Es ist schon so lange her, dass es kaum jemand mehr weiß: Sizilien, der südlichste Zipfel Italiens, wurde einst von Bären beherrscht. Doch, Sie haben richtig gelesen: von Bären, jenen pelzigen Gesellen, denen man eine Vorliebe für Honig nachsagt. Da gibt es zum Beispiel Leonzio:
"Er ist der König der Bären: Sohn eines Königs, der wiederum einen König zum Vater hatte; also ein Bär vom höchsten Adel. Er ist groß, stark, mutig, gut (und noch dazu klug, wenn auch nicht zu sehr). Hoffentlich werdet ihr ihn gern haben. Sein Fell ist prächtig, und darauf ist er mit Recht sehr stolz. Seine Schwächen? Vielleicht ist er etwas leichtgläubig, und bei Gelegenheit kann er zu Ruhmsucht neigen."
Da haben wir es: ausgerechnet der König der Bären lässt sich mitunter für dumm verkaufen. Das ist einer der Gründe, weshalb Leonzio mitsamt seinem Volk immer wieder in Schwierigkeiten gerät. Ein zweiter Grund liegt – wir ahnen es schon – in der herrschsüchtigen Natur der Menschen, die selbst in Sizilien keinen Moment Ruhe geben. Schon gar nicht, wenn sie zufällig ein Großherzog sind.
"Tyrann über Sizilien und eingeschworener Feind der Bären. Er ist über alle Maßen eitel und wechselt sieben- bis achtmal am Tag die Kleider; trotzdem gelingt es ihm nicht, weniger hässlich auszusehen, als er ist. Die Kinder machen sich über ihn lustig wegen seiner großen Nase, die wie ein Vogelschnabel aussieht. Wehe, wenn es ihm zu Ohren kommt!"
Ein tyrannischer Herrscher, der Bär Leonzio, ein geheimnisvoller Professor, der sich auf ein paar Zauberkunststücke versteht, etliche dickere und dünnere, klügere und dümmere Bären, die blutrünstige Monsterkatze Mammone und ein Menschenfresser namens Troll – schon haben wir das illustre Personal des Kinderbuchklassikers "Wie die Bären einst Sizilien eroberten" von Dino Buzzati beisammen. Buzzati behandelt seine kleinen Leser mit respektvoller Ehrerbietung und stellt der Geschichte eine mit Piktogrammen versehene Liste der Akteure voran, ergänzt durch Angaben zu den Schauplätzen. Farbige Zeichnungen fassen die Geschehnisse immer wieder zusammen. Der italienische Schriftsteller, der mehrfach mit den Grenzen zwischen Bild und Schrift experimentierte, wählt die Form eines modernen Märchens und schlägt einen wunderbar leichtfüssig-versponnenen Tonfall an. Literarisch ist der Text abwechselungsreich und vielfältig: Erzählende Passagen werden unterbrochen durch skurrile Sing-Sang-Reime, die wie ein improvisierter Bären-Chor klingen.
Dass die Bären ihre entlegenen Berge verließen, so beginnt das Abenteuer von König Leonzio, hing mit einer furchtbaren Hungersnot während eines strengen Winters zusammen. Außerdem hatte man den Bärenprinzen Tonio, Leonzios Sohn entführt. Auf der Suche nach Futter und nach seinem Sohn nähert sich das Bärenvolk der Stadt des Großherzogs. Obwohl die Soldaten ein großes Gemetzel veranstalten, tragen die Bären mit einer Schneeballschlacht den Sieg davon. Da schickt der Tyrann die kriegerischen Molfetta-Wildschweine ins Gefecht. Aber den Bären kommt Professor Ambrosia mit seinem Zauberstab zu Hilfe und verwandelt die Schweine in sanft entschwebende Luftballons. Jetzt hat der böse Großherzog die Spirenzchen endgültig satt und zitiert erst eine Gespensterschar herbei, dann die Monsterkatze, dann den Menschenfresser, der auch gegen Bärenfleisch nichts einzuwenden hat. Mit der Hartnäckigkeit der Bären hat er nicht gerechnet.
