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Angela Merkel
Wie die Kanzlerin von der SPD das Siegen lernte

Ausgerechnet die Erkenntnisse einer von der SPD in Auftrag gegebenen Studie über politische Milieus in Deutschland lieferten Angela Merkel das Rezept für ihren Erfolg: Wähler gewinnt man nicht durch rationale Überzeugungsrhetorik, sondern mit dem Image der sicheren Problemlöserin.

Von Stephan Detjen |
    22. September im Berliner Konrad Adenauer Haus. Am späten Abend erliegt die CDU dem Siegesrausch. Volker Kauder gibt den Rocker, Ursula von der Leyen schwingt die Hüften. Hermann Gröhe will ein Deutschlandfähnchen schwenken – und ehe er sich versieht, hat ihm Angela Merkel mit der blitzschnellen Geste einer strengen Kindergärtnerin das Spielzeug aus der Hand gerissen und von der Bühne hinuntergereicht.
    "Heute wird gefeiert, ab morgen wieder gearbeitet (Rufe: ab übermorgen) Also, die, die hier auf der Bühne stehen, müssen schon ab morgen wieder arbeiten, alle anderen erst ab übermorgen."
    Es ist lange her, dass die CDU im Adenauer-Haus Grund zu so ausgelassener Freude hatte. Angela Merkel ist das Siegen erst im dritten Anlauf wirklich gelungen. Und einen Schlüssel für ihren größten und ersten echten Wahlerfolg hat ihr – ohne dass es ihm bewusst war – ein SPD-Vorsitzender, Matthias Platzeck, in die Hand gegeben, als die beiden Volksparteien das letzte Mal in einer Großen Koalition gemeinsam regierten.
    Die Geschichte, wie Angela Merkel von der SPD das Siegen lernte, beginnt früher, mit einer langen Reihe von Niederlagen, Enttäuschungen und Zwiespälten. Rückblende, auf den Tag genau elf Jahre vor dem Wahlabend im September:
    "Die CDU, die CSU, wir haben die Wahl gewonnen!"
    2002 hatte sich die Union zu früh gefreut, als sich Edmund Stoiber auf der Bühne im Konrad-Adenauer-Haus mit der großen Schwesterpartei voreilig zum Wahlsieger ausrief. Erst spät am Abend war klar, dass Rot-Grün das Rennen noch einmal knapp gewonnen hatte.
    Angela Merkel aber hatte noch in derselben Nacht die Weichen für ihren Aufstieg ins Kanzleramt gestellt. Sie entmachtete ihren schärfsten innerparteilichen Kritiker, den damaligen Fraktionsvorsitzenden Friedrich Merz, und sicherte sich damit zugleich die nächste Kanzlerkandidatur. Als Gerhard Schröder 2005 vorzeitig Neuwahlen herbeiführte, schien ein Sieg der Union zunächst so gut wie sicher, doch für Angela Merkel endete der Wahlkampf 2005 beinahe im Fiasko.
    Gerhard Schröder: "Sie wird keine Koalition unter ihrer Führung mit meiner sozialdemokratischen Partei hinkriegen. Das ist eindeutig. Machen Sie sich da gar nichts vor."
    Manche CDU-Leute kolportierten damals, nur der Testosteron-Rausch Gerhard Schröders in der legendären Elefantenrunde am Wahlabend 2005 habe Merkel vor einer innerparteilichen Revolte gerettet. Merkel wurde Kanzlerin und glänzte in ihrer ersten Amtszeit vor allem auf der internationalen Bühne. Doch 2009 musste sie erneut beweisen, ob sie auch Wahlen für die Union gewinnen konnte.
    O-Ton ARD: "Punkt 18 Uhr eher verhalten zunächst der Applaus bei der CDU. Rund 33 Prozent für die Union – ein enttäuschend schlechter Wert."

    Die Union war nach der letzten Großen Koalition ausgeblutet
    2009 – nach vier Jahren Großer Koalition war nicht nur die SPD ausgeblutet, sondern auch die Union. Die Volksparteien, so schien es, waren unaufhaltsam im Niedergang. Verzweifelt suchte man in den Parteizentralen nach Wegen, den Anschluss an die breiten und politisch bindungslosen Wählerschichten der Mitte zu halten. Die SPD hatte bereits nach den bitteren Diskussionen um Gerhard Schröders Agenda-Politik den Berliner Politikwissenschaftler Gero Neugebauer damit beauftragt, zu untersuchen, wie sie Politik in den unsicheren Zeiten gesellschaftlichen Wandels und wirtschaftlicher Herausforderungen erfolgreich vermitteln könnte.
    "Also es gab bei der Ebert-Stiftung die Idee, wahrscheinlich auch beflügelt durch Initiativen aus dem Willy-Brandt-Haus, doch mal zu versuchen, ob man nicht angesichