"Ich hatte mich nach Jahren aus dem Leben, das ich in der Stadt geführt hatte, herausgeschnitten wie einen Schnipsel aus einem Landschafts- oder Gruppenfoto. Betreten über den angerichteten Schaden an dem Bild, das ich hinterlassen hatte, und ungewiss, wohin es diesen herausgeschnittenen Teil verschlagen sollte, lebte ich provisorisch. An einem Ort, wo ich niemanden in der Nachbarschaft kannte, wo mir die Straßennamen, die Ausblicke, die Gerüche und Gesichter unbekannt waren, in einer billig zurechtgezimmerten Wohnung, in der ich mein Leben vorübergehend abstellen wollte. Die Möbel und Kisten standen ungeordnet herum, unentschlossen wie ich, ungewiss, ob sich jemals wieder eine nützliche Ordnung der Wohnlichkeit einstellen würde."
Harsche Natur in poetischer Sprache
Ungesagt bleibt, warum sich die Erzählerin, wie es zu Beginn von Esther Kinskys Roman "Am Fluss" heißt, herausschneidet aus ihrem alten Leben. Nicht nur an den Rand von London begibt sie sich, sondern in eine Art Zwischenzone, in ein provisorisches Leben, von dem ungewiss bleibt, ob es jemals wieder zu einem steten, einem Leben auf festem, vertrautem Grund werden wird. Etwas ist zu Ende gegangen oder geht zu Ende, ohne dass ein neuer Anfang denkbar wäre.
Das Unstete, Unsichere spiegelt sich in der Umgebung wider, die Kinskys Erzählerin in ausgedehnten Spaziergängen erkundet. Anders als in früheren Romanen oder Gedichtbänden Kinskys ist es keine dörfliche Landschaft oder eine - wenngleich zuweilen harsche - Natur, die Kinsky mit ihrer ebenso präzisen wie reduzierten und dabei unmittelbar poetischen Sprache ins Bild setzt. Vielmehr ist es eine Natur, die von Auswüchsen der Urbanität überlagert ist, in der sich die verschiedenen Schichten der Vergangenheit, das Schwemmgut der Zivilisation abgelagert haben.
Eigene momentane Existenzweise
Dieses Ost-London am Rande des River Lea, mit dem beginnenden Marschland auf der anderen Uferseite, ist ein von Wasser unterspültes Gebiet, von Flussläufen durchzogen, ein schwankender Grund. Dass es die Erzählerin immer wieder an den River Lea zieht, mag nicht nur damit zu tun haben, dass sie an diesem Fluss eine Entsprechung zur ihrer eigenen momentanen Existenzweise zu finden meint.
Der Fluss trug den Himmel
"Ich ging immer flussabwärts, jedes Mal ein Stück weiter, hielt mich an dem Fluss fest wie an einem Seil beim Balancieren über einen schmalen Steg. Der Fluss trug den Himmel, die Bäume am Ufer, die vertrockneten kolbenartigen Blüten der Wasserpflanzen, die schwarzen Vogelschnörkel auf den Wolken. Zwischen dem leeren Land auf der Ostseite des Flusses und den Siedlungen und Fabriken auf der anderen Seite fand ich Stücke meiner Kindheit wieder, andere aus Landschafts- und Gruppenfotos herausgeschnipselte Teile, die sich zu meiner Überraschung hier niedergelassen hatten."
Der Fluss wird bei Esther Kinsky zu einem Denkbild und zugleich strukturiert er das Wahrnehmen und Schreiben. Der Fluss setzt nicht nur eine Zäsur in die Landschaft und lenkt auf diese Weise den Blick der Erzählerin, stellt einen Bildausschnitt innerhalb der Umgebung her. Indem er eine Grenze markiert, zeigt sich im Fluss auch die grundsätzliche Trennung, die sich durch Kinskys Roman zieht: das Hier und das Drüben, das Jetzt und das Davor.
Trotzdem wohnt dem Fluss auch etwas Tröstendes inne: Seine immerwährende Bewegung offenbart das Gegenteil von Zäsur und Trennung: Einen Zusammenhang, den man bis an seine Mündung zurückverfolgen kann.
"Mich beschäftigt sehr die Frage, wie bekommt man wieder Zugang zu Erinnerungen. Und natürlich gibt es immer wieder Dinge, die einen erinnern. Das Nachvollziehen dieses Prozesses ist für mich wichtig. Was mich mehr interessiert als die Frage, ob mich dies an jenes erinnert, ist die Frage, wie komme ich an diese Erinnerungen, an diese über Jahre verschlossene Schublade in meiner Erinnerung."