"Als die Bären wieder angriffen, bewegte sich der Großherzog nicht einmal aus seinen Gemächern heraus, um zuzuschauen, so sicher war er, dass die Bären am Ende besiegt würden. Stattdessen wechselte er die Uniform und zog eine weiße mit silbernen und violetten Stickereien an, denn er hatte sich vorgenommen, an diesem Abend ins Theater zu gehen. Er gab nur den Befehl, den Soldaten abermals eine Ration alkoholischer Getränke auszuteilen, damit sie Mut bekämen. Doch Wein und Schnaps konnten an diesem Morgen nicht helfen. Aber seht selbst, was geschieht:
Es knallt der Kanonissimo
heraus schießt ein Bär direttissimo
auf einer Kugel, Bein auf beiden Seiten,
als würd’ auf einem Pferd er reiten
(wie später einmal durch die Lüfte sausen
wird der berühmte Baron von Münchhausen).
Dann dort das Katapult, da guck mal, guck:
Ein anderer Bär springt auf und zuckt
(es ist doch wohl nichts Schlimmes geschehn?)
auf seinem Löffelsitz, habt ihr’s gesehn?
Und wird hinausgeschleudert über allen Köpfen
in die Unendlichkeit der Schöpfung!"
Und so geht es in entwaffnenden Schüttelreimen noch eine Weile weiter mit den fliegenden Bären, die schließlich die Stadt einnehmen und ein Leben in Eintracht mit den Menschen zu führen beginnen. Gleichermaßen spannend und amüsant werden die Stationen der Bären-Saga abgehandelt, die nach dem Muster einer klassischen Abenteuergeschichte mit Bewährungsproben gestrickt ist und etliche Anspielungen auf die großen italienischen Ritterepen in sich birgt. Aber Dino Buzzati wäre nicht Dino Buzzati ginge die Geschichte so glimpflich aus. Schließlich hat sich der Schriftsteller in seinen literarischen Werken als ein Spezialist für Entfremdung, Vereinzelung und zivilisatorischen Niedergang erwiesen. Dem Idyll wohnt immer schon die Apokalypse inne, doch auch das weiß er schön zu erzählen. Schwuppdiwupp sind dreizehn Jahre ins Land gegangen. Die Bären haben sich an ihr menschenartiges Dasein gewöhnt, tragen sehr zum Ärger des Königs alberne Menschenkleider, mitunter sogar Pelze und frönen auch sonst - hinter dem Rücken ihres Oberhaupts - aller Laster.
"Der König klopfte, die Tür öffnet sich, ein mit Tressen geschmückter Oberhofmeister begleitete ihn über eine Treppe hinauf. Oben angekommen öffnete sich, o Wunder! Die Tür zu einem großen Saal. Darin erblickte Leonzio, starr vor Staunen, dutzende sehr elegant gekleideter Bären, einen sogar mit Monokel, die mitten im Glückspiel waren. Wirre Stimmen klangen durcheinander. "Ein schöner Zug! Gewonnen!", schrie einer. "Zehntausend, zwanzigtausend für mich!" Und ein anderer: "Er hat gewonnen, verdammt! Ich bin ruiniert! Lumpenpack!" Haufenweise wandern Goldstücke in diesem launischen Glücksspiel erstaunlich geschwind von einem zum andern. Hier und da kam es zu Schlägereien. Welche Verdorbenheit, welche Schande! Aber das Blut gefror Leonzio in den Adern, als seine Blicke zum äußersten Ende des Saals drangen. Wisst ihr, wer da war? Tonio, sein Sohn, verprasste dort seinen Prinzensold und rückte gerade sein letztes Geld heraus. An seinem Tisch saßen drei junge Bären mit widerwärtigen Gaunerfratzen."
Ein paar Kapitel und etliche Verwicklungen später wird der König tödlich verwundet. Er schafft es gerade noch, seinen letzten Willen zu äußern. Den Bären bekommt das Leben in der Stadt nicht, sie sind fett und träge geworden – sie sollen wieder in der Natur leben und auf allen Reichtum verzichten. Natürlich leisten seine Untertanen König Leonzios Wunsch Folge und kehren in einer langen Karawane dort hin zurück, woher sie vor langer Zeit gekommen waren. Dino Buzzati scheut sich nicht, seine Geschichte mit einer Moral auszustatten, aber er hat den Schalk im Nacken und versteht es, seine Lehre voller Humor und Witz darzubieten. Am Ende wäre man auch gern ein Bär irgendwo in den sizilianischen Bergen.
