"Es gibt einen sehr schönen Bericht des griechischen Geschichtsschreibers Thukydides, der von einer Seeschlacht erzählt zwischen den Athenern und den verbündeten Truppen der Spartaner und Syrakusaner im Hafen von Syrakus. Und dort wird das Geschehen aus der Sicht der zuschauenden athenischen Fußtruppen beschrieben, die gleichsam wie aus einem Theater auf die Schlacht schauen. .... Dass sie auf einmal aufschreien, wenn ihre eigenen Schiffe in der Vorderhand sind, dass sie manchmal verzweifeln, wenn eigene Schiffe wieder untergehen."
Der Historiker Felix Maier von der Universität Freiburg verdeutlicht anhand dieser Episode, was der antike Historiker Thukydides unter Geschichtsschreibung verstand. Thukydides zieht in seinem Werk über den Peloponnesischen Krieg den Leser oft mitten ins Geschehen, entfaltet vor seinen Augen ein packendes Drama, das sich nicht allein an den Verstand wendet, sondern auch ans Herz geht.
"Da sind wir schon am entscheidenden Punkt, weil für die antiken Geschichtsschreiber Geschichtsschreibung Literatur war. Und das bedeutet, dass antike Geschichtsschreiber versuchen, in ihren Berichten über die Vergangenheit anschaulich zu schreiben, teilweise auch dramatisch zu beschreiben, ihre Leser zu überzeugen und vor allem kunstvolle und wirklich anspruchsvolle Narrative zu entwickeln."
Gegensätzliches Verständnis von Geschichtsforschung
Anspruchsvolle Narrative - also so gute Erzählungen wie die Dichter wollte man schaffen. Denn Vorbilder der antiken Geschichtsschreibung, so Maier, waren die Epen Homers und die Dramen der Tragödiendichter. Genauso wirkungsvoll wie die Dichter im Reich der Phantasie wollten Historiker über das Reich der tatsächlichen Ereignisse schreiben, - auf der Suche nach einer Wahrheit, die Verstand und Herz gleichermaßen erreicht. Dieses Konzept befremdet uns heute. Die moderne Geschichtswissenschaft versteht unter historischer Wahrheit eine objektive Präsentation von Fakten, die sich jeder Wertung enthält. Pathetische Geschichtsschreibung damals – nüchterne Faktenpräsentation heute – dieser Gegensatz existiert allerdings nicht absolut, sondern nur graduell, erklärt der emeritierte Freiburger Althistoriker Hans-Joachim Gehrke:
"Wenn man genau hinguckt, auch wie moderne Historiker fortfahren, dann stellt man fest: so ganz Reines, Objektives gibt es nicht, denn die Geschichte kann nicht objektiv sein, weil sie nicht mehr da ist. Wir können sie nicht beobachten wie Physiker die Natur beobachten können, wir müssen immer etwas rekonstruieren, was weg ist. Und das heißt, das Interpretieren ist immer dabei. Und dazu gehört immer auch die narrative, also die erzählerische Gestaltung von Geschichte."
Die unvoreingenommene Sichtung der Fakten, das Studium und die kritische Prüfung aller verfügbaren Quellen ist ein wissenschaftlicher Standard, hinter den moderne Geschichtsschreibung nicht zurückfallen darf, aber das allein ergibt noch keine Darstellung. Fakten machen noch keine Geschichte. Es bedarf der Leitfragen und Begriffe, einer Gewichtung der Quellen, auch des vorsichtigen Urteils, um zu einer Gesamtdarstellung zu gelangen. Doch dieser Schritt bleibt gleichwohl ein Wagnis – das zeigte sich auf der Tagung bei der Diskussion eines berühmten Falls aus der Antike: die Rolle Neros beim Brand Roms.
"Wir sehen erst mal als Faktenlage: Es gibt den Brand Roms, weite Teile der Stadt werden zerstört. Was zuvor im Herzen der Stadt gelegener öffentlicher Raum gewesen ist, wird danach durch ein großes Bauprogramm zum sogenannten Domus aurea, zum goldenen Haus, zum Privatpalast des Kaisers. Das Ganze wird bei Tacitus in der Geschichtsschreibung zu einem Sinnbild für die Vereinnahmung des Staates durch eine Einzelperson: der Staat ist Besitz des Alleinherrschers."
Arbeitsweisen wie ein Kriminologe
Der Saarbrücker Althistoriker Thomas Blank rekapituliert die historischen Befunde: Tatsächlich hat Kaiser Nero den Kahlschlag der Brandkatastrophe genutzt, um sich den ehemals republikanischen Kern der Stadt einzuverleiben. Aber hat er den Brand selber legen lassen, wie der Historiker Tacitus schlussfolgert? Oder war das Feuer schlichtweg ein Unfall, eine Zufallskatastrophe, was bei der dichten Bebauung Roms nicht unwahrscheinlich war. Für moderne Historiker ist das eine offene Frage. Aber die Welt steht bis heute im Bann von Tacitus' Urteil über Nero - bis hin zur populären Hollywood-Verfilmung: das Bild Neros als grausamem selbstverliebtem Diktator und Brandstifter:
"Dieses Bild ist, da es von einem Historiker stammt, der sich ausgerechnet auf die Fahnen geschrieben hat "sine ira et studio", das heißt, ohne negative oder positive Vorurteile zu berichten - wirksam bis letztlich in diesem Film, den sicherlich bei diesem Thema viele vor Augen haben werden: Quo Vadis, da sieht man Peter Ustinov auf das brennende Rom blicken mit der Leier in der Hand und voller Freude und Tränen in den Augen singt er, der dichtende Kaiser."
So wirkungsmächtig können sich Bilder und historische Urteile eingravieren. Aber ohne sie geht es auch nicht. Sitzen wir in der Falle? Ist historische Wahrheit gar nicht möglich? Bloß ein unerreichbares Ideal? Hans-Joachim Gehrke resigniert nicht. Er vergleicht das Bemühen des Historikers mit der Arbeit eines Kriminologen:
"Es gibt zwar viele Fragen, die man nicht lösen kann, wie das bei sehr komplizierten Kriminalfällen der Fall ist - .... – da gibt es Beweise, es gibt Plausibilitätserwägungen, .... wie man das bei Zeugenaussagen macht: Ist der Bericht in sich schlüssig, ... alles was irgendwie geht, das nehmen wir, um alles immer wieder kritisch zu prüfen und am Ende müssen wir häufig sagen: naja, wir wissen zwar nicht, ob es so oder so oder so war - aber so und so war es ganz gewiss nicht, und wie manche Leute das behaupten, die die Herren der Geschichte sind, die Diktatoren oder Ideologen, dass die Menschheitsgeschichte so oder so läuft, das können wir dann schon infrage stellen. Und ich finde, das ist nicht wenig.