Herausgefallene Menschen
Immer wieder sind es andere aus den festen Zusammenhängen herausgefallene Menschen, die Kinskys Erzählerin auf ihren Erkundungen trifft, ohne dass sie ihnen wirklich nahe kommen wollte. Menschen, die es ebenfalls in diese Randzone der Stadt und des Lebens geschwemmt hat. Gestalten, die verloren erscheinen, mitunter fast märchengleich und denen doch noch ein ferner Glanz anhaftet, wie dem Kunstreiter oder dem König.
"Der König, diese Gestalt, die geht aus von einem Mann, den ich tatsächlich oft sah an diesem Park, das war ein sehr, sehr großgewachsener Schwarzer, der aber offensichtlich sehr verwirrt war und mit einem sehr pompösen Art Stammesgewand, aber nackten Beinen und auch nacktem Unterkörper da im Dämmer herumstolzierte. Und ich werde auch nie diesen Narben übersäten Beine vergessen. Aber der war so eine, wahrscheinlich auch durch seine Flucht - ich stelle mir solche Menschen immer über Flucht an so einen Ort wie eine solche Sozialwohnungssiedlung in London verschlagene Existenzen. Also die Flucht hat sie dort hingebracht. Der hatte so eine unglaubliche Einsamkeit, also so etwas Solitäres. Aber auch etwas unglaublich Einsames, Verstoßenes, Verlassenes."
König als Zeichen einer wagen Hoffnung
Gleich zu Anfang von "Am Fluss" erscheint, im Dämmerlicht des Parks, die seltsam schöne und zugleich traurige Figur des Königs. Hier noch im Zeichen einer vagen Hoffnung. Der König streckte die Hände aus, und die Raben sammelten sich um ihn. Manchen ließen sich kurz flügelschlagend auf seinen Armen, seinen Schultern und Händen nieder, stiegen wieder auf, entfernten sich ein Stück, kamen zurück. Vielleicht wollte oder musste jeder einzelne Vogel ihn einmal berühren. So von den vielen Vögeln umgeben, begann er die ausgestreckten Arme in leichte Schwing- und Kreiselbewegungen zu versetzen, als wohnten in ihnen eine Erinnerung an Flügel.
Auf Vögel trifft man auch in früheren Büchern von Esther Kinsky. In Kinskys Gedichtband „Aufbruch nach Patagonien" etwa scheinen die Vögel – in einem beständigen Auf und Ab - gleichsam durch die Verse zu wogen und eine unbestimmte Sehnsucht in sich zu tragen und zu versinnlichen. Eine Sehnsucht hin zu etwas, das noch unbekannt ist. Das Wogen der Sprache, des Wassers, am Ende sogar des Bodens, das Esther Kinsky in „Am Fluss" in dichte, eindringliche Bilder fasst, hat nichts mehr von einer Sehnsucht. Es ist ein Wogen der Unsicherheit, des Entwurzeltseins.
Die einzige Möglichkeit Halt zu finden, liegt in dem Versuch, sich zu erinnern. Nicht, um sich aus Bildern und Bildablagerungen den Weg zurück zur eigenen Kindheit, zur eigenen Mündung zu festigen, sondern um zu erproben, ob das Freilegen vergangener Schichten möglich ist, ob nicht ganz verloren ist, was einmal Teil des eigenen Lebens war.
"Wahrscheinlich ist Sprache schon Halt. Es ist dieser Benennungsprozess. Man kann natürlich nichts festschreiben, aber man kann im Benennen, im Niederschreiben Realitäten schaffen, Wirklichkeiten festhalten oder auch nur vermeintlich. Aber dann steht etwas da. Das Wort hat eine Beständigkeit im wahrsten Sinne des Wortes, die dann diesem materiellen Boden überlegen ist."
Am Ende des Romans stürzt der König. Die Vögel lassen sich nicht mehr auf seinen Armen nieder. Sie fliegen erschrocken auf nach seinem Sturz, beginnen sodann auf seinen gefallenen Körper einzupicken. Wie in einer Überbelichtung löst sich das Bild des Königs auf, scheint die Erzählerin von der gleißenden Helligkeit geblendet. Der letzte Halt, das Blicken und Beschreiben, bricht weg.
Die Schönheit, die aus Esther Kinskys Sprache erwächst, und die Welt, die sie mit jedem neuen Spaziergang, mit jeder neuen Beobachtung entstehen lässt, können nicht hinwegtrösten über das, was der Erzählerin abhandengekommen ist, was sie in diese Randzone des Lebens gestoßen hat. Dass der Leser diesen schmerzvollen Wege durch den Osten Londons, entlang dem Ufer des River Lea, diese Versuche der Selbstvergewisserung im Unglück, wie ein Geschenk in Händen hält, mag eine beinahe unheimliche Kraft der Poesie offenbaren. Und dennoch ist diese Kraft, wie sie Esther Kinsky gegeben ist, ein großes Glück.
Esther Kinsky: "Am Fluss". Matthes & Seitz Berlin. Berlin 2014. 387 S., geb., 22,90 €.