Dino Buzzati, Wie die Bären einst Sizilien eroberten. Illustriert von Dino Buzzati. Aus dem Italienischen von Heide Ringe. Nachdichtung der Verse von Ralph Dutli und Hans Adrian. Carl Hanser Verlag München 2005. 144 Seiten, 15,90 €
"Er ist der König der Bären: Sohn eines Königs, der wiederum einen König zum Vater hatte; also ein Bär vom höchsten Adel. Er ist groß, stark, mutig, gut (und noch dazu klug, wenn auch nicht zu sehr). Hoffentlich werdet ihr ihn gern haben. Sein Fell ist prächtig, und darauf ist er mit Recht sehr stolz. Seine Schwächen? Vielleicht ist er etwas leichtgläubig, und bei Gelegenheit kann er zu Ruhmsucht neigen."
Da haben wir es: ausgerechnet der König der Bären lässt sich mitunter für dumm verkaufen. Das ist einer der Gründe, weshalb Leonzio mitsamt seinem Volk immer wieder in Schwierigkeiten gerät. Ein zweiter Grund liegt – wir ahnen es schon – in der herrschsüchtigen Natur der Menschen, die selbst in Sizilien keinen Moment Ruhe geben. Schon gar nicht, wenn sie zufällig ein Großherzog sind.
"Tyrann über Sizilien und eingeschworener Feind der Bären. Er ist über alle Maßen eitel und wechselt sieben- bis achtmal am Tag die Kleider; trotzdem gelingt es ihm nicht, weniger hässlich auszusehen, als er ist. Die Kinder machen sich über ihn lustig wegen seiner großen Nase, die wie ein Vogelschnabel aussieht. Wehe, wenn es ihm zu Ohren kommt!"
Ein tyrannischer Herrscher, der Bär Leonzio, ein geheimnisvoller Professor, der sich auf ein paar Zauberkunststücke versteht, etliche dickere und dünnere, klügere und dümmere Bären, die blutrünstige Monsterkatze Mammone und ein Menschenfresser namens Troll – schon haben wir das illustre Personal des Kinderbuchklassikers "Wie die Bären einst Sizilien eroberten" von Dino Buzzati beisammen. Buzzati behandelt seine kleinen Leser mit respektvoller Ehrerbietung und stellt der Geschichte eine mit Piktogrammen versehene Liste der Akteure voran, ergänzt durch Angaben zu den Schauplätzen. Farbige Zeichnungen fassen die Geschehnisse immer wieder zusammen. Der italienische Schriftsteller, der mehrfach mit den Grenzen zwischen Bild und Schrift experimentierte, wählt die Form eines modernen Märchens und schlägt einen wunderbar leichtfüssig-versponnenen Tonfall an. Literarisch ist der Text abwechselungsreich und vielfältig: Erzählende Passagen werden unterbrochen durch skurrile Sing-Sang-Reime, die wie ein improvisierter Bären-Chor klingen.
Dass die Bären ihre entlegenen Berge verließen, so beginnt das Abenteuer von König Leonzio, hing mit einer furchtbaren Hungersnot während eines strengen Winters zusammen. Außerdem hatte man den Bärenprinzen Tonio, Leonzios Sohn entführt. Auf der Suche nach Futter und nach seinem Sohn nähert sich das Bärenvolk der Stadt des Großherzogs. Obwohl die Soldaten ein großes Gemetzel veranstalten, tragen die Bären mit einer Schneeballschlacht den Sieg davon. Da schickt der Tyrann die kriegerischen Molfetta-Wildschweine ins Gefecht. Aber den Bären kommt Professor Ambrosia mit seinem Zauberstab zu Hilfe und verwandelt die Schweine in sanft entschwebende Luftballons. Jetzt hat der böse Großherzog die Spirenzchen endgültig satt und zitiert erst eine Gespensterschar herbei, dann die Monsterkatze, dann den Menschenfresser, der auch gegen Bärenfleisch nichts einzuwenden hat. Mit der Hartnäckigkeit der Bären hat er nicht gerechnet.
"Als die Bären wieder angriffen, bewegte sich der Großherzog nicht einmal aus seinen Gemächern heraus, um zuzuschauen, so sicher war er, dass die Bären am Ende besiegt würden. Stattdessen wechselte er die Uniform und zog eine weiße mit silbernen und violetten Stickereien an, denn er hatte sich vorgenommen, an diesem Abend ins Theater zu gehen. Er gab nur den Befehl, den Soldaten abermals eine Ration alkoholischer Getränke auszuteilen, damit sie Mut bekämen. Doch Wein und Schnaps konnten an diesem Morgen nicht helfen. Aber seht selbst, was geschieht:
Es knallt der Kanonissimo
heraus schießt ein Bär direttissimo
auf einer Kugel, Bein auf beiden Seiten,
als würd’ auf einem Pferd er reiten
(wie später einmal durch die Lüfte sausen
wird der berühmte Baron von Münchhausen).
Dann dort das Katapult, da guck mal, guck:
Ein anderer Bär springt auf und zuckt
(es ist doch wohl nichts Schlimmes geschehn?)
auf seinem Löffelsitz, habt ihr’s gesehn?
Und wird hinausgeschleudert über allen Köpfen
in die Unendlichkeit der Schöpfung!"
Und so geht es in entwaffnenden Schüttelreimen noch eine Weile weiter mit den fliegenden Bären, die schließlich die Stadt einnehmen und ein Leben in Eintracht mit den Menschen zu führen beginnen. Gleichermaßen spannend und amüsant werden die Stationen der Bären-Saga abgehandelt, die nach dem Muster einer klassischen Abenteuergeschichte mit Bewährungsproben gestrickt ist und etliche Anspielungen auf die großen italienischen Ritterepen in sich birgt. Aber Dino Buzzati wäre nicht Dino Buzzati ginge die Geschichte so glimpflich aus. Schließlich hat sich der Schriftsteller in seinen literarischen Werken als ein Spezialist für Entfremdung, Vereinzelung und zivilisatorischen Niedergang erwiesen. Dem Idyll wohnt immer schon die Apokalypse inne, doch auch das weiß er schön zu erzählen. Schwuppdiwupp sind dreizehn Jahre ins Land gegangen. Die Bären haben sich an ihr menschenartiges Dasein gewöhnt, tragen sehr zum Ärger des Königs alberne Menschenkleider, mitunter sogar Pelze und frönen auch sonst - hinter dem Rücken ihres Oberhaupts - aller Laster.
"Der König klopfte, die Tür öffnet sich, ein mit Tressen geschmückter Oberhofmeister begleitete ihn über eine Treppe hinauf. Oben angekommen öffnete sich, o Wunder! Die Tür zu einem großen Saal. Darin erblickte Leonzio, starr vor Staunen, dutzende sehr elegant gekleideter Bären, einen sogar mit Monokel, die mitten im Glückspiel waren. Wirre Stimmen klangen durcheinander. "Ein schöner Zug! Gewonnen!", schrie einer. "Zehntausend, zwanzigtausend für mich!" Und ein anderer: "Er hat gewonnen, verdammt! Ich bin ruiniert! Lumpenpack!" Haufenweise wandern Goldstücke in diesem launischen Glücksspiel erstaunlich geschwind von einem zum andern. Hier und da kam es zu Schlägereien. Welche Verdorbenheit, welche Schande! Aber das Blut gefror Leonzio in den Adern, als seine Blicke zum äußersten Ende des Saals drangen. Wisst ihr, wer da war? Tonio, sein Sohn, verprasste dort seinen Prinzensold und rückte gerade sein letztes Geld heraus. An seinem Tisch saßen drei junge Bären mit widerwärtigen Gaunerfratzen."
Ein paar Kapitel und etliche Verwicklungen später wird der König tödlich verwundet. Er schafft es gerade noch, seinen letzten Willen zu äußern. Den Bären bekommt das Leben in der Stadt nicht, sie sind fett und träge geworden – sie sollen wieder in der Natur leben und auf allen Reichtum verzichten. Natürlich leisten seine Untertanen König Leonzios Wunsch Folge und kehren in einer langen Karawane dort hin zurück, woher sie vor langer Zeit gekommen waren. Dino Buzzati scheut sich nicht, seine Geschichte mit einer Moral auszustatten, aber er hat den Schalk im Nacken und versteht es, seine Lehre voller Humor und Witz darzubieten. Am Ende wäre man auch gern ein Bär irgendwo in den sizilianischen Bergen.
Dino Buzzati, Wie die Bären einst Sizilien eroberten. Illustriert von Dino Buzzati. Aus dem Italienischen von Heide Ringe. Nachdichtung der Verse von Ralph Dutli und Hans Adrian. Carl Hanser Verlag München 2005. 144 Seiten, 15,90 €