensberatung, McKinsey, Roland Berger, mit Wissenschaftlern, mit Leuten aus der Wirtschaft, mit der Frage: Was wird die Entwicklung der nächsten zehn Jahre voraussichtlich prägen? Und da war deren Antwort: die EDV und die Biotechnologie. Gesagt, okay, jetzt fallen die Standortentscheidungen, was sich in Deutschland entwickelt. Wir hatten aber kein Geld dafür. Daraufhin kam es zu einer Entscheidung, die wir da durchgekämpft haben miteinander, dass wir nämlich Staatsbeteiligungen verkauft haben, Energie hat damals noch viel Geld gebracht, und damit diese Zukunftsoffensiven Bayern. Das hat Bayern entscheidend vorangebracht. Und mein Job war ja oft immer wieder, so schwierige Dinge in der Fraktion umzusetzen. Wir waren dann wechselseitig aufeinander angewiesen. Er war darauf angewiesen, dass die Fraktion mitgeht. Und das waren wichtige gestalterische Dinge. Auf der anderen Seite hat er natürlich immer wieder mal so in der zweiten oder späteren Phase als Ministerpräsident Reformideen, wo ich gesagt habe: Moment, das geht so nicht. Und da er die Fraktion gebraucht hat, wir haben sehr viel miteinander korrespondiert, und ich in der Fraktion starken Rückhalt hatte, war er auch auf mich angewiesen. So gesehen, da darf man in dem Geschäft nicht naiv sein, da lebt man sonst in so einer Funktion nicht lange.
Glück: Das Neue in der Politik kommt ja nie aus den Parteien. Das Neue entsteht in gesellschaftlichen Gruppierungen, das ganz Neue beginnt meistens zunächst mit Außenseitern.
Offenheit statt Selbstbezogenheit
Wentzien: Herr Glück, im letzten Sommer, im Sommer 2016 müssen Sie wieder mal in den Bergen gewesen sein. Denn es gibt seither ein Papier von Ihnen mit der Überschrift: "Politische Verantwortung in dieser Zeit epochaler Veränderungen". Sie machen sich Sorgen um die CSU. Warum?
Glück: Ja, auch. Ich mache mir auch andere Sorgen zur gesellschaftlichen und politischen Entwicklung. Aber es war ja damals natürlich jetzt die ganze Zeit sehr intensiv auch Auseinandersetzungen, den richtigen Weg in der ganzen Thematik, der plötzlichen großen Zahl von Flüchtlingen und Migranten. Die CSU ist natürlich als Volkspartei mit einer Bandbreite wie keine andere Partei auch in einer besonderen Weise in einer inneren Spannung, und gleichzeitig war ja nun Bayern, weil die Menschen vom Süden her kommen, das Land, das es als erstes zu bewerkstelligen hatte. Ja, und meine Sorge war dabei, ist zum Teil immer noch, dass man bei allem, was Politik abwägen muss, vom Grundsätzlichen her, aber auch in dem, wo sind Handlungsmöglichkeiten und die Grenzen? Ja, wo ich schon auch die Sorge hatte, dass zu sehr das rein Pragmatische und Stimmungsmäßige den Kurs bestimmen könnte. Und von daher ist immer wieder auch diese inhaltliche Debatte notwendig. Und das habe ich unter anderem in dem Papier mal versucht, darzustellen.
Wentzien: Und mehr als das. Sie haben in diesem Papier gesagt, dass Parteien – und ich meine, Sie meinen auch die CSU – immer mehr geschlossene, nur mit sich selbst beschäftigte Einheiten sind. Was hilft dagegen? Was würde an der Stelle die CSU, wenn sie denn auch so ein geschlossener Körper ist, wieder öffnen für frische Luft?
"Das ganz Neue beginnt meistens mit Außenseitern"
Glück: In erster Linie ist es ganz wichtig, dass die Partei offen bleibt, und das war immer ihre ganz große Stärke, für Verwurzelungen in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Gruppen. Das Neue in der Politik kommt ja nie aus den Parteien. Das Neue entsteht in gesellschaftlichen Gruppierungen, das ganz Neue beginnt meistens zunächst mit Außenseitern. Ob eine Partei kreativ ist, hängt ausschließlich davon ab, ob sie offen genug ist, Verbindung genug hat zu Entwicklungen in der Gesellschaft oder in Fachbereichen, über Menschen, die sich in beiden Bereichen bewegen. Je hektischer Politik wird, mehrere Dinge auch medial beschleunigt werden, umso mehr besteht offensichtlich die Gefahr, dass eben die Parteien nur noch mit dem politischen Betrieb und dem Mandatsträger beschäftigt sind, von daher vielleicht auch ein Stück Entfremdung passiert. Und ich habe schon den Eindruck, dass auch die CSU, deren ganz große Stärke immer in besonderer Weise die Verwurzelung in der Bevölkerung in verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, im Sozialen, in Umwelt und wo auch immer war, dass das nachgelassen hat. Hängt aber wahrscheinlich auch damit zusammen, weil wir uns zunehmend schwer tun, junge, gute Leute aus solchen gesellschaftlichen Entwicklungen für die Politik gewinnen zu können, weil Politik immer weniger Ansehen hat.
Wentzien: Bleiben wir mal bei der CSU und bleiben wir bitte mal beim Thema Flüchtlingspolitik. Das war ja der Anlass im vergangenen Sommer, dass Sie das Papier geschrieben haben. Was müsste an der Stelle passieren? Denn Sie haben es ja benannt. Bayern war das Land, das immense Leistungen zur Unterbringung und Aufnahme der Flüchtlinge quasi geliefert hat; Bayern ist aber das Land, das politisch instrumentalisiert durch die CSU natürlich auch in eine sehr bestimmte Richtung ging. Horst Seehofers Forderung nach der Obergrenze ist ja noch nicht weg, sondern sie ist weiterhin da. Was, würden Sie jetzt sagen an der Stelle, muss passieren, wenn Sie dazu aufrufen, dass die CSU beispielsweise auch Rat von außen aufnehmen muss, genau bei diesem Thema?
"Die Außenwahrnehmung ist eine ganz andere als die Wirklichkeit hier"
Glück: Also, einmal hat kein anderes Land und auch keine andere Regierung in der Sache so viel geleistet wie Bayern, auch in den Maßnahmen. Und ich habe gelegentlich zu Horst Seehofer und anderen gesagt: Ihr bringt es noch fertig, mit euren Konfliktstrategien mit der CDU, dass das alles überdeckt wird. Die Außenwahrnehmung ist eine ganz andere als die tatsächliche Wirklichkeit hier. Ich kenne auch von Horst Seehofer keine einzige Formulierung, wo er abwertend gegenüber Flüchtlinge geredet hätte, im Gegensatz zu einigen anderen Akteuren in der CSU.
Wentzien: Na, er hat aber abwertend über Angela Merkel als Kanzlerin gesprochen und ihr ja indirekt dadurch auch bei der Flüchtlingspolitik genau dieses eben in die Kleider gehängt: Sie hätte überzogen an der Stelle, sie hätte die Leute nicht mitgenommen und er müsse jetzt damit fertig werden und er könne das nicht akzeptieren.
Glück: Das ist eine der Schwierigkeiten, die sich die er sich oder der CSU dann selbst eingebrockt hat. Wie einer formuliert hat: Zuerst haben wir die Leute auf die Bäume gejagt und jetzt müssen wir sie wieder runterholen. In der Tat war es ja so, dass es natürlich in dem Herbst viele Irritationen gegeben hat, aber praktisch ab Ende 2015 und in 2016 hinein real nicht mehr viel Unterschied da war in den Positionen, wenn wir mal dieses Reizthema Obergrenze wegnehmen, auch was in Berlin auf den Weg gebracht wurde. Von daher finde ich, dass, was in der Sache gemacht wird vonseiten der CSU und der Landesregierung, sehr stimmig ist, aber leider Gottes auch immer wieder dann es in der Sprache von einigen Akteuren Positionen gab, die nicht akzeptabel sind. Und das ist etwas, was innerparteilich aufgearbeitet werden musste.
Wentzien: Hat Seehofer irgendwann mal überzogen? Also zum Beispiel, als er Merkel vorgeworfen hat, sie stehe für eine Herrschaft des Unrechts?
"Die Sache ist jetzt auf einem guten gemeinsamen Kurs"
Glück: Ja, er hat aus meiner Sicht ganz sicher überzogen, und vor allem auch durch die Art der Auseinandersetzung. Bei aller Meinungsverschiedenheit in der Sache. Und das ist ja ein Teil der Probleme, die man sich damit selbst eingehandelt hat in der eigenen Wählerschaft.
Wentzien: Und was sagt der Politiker, Nachdenker Alois Glück? Was müsste von der Ideengeschichte her jetzt bei dem Thema Flüchtlingspolitik besprochen werden?
Glück: Ich glaube, dass man jetzt in der Sache auf einem guten gemeinsamen Kurs ist. Vor allen Dingen auch, dass man sich so mit den Entwicklungen international auseinandersetzt, dass man nicht noch mal so überrascht wird, wie es mit dem plötzlichen Zustrom im Herbst 2015 passierte. Ich halte für ganz wichtig – und hier hat Gerd Müller, der Entwicklungsminister aus den Reihen der CSU, auch ein ganz großes Verdienst –, dass man jetzt konsequent genauso miteinbezieht, neben der Begrenzung, die Bekämpfung der Fluchtursachen, beginnend von der Situation in den Flüchtlingslagern als unmittelbare Hilfe, bis hin zu dem, was jetzt genannt wird ein Pakt mit Afrika. Auch nicht für die, sondern mit Afrika. Was einen langen Atem braucht. Und jetzt, finde ich, ist man in einer ganz guten, stimmigen Politik, aber leider Gottes hat es auch Entwicklungen gegeben, wenn ich dann gleichzeitig Akteure bei uns gefragt habe, wie hättet ihr denn bitte sehr die Leute an der österreichischen Grenze aufgehalten? Mit Tränengas und Prügel? Nein, nein, natürlich nicht! Da gab es einige Ungereimtheiten von mehreren Akteuren.
Wentzien: Ist Politik – Sie haben es ja vorher auch mit Franz Josef Strauß beschrieben – aufgrund eines höheren Medienfrequenztempos, einer höheren Dichte und einer größeren Komplexität zu kurzatmig in dieser Zeit, bei diesem Thema?
"Wir stecken in einer neuen Etappe der Globalisierung"
Glück: Ich würde nicht sagen zu kurzatmig. Aber wir haben zu lange verdrängt, dass nach meiner Einschätzung wir in einer neuen Etappe der Globalisierung sind. Ich meine, wir haben jetzt Bayern in besonderer Weise als Exportland, von Globalisierung waren wir nur die Gewinner. Und nicht zuletzt wegen oder auch vor allem – anders formuliert –, vor allem wegen der Wirkung des Internets mit all seinen Verzweigungen und Ausprägungen werden wir von Woche zu Woche mehr eine Schicksalsgemeinschaft. Und wir können nicht mehr die ruhige Insel sein. Wenn die Bürgerinnen und Bürger keine für sie verständliche Erklärung bekommen über die Ursachen, egal, in welchem Bereich, gibt es immer zwei Reaktionsmuster: entweder Verschwörung oder Sündenbock. Und zum Teil ist eben dann leider auch die Angela Merkel als Sündenbock gemacht worden, als Erklärungsmuster, wenn die Leute den Eindruck gewinnen: Eigentlich müssten wir die Schwierigkeiten gar nicht haben, das ist irgend so ein Betriebsunfall aus Versagen einer Person. Dann motiviere ich die Leute auch nicht, anstrengende Wegstrecken mitzugehen. Und die Wegstrecken, die vor uns sind, sind anstrengender als die Wegstrecken der Vergangenheit.
Glück: Der Papst ist mutig und unkompliziert, und in einer Sprache, die jeder versteht. Und von daher gesehen, ist katholische Kirche wieder politischer geworden.
Angstfreies Reden
Wentzien: Herr Glück, hat eigentlich die CSU ein Problem mit der Kirche oder hat die Kirche ein Problem mit der CSU?
Glück: Beides. Nicht so absolut, aber natürlich ist da Spannung entstanden und ein Stück Entfremdungsprozess. Aber so Entwicklungen wie Flüchtlinge oder andere soziale Nöte sind natürlich der Ernstfall des C. Und im Kern ist es immer die Frage der Menschenwürde. Und an dem ist dann die Frage: So, wie gehen wir mit dem Menschen um? Der Flüchtling ist ja nicht eine Nummer. Oder andere Nationalität und etliche Dinge mehr. Und im Zusammenhang mit dem ganzen Thema Flüchtlinge und Migranten sind einesteils sehr, sehr unterschiedliche Stimmungen in den Kirchen, es ist nicht so, dass die Kirche dort geschlossene Welt wäre; aber es ist klar, die Kirche muss der Anwalt sein, gegebenenfalls auch ein ganz unbequemer Anwalt, wenn es um grundsätzliche Fragen der Solidarität geht, der Gerechtigkeit oder der Menschenwürde. Politik ist am Schluss immer auch in hohem Maße Abwägung, weil, es wird konkret in der Umsetzung. Und das sehen innerhalb und außerhalb der Kirche manche nicht, die ganz stark von ihrer Motivation her geprägt sind. Die Politik muss die Spannungen auch aushalten, aber da habe ich schon auch den Appell, dass Menschen aus den Kirchen oder aus anderen Gruppierungen sehen, dass die Politik noch mal andere Dimensionen der notwendigen Abwägung hat. Und da sind manchmal ethische Konflikte in sich die Thematik, wie jetzt bei Afghanistan.
Wentzien: Für die großen Linien im Zusammenspiel mit den Kirchen waren in der CSU lange Zeit zwei Männer zuständig. Einer ist bei uns zu Gast, das ist der Katholik Alois Glück, und der Protestant Günther Beckstein ist der andere. Sie waren als Chef der Grundsatzkommission der Partei, Sie waren als Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken wirkmächtig. Günther Beckstein war es als bayrischer Innenminister. Jetzt sind Sie beide, sagen wir mal, nicht mehr in diesen aktiven politischen Positionen da, und ehrlich gesagt ist da niemand auf Ihren Plätzen hingerückt. Wer sorgt jetzt für ein Band zwischen Partei und Kirche?
"Aus den Kirchen kommen immer weniger Menschen in die Politik"
Glück: Ja, das kann man glaube ich nicht so auf einzelne Personen einengen. Die Kommunikation ist aber in beiden Fällen, katholisch wie evangelisch, schon ein Stück dünner geworden. Wir haben jetzt natürlich ein großes, ja, Problem, dass aus den kirchlichen Gemeinschaften immer weniger Menschen ins politische Engagement gehen. Wir haben auch in den Kirchen lange Zeit eine Strömung, wo auch quasi Spiritualität sehr stark individualistisch oft geworden ist. Und nicht mehr so sehr das gesellschaftliche und politische Engagement.
Wentzien: Sie setzen sehr auf den Papst.
Glück: Der Papst ist jedenfalls einer, der … Bei Johannes XXIII. haben wir gesagt: Der hat die Fenster geöffnet für frische Luft. Dieser Papst bringt eine andere Weltsicht, das ist ganz wertvoll für die katholische Kirche, nicht mehr nur europäisches Denken. Und der Papst ist mutig und unkompliziert, und in einer Sprache, die jeder versteht. Von daher gesehen, ist katholische Kirche wieder politischer geworden.
Wentzien: Die größten Gefährdungen in der katholischen Kirche, sagen Sie, kommen nicht von außen, sondern kommen von innen durch eine auch Sehr-mit-sich-selbst-Beschäftigtheit und eine Unwahrhaftigkeit und Intransparenz. Frische Luft haben Sie erwähnt auch in dem Bezug und den Papst auch. Schafft der das da in Rom, wenn der da so angstfrei zu Gange ist?
"Es findet ein massiver Kulturkampf statt in Rom"
Glück: Ich bin sehr bei Papst Franziskus, auch in dem Sinne, dass er Prozesse freisetzt. Wir haben ja momentan Stimmen sowohl von den sogenannten Liberalen wie den quasi Konservativen, er müsste Entscheidungen treffen. Dann werden es wieder Entscheidungen aus der Obrigkeit heraus. Wirkliche Veränderungen brauchen eine Wachstumsphase. Aber natürlich findet da auch ein massiver Kulturkampf statt in Rom. Aber es wirkt befreiend, dass jetzt, wer nur ein bisschen Mut hat, angstfrei geredet werden kann. Aber damit ist noch nicht die Welt gleich verändert. Und die größte Schwäche in meiner Kirche, der katholischen Kirche, ist, dass es eben eine so in sich geschlossene Gesellschaft ist. Das heißt, Entscheidungen werden kraft Amt beansprucht, aber es sind wenige transparent im Weg der Entscheidungsfindung, den es ja da auch gibt. Und meine Erfahrung ist: Wo es nicht definierte, nachvollziehbare Wege der Entscheidungsprozesse gibt und Begründung für die Entscheidung, dann entwickelt sich sehr viel unterirdisch.
Wentzien: Bräuchte man einen Papst für die CSU?
"Die Verantwortung für die Nachkommen, das ist die Herausforderung"
Glück: Das glaube ich wiederum nicht. Denn die Debatte findet statt in der CSU.
Wentzien: Ich möchte mich ganz herzlich bei Ihnen bedanken und schließe mit einem Wort, das Sie Ihren beiden Enkeln gewidmet haben, und zwar als Vorwort für Ihr Buch mit dem Titel "Warum wir uns ändern müssen". Und Sie sagen in diesem kleinen Vorwort: Wir werden außerordentliche Anstrengungen erbringen und weitsichtige, mutige und verantwortungsbewusste Veränderungen herbeiführen müssen, damit sie – diese beiden – und ihre Generation ähnliche Zukunftschancen haben, wie wir sie hatten. – Schaffen wir das, Herr Glück?
Glück: Es ist auf jeden Fall eine anstrengende Wegstrecke. Aber wir haben die Verpflichtung oder hätten die Verpflichtung. Und was wir eben leider Gottes zu wenig entwickelt haben, ist Zukunftsverantwortung. Wir leben ja heute, jetzt, und der Maßstab ist, was tut uns jetzt gut. Und ich halte für die größte ethische Herausforderung unserer Zeit, dass wir wieder lernen, dass wir für das, was wir akzeptieren oder tun oder nicht tun, nicht nur Maßstab, wie es für uns heute gut ist, sondern ebenso miteinbeziehen die Verantwortung für die Nachkommen und auch für die Lebenssituation der Menschen in anderen Regionen. Und letztlich, in einem Bild ausgedrückt, frage ich mich dann ja auch selbst: Woher nimmt ein Volk die Kraft, sich so zu verhalten wie Eltern, die um der Zukunft ihrer Kinder Willen auf das eine oder andere verzichten?
Wentzien: Danke schön.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
[*] Anmerkung der Redaktion: In einer ersten Version war nicht deutlich geworden, dass sich Glück in Sachen Republikaner gemeinsam mit Stoiber gegen den Ministerpräsidenten Streibl gewandt hatte.