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Amélie Nothomb
Spurensuche in Japan

Ihre ersten fünf Lebensjahre verbrachte die belgische Schriftstellerin Amélie Nothomb in Japan. Nun kehrt sie für ihren autobiografischen Roman "Eine heitere Wehmut" dorthin zurück, besucht ihre damalige Kinderfrau - und ihre erste große Liebe.

Von Ursula Nowak |
    Japanische Papierlampions mit Schriftzeichen vor einem Tempel, aufgenommen am 10.10.2011 in Tokioter Stadtteil Ningyocho.
    Die gebürtige Belgierin Nothomb hat ein inniges Verhältnis zu Japan. (picture alliance / ZB)
    Jede Erinnerung ist subjektiv. Die Wiederbelebung früherer Erlebnisse kann höchst erfreulich und zugleich schmerzlich sein. Amélie Nothomb wagt den Schritt in das Land ihrer Kindheit. "Eine heitere Wehmut" heißt ihr neuer autobiografischer Roman. Als Tochter eines belgischen Diplomaten hat sie ihre Kindheit und Jugend hauptsächlich in Fernost verbracht. Abschiede haben das Leben der gebürtigen Belgierin geprägt. Amélie Nothomb reist als erwachsene Frau nach Japan und vergleicht das Paradies ihrer Kindheit mit der Wirklichkeit von heute. Anlass dieser Reise ist eine Fernsehdokumentation über Amélie Nothomb. In Begleitung eines Filmteams begibt sich die Autorin auf Spurensuche nach Kobe, Fukushima und Tokio. Sie besucht ihre damalige Kinderfrau und ihre erste große Liebe Rinri. Schon einmal war sie nach Tokio zurückgekehrt. Nun sind 16 Jahre vergangen und sie gibt sich erneut ihrer großen Sehnsucht nach dem Land ihrer frühen Kindheit hin.
    "Vor der Reise sagte ich mir, das ist Selbstmord, was ich da mache. Und zur gleichen Zeit hatte ich einen schrecklichen Wunsch, nach Japan zurückzukehren, ich hatte ein körperliches Bedürfnis. Das ist wie eine Konstante in meinem Leben, das ist ein Rhythmus von etwa 16 Jahren. Alle 16 Jahre habe ich ein tief verwurzeltes Bedürfnis, nach Japan zurückzukehren. Und das ist sozusagen eine Sehnsucht nach einer einzigartigen Energie, die ich nur in Japan finde, nirgendwo anders. Und wenn ich weiß, dass ich zurückkehren muss, fühle ich mit total deprimiert und ohne Energie. Und zur gleichen Zeit habe ich furchtbare Angst."
    Amélie Nothomb stellt sich ihrer Angst, denn ihre Sehnsucht nach dem Land ihrer Kindheit ist mindestens genauso groß wie ihre Furcht vor der Konfrontation mit ihrer Vergangenheit. Sie fürchtet das Wiedersehen so sehr wie sie es ersehnt. Von ihrem heutigen Wohnort Paris telefoniert sie mit Rinri und verabredet sich mit ihm. Sie plant ihre Reise gemeinsam mit dem Filmteam und telefoniert auch mit ihrer Kinderfrau. Sie weiß nicht genau, ob die alte Frau versteht, was sie meint, wenn sie sagt, dass sie mit einem Kamerateam kommen wird. Aber das ist nicht von Bedeutung, die Kinderfrau hat verstanden, dass Amélie kommen wird.
    "Im Halbdunkel rekonstruierte ich meinen Garten Eden, lauschte der Musik meines Paradieses, und die Erinnerung wurde wahrer als die Wirklichkeit. Damals konnte ich mit offenen Augen weinen, wenn ich diese verlorene Welt betrachtete, die durch die Kraft der Halluzination wieder auferstand. Wenn man mich so sah und nach dem Grund meines Kummers fragt, antwortete ich: 'Heimweh'.
    Viel später erkannte ich, dass dieses Gefühl im Westen verachtet wird, da es als schädlich gilt, der Vergangenheit nachzutrauern. Die grausame Diagnose kurierte mich allerdings nicht davon. Meine Sehnsucht war unheilbar."
    Die gebürtige Belgierin Nothomb hatte ein inniges Verhältnis zu ihrer japanischen Kinderfrau, sie war ihre erste Bezugsperson, sie war wie ihre Mutter. Mit der Distanz einer erwachsenen Frau, versucht sich Amélie Nothomb in ihrem Roman an das Gefühl von damals zu erinnern. Die schönen Erlebnisse vermischen sich mit dem Schmerz des Abschieds, denn als Amélie fünf Jahre alt war, zog die Familie aus Kobe fort in ein anderes Land. Der Abschied war bitter für die kleine Amélie und heute erinnert sie sich an ihren Kummer und ihre Einsamkeit nach der Trennung. Bei ihrem Wiedersehen nach den vielen Jahren mischen sich Freude, Aufregung und Angst.
    "Die Tür geht auf, ich erblicke eine sehr alte Dame von einem Meter fünfzig. Wir schauen einander erst erschrocken an. Ein Wiedersehen ist ein so komplexes Phänomen, dass man es erst nach langer Lehrzeit wagen oder ganz einfach verbieten sollte ... Sie bittet mich, ihr zu folgen, und stimmt eine ganze Litanei von Entschuldigungen an. Ich ziehe meine Schuhe aus, die Mitglieder des Teams tun dasselbe. Wir folgen Nishio-san in ein winziges Wohnzimmer. Sie befiehlt mir, mich auf einen Stuhl zu setzen, und bleibt neben mir stehen: Endlich befinden sich unsere Köpfe auf derselben Höhe ...
    Ich nehme meinen ganzen Mut zusammen und sage: 'Ich bin auch ihre Tochter, Nishio-san. Und ich komme aus Europa, um sie zu sehen.' Das Wunder geschieht. Nishio-san bricht in Tränen aus und nimmt mich in die Arme. Ich sitze immer noch auf dem Stuhl. Diese Position ist unpassend, also stehe ich auf und umarme die zerbrechliche kleine Frau mit aller Kraft. So verharren wir endlos lange. Ich weine wie ich gerne mit fünf Jahre geweint hätte, als ich ihren Armen entrissen wurde. So starke Empfindungen sind selten."
    Amélie Nothomb gelingt es, in ihrem Roman "Eine heitere Wehmut" gleichzeitig ernst und heiter zu schreiben. Mit einer sensiblen Beobachtungsgabe beschreibt sie ihre Gefühle, wenn die laue Luft ihre Wangen streift und das harmlose Bellen von Hunden Erinnerungen an ihre Kindheit hervorruft. Teilweise gleicht ihre Reise durch Japan einem Tunnel ohne Ausgang. Fluchtgedanken begleiten die Ich-Erzählerin auf ihren Wegen und die seelische Not verdichtet sich kurz vor Ankunft. Das wirkt bedrückend, manchmal kaum aushaltbar. Doch glücklicherweise gelingt es der Autorin, mit viel Charme und Humor die Alltäglichkeiten des Lebens zu beschreiben, wenn beispielsweise die Höflichkeit der Japaner Staunen in ihr hervorrufen. Es sind immer wieder die kleinen Missverständnisse, die entstehen, wenn sich unterschiedliche Kulturen treffen.
    "Ich denke, wenn man einfach immer wieder die Realität und das Leben mit einem guten Abstand beschreibt, genauso wie sie sich zeigt, kann man viel Komisches entdecken. Denn das Leben ist erschütternd, schwer und tragisch und zur gleichen Zeit aus gleichem Grund vollkommen komisch. Das ist ein bisschen das Prinzip des englischen Humors. Der englische Humor ist ein Humor, der aus der Distanz zu den Ereignissen entsteht. Wenn man die Dinge ein bisschen kühl beschreibt, mit ein bisschen Abstand werden ernste Ereignisse heiter."
    Die Konfrontation mit ihrem japanischen Ex-Verlobten führt zwangsläufig zu Irritationen. Das Ex-Liebespaar trifft sich nach vielen Jahren zum ersten Mal. Rinri, der verlassene Verlobte, begegnet Amélie heute mit der gleichen Freundlichkeit wie damals. Amélie Nothomb beschreibt in ihrem Roman "Eine heitere Wehmut" mit süffisantem Unterton die aufgewühlten Gefühlszustände der Ich-Erzählerin, während Rinri immer wieder lächelt und sich an ihrer Gesellschaft erfreut. Das ehemalige Liebespaar sucht in Tokio Erinnerungsorte von damals auf, sie schlendern durch Parks, besuchen ein Restaurant und erinnern sich an die gemeinsame Zeit. Als die Ich-Erzählerin im Restaurant in Tränen ausbricht, spürt sie, dass sich die Blicke der anderen von ihr abwenden. Rinri reicht ihr wortlos eine Box mit Taschentüchern.
