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Alpträume der Nachriegszeit

"Krieg der Welten" hieß jenes legendäre Hörspiel von Orson Welles, das von einem Angriff von Außerirdischen handelte und bei seiner Ausstrahlung in den Vereinigten Staaten vor 70 Jahren eine Massenpanik auslöste. Hysterische Reaktionen ganz anderer Art verursachte in der jungen Bundesrepublik 1951 die Ursendung eines Hörspiels aus der Feder von Günter Eich, Lyriker, Mitbegründer der Gruppe 47 und wohl wichtigster deutscher Funkdramatiker der 50er und 60er Jahre. Nach über einem halben Jahrhundert ist sein Hörspiel "Träume" nun - nebst einer Neuinszenierung aus dem vergangenen Jahr - auch auf CD erhältlich - ein immanent politisches Werk. Und auf beklemmende Weise bis heute aktuell, meint Marcus Heumann, der Ihnen die CD-Edition vorstellt.

03.03.2008
    Am Donnerstag, dem 19.April 1951 begann das Hörspielprogramm des Nordwestdeutschen Rundfunks um 20.50 Uhr - etwas später als gewöhnlich. Anderthalb Jahre vor Beginn des regelmäßigen Fernsehbetriebs, als sich noch allabendlich die halbe Republik vor dem Radio versammelte, wollten die Hamburger Funkredakteure zumindest die Kinder schon im Bett wissen, ehe sie mit der Ausstrahlung eines Hörspiels begannen, dessen Provokanz ihnen wohl bewusst war. Doch was in den nächsten 70 Minuten aus den Radio-Lautsprechern schallte, versetzte auch erwachsene Hörer in Angst, Irritation und Wut:

    " Am 1. Juni 1949 wurde in Dortmund ein Kind mit zwei Köpfen und drei Armen geboren. Bei diesem Anlass wurde die Behauptung aufgestellt, die Missgeburten bei Menschen und Tieren hätten seit den Abwürfen von Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki und seit dem Atomversuch von Bikini zugenommen. Der zuständige Standesbeamte hat indessen lediglich die allerdings schwierige Frage zu entscheiden, ob eine oder zwei Geburten zu registrieren waren. "

    In fünf Träumen, geträumt von fünf fiktiven Personen auf fünf Kontinenten, verdichtete Günter Eich die Bedrohungen und Ängste, der die Mehrzahl der Deutschen sechs Jahre nach Kriegsende durch Verdrängung zu entkommen suchte. Gleichnishaft thematisieren Eichs Träume Flucht, Vertreibung, Krieg und die innere Leere des Menschen in einer konsumfixierten Gesellschaft. Exemplarisch der erste Traum, der in einem stockdunklen Güterwaggon spielt, voll gepfercht mit Menschen, die bereits so lange in der Finsternis dahinvegetieren, dass sie keine Erinnerung mehr haben, wer sie wann dort eingesperrt hat. Die bereits in der Dunkelheit geborene Generation kann mit den Erinnerungen der Alten an die Welt draußen nichts mehr anfangen, weil ihnen die Bilder zu ihren Begriffen fehlen. Plötzlich fällt durch ein Loch in der Waggonwand ein Lichtstrahl und öffnet den Blick auf eine schrecklich gewandelte Welt:

    " Uralter: Was siehst du?
    Uralte: Das sind keine Menschen mehr, wie wir sie kannten.
    Uralte: Nein, ich will nicht mehr hinaussehen. Es sind Riesen, sie sind so groß wie die Bäume. Ich habe Angst.
    Uralter: Wir wollen das Loch verschließen.
    Uralter: Ja, wir wollen es verschließen.
    Uralte: Gott sei dank, dass es wieder ist, wie vorher.
    Uralter: Es ist nicht wie vorher.
    Uralter: Seid mal still, merkt ihr nichts?
    Uralte: Was?
    Uralter: Etwas hat sich verändert.
    Uralte: Wir fahren schneller.
    Uralte: Ja, wir fahren schneller.
    Uralter: Was kann das bedeuten?
    Uralte: Ich weiß nicht was, aber bestimmt nichts Gutes.
    Uralte: Horch!
    Uralter: Es wird immer schneller.
    Uralte: Ja, es wird immer schneller.
    Uralter: Ich glaube, es geschieht ein Unglück. Hilft uns denn niemand?
    Uralter: He, wer denn? "

    Schon während der Ausstrahlung hagelte es Hörerproteste in der Telefonzentrale des NWDR, der damals ein Sendegebiet von Nordrhein-Westfalen über Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Hamburg bis Berlin bediente.


    " Leiter vom Dienst... ?/ Ja, wir haben da eben Ihr Hörspiel gehört von dem Eick / LVD: Eich ! / Kann man den Mann nicht einsperren? / LVD: (lacht) Das müssten Sie beantragen, nicht? / Das ist ja so trostlos! Die Zeiten sind so, dass die Bevölkerung hier ja eigentlich nervös genug ist! Ich kann Ihnen sagen, wir werden entsprechende Schritte unternehmen, bei den Zeitungen, dass so ein Kram vorher zensiert wird! / (anderer Hörer) Scheint mir höchste Zeit, dass das abgebrochen wird. Das ist ja haarsträubend, was sie einem da vorsetzen. Kinderverkauf, Kinderbetäubung um das Blut abzunehmen usw. das ist ja geradezu haarsträubend. Scheint mir höchste Zeit, dass die Polizei da mal einschreitet! "