    "Die Japaner beklagen sich niemals. Sie sind auf jeden Fall ein sehr mutiges Volk, ein Volk von großer Zurückhaltung und auch ein Volk von unbestreitbarer Leidensfähigkeit. Nach der Folge der Schrecken von Nagasaki, Hiroshima und Fukushima kein Klagen, man hat nichts von ihnen gehört. Sie bewahren die Fassung durch ihre Haltung, ihre Philosophie.
    Die Japaner hört man nicht. Ich denke die beiden typischen Charakteristika sind: Tapferkeit und Zurückhaltung."
    Bei einer Begegnung der Autorin mit einer japanischen Journalistin wird deutlich, dass die Übersetzung des Deutschen ins Japanische auch von kulturellen Differenzen geprägt ist. Während eines Interviews erfährt die Ich-Erzählerin, dass in der japanischen Sprache das Wort "Wehmut" nur eine heitere Bedeutung hat. Es gibt im Japanischen keinen Begriff für das Traurige, das eine Erinnerung hervorrufen kann.
    "Um zu übersetzen, wie wehmütig ich an meine Kindheit im Kansai zurückdenke, verwendet die Dolmetscherin das Wort 'nostalgic' statt 'natsukshii', das ich für eines der emblematischen Wörter des Japanischen halte. Im Taxi, das uns nach dem Interview zu dem vom Verleger reservierten Restaurant bringt, versuche ich, das mit Corinne zu klären. 'Natsukshii' bezeichnet die heitere Wehmut', antwortet sie, 'den Moment, in dem eine schöne Erinnerung wieder auftaucht und einen erfreut. Ihr Gesicht und ihre Stimme dagegen verraten Kummer, es ist also eine traurige Wehmut, und dafür gibt es im Japanischen keinen Begriff."
    Immer wieder muss sich Amélie Nothomb in ihrer Kindheit an eine neue Umgebung, an fremde Menschen und an ein neues Zuhause gewöhnen. Die Familie bleibt selten länger als drei Jahre an einem Ort. Das ist für den Vater nicht ungewöhnlich. Aber seiner Tochter blutet das Herz. Auf die Frage, ob man sich an die vielen Abschiede gewöhnen kann, antwortet die Autorin:
    "Wenn man alle drei Jahre umziehen muss, gibt es nur zwei mögliche Haltungen: Die eine ist, man entscheidet, niemanden mehr zu lieben. Das ist eine sehr spezielle Haltung. Wenn man niemanden mehr liebt, muss man auch nicht mehr Abschied nehmen, dann ist es nicht mehr schwierig zu gehen. Oder man entscheidet genau das Gegenteil, man liebt jede Person, mit der man befreundet ist, umso mehr, weil man ja nur drei Jahre hat, um sie zu lieben. Das war immer meine Haltung. Ich hatte nicht die Wahl einer Entscheidung, denn das war meine Natur. Das war eine furchtbare Situation, denn wenn der Abschied kam, war es immer ein Tod, weil man wusste, man verliert jemanden, den man sicher nicht mehr wiedersehen wird. Das ist die Wahrheit. Man hat sich vielleicht noch ein Jahr geschrieben, aber dann war es vorbei. Mit den Wiederholungen des Abschieds wurde mein Schmerz immer schlimmer. Ich habe eine Menge des Leidens in meinem Inneren ... Ich denke, wenn ich nicht Schriftstellerin geworden wäre, wäre ich schwer depressiv geworden."
    Amélie Nothomb hat mit ihrem autobiografischen Roman "Eine heitere Wehmut" eine sehr persönliche Liebeserklärung an Japan geschrieben. Ernst und heiter beschreibt sie ihre Rückkehr in das Land ihrer Kindheit. Sie zeigt die kulturellen Eigenheiten Japans auf und beschreibt ihre Gefühle bei der Rückkehr in das Land ihrer Sehnsucht. Viele Abschiede haben Amélie Nothomb geprägt und Spuren hinterlassen. Das Schreiben heilt ihr havariertes Herz.
    Amélie Nothomb: "Eine heitere Wehmut"
    Diogenes Verlag. Aus dem Französischen übersetzt von Brigitte Große. 128 Seiten, 19,90 Euro