    In der Tat: die Deutschen waren nervös. Im Sommer 1950, zur Entstehungszeit des "Träume"-Manuskriptes, hatte mehr als die Hälfte der befragten Bundesbürger auf die Frage "Machen Sie sich Sorgen, dass in diesem Jahr ein neuer Weltkrieg ausbricht?" mit Ja geantwortet. Hintergrund war der Stellvertreterkrieg der beiden Supermächte USA und UdSSR in Korea. Vielleicht auch deshalb übte der zweite Traum, der an einem nicht näher benannten Ort in Fernost spielt, eine besonders schockierende Wirkung auf die Hörer aus: In ihm verschachert ein Ehepaar sein sechsjähriges Kind an einen Greis, der an Blutarmut leidet:

    " Frau: Was ist, Tschang-du ?
    Kind: Der Herr hat so kalte Finger.
    Frau: Hab dich nicht. Das ist die Krankheit.
    Kind: Ich will weg.
    Mann: Still jetzt !
    (...)
    Frau: Zeig dem Herrn deinen Hals, Tschang-du !
    Herr: Hier ist die Schlagader, An-ling.
    Dame: Ja. Aber diesmal kann es das Mädchen machen.
    (...)
    Dame: Wir müssten dann über den Preis sprechen.
    Mann: Dreitausend.
    Dame: Zwei Fünf, wir können keine Überpreise zahlen.
    Mann: Nicht unter Dreitausend, ich habe feste Preise, ja. Außerdem müssen sie die ideellen Werte mit berechnen.
    Dame: Machen Sie sich nicht lächerlich. "

    Zwischen die Traumszenen montierte Eich appellative, moralisierende Texte, die sich gegen Vergessen und Verdrängung wandten.

    " Wacht auf, denn Eure Träume sind schlecht!
    Bleibt wach, weil das Entsetzliche näher kommt.
    Auch zu dir kommt es, der weit entfernt wohnt von den Stätten, wo Blut vergossen wird (...)
    Wenn es heute nicht kommt, kommt es morgen, aber sei gewiss. "


    Hörer: Können Sie wohl bitte sagen, wann Tanzmusik kommt? / LVD: Tanzmusik, Augenblick mal, ich guck mal nach. In zwei, drei Minuten. / Hörer: Dankeschön! / LVD: Bittesehr.

    Eich: " Wenn es mir gelänge, den Hörer aus seiner Sofaecke aufzuschrecken, so wäre mein Ziel erreicht. Insoweit würde ich auch Proteste begrüßen, eben als ein Zeichen der Beunruhigung. "

    So skizzierte Günter Eich schon vor der Ursendung seine Intention, die sich zweifelsohne erfüllt hat: Der brave Bürger vor dem Radio war schockiert - und mit ihm auch die deutschen Feuilletons, die einhellig Verrisse druckten. Erst 15 Jahre später wurde das Hörspiel vom NDR wiederholt - unterdessen war es von zahlreichen anderen deutschsprachigen Sendern neu inszeniert worden, teilweise ohne den besonders kritisierten zweiten Traum, für den Eich im Austausch einen neuen, sechsten Traum schrieb. Auch die wohl berühmtesten Sätze der "Träume" sind in der Urfassung noch nicht enthalten, Eich fügte sie in einer ersten Überarbeitung 1953 hinzu:

    " Nein, schlaft nicht, während die Ordner der Welt geschäftig sind!
    Seid misstrauisch gegen ihre Macht, die sie vorgeben für euch erwerben zu müssen !
    Wacht darüber, dass eure Herzen nicht leer sind, wenn mit der Leere eurer Herzen gerechnet wird!
    Tut das Unnütze, singt die Lieder, die man aus eurem Munde nicht erwartet!
    Seid unbequem, seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt! "

    So verdienstvoll es ist, dass dieser Hörspiel-Klassiker nun erstmals auf CD vorliegt, so muss doch auch Kritik an dieser Edition des hörverlages geübt werden. Das beginnt mit der tontechnisch äußerst nachlässigen Bearbeitung der Originalaufnahme von 1951 und endet bei dem, was CD 2 und 3 dem Hörer offerieren - nämlich die - so der Verlagstext - "spektakuläre" NDR-Neuproduktion des Hörspiels aus dem Jahre 2007. Spektakulär an dieser Neuinszenierung durch fünf junge Hörspielregisseure ist indes vor allem, dass sie trotz oder gerade wegen ihres digitalen Theaterdonners an kaum einer Stelle die Eindringlichkeit des Originals erreicht. Ausschnitte aus den eben gehörten Protestanrufen beim NWDR anno 1951 werden am Ende - auch dies ein Teil der NDR-Neufassung - zu einer gesampelten Musikcollage verwurstet, anstatt dass man sie - ebenso wie den fehlenden 6. Traum, der in einer SWF-Aufnahme von 1954 greifbar gewesen wäre - einfach 1:1 dokumentiert hätte. Entschädigt wird der Käufer dieses Hörbuches durch den ausführlichen und kenntnisreichen Booklet-Text von Karl Karst, seines Zeichens Herausgeber des Eich'schen Hörspielwerkes bei Suhrkamp.


    Marcus Heumann über das Hörspiel von Günter Eich mit dem Titel "Träume", als CD-Edition im Hörverlag erschienenen. Unverbindliche Preisempfehlung für die 3 CDs: EUR 24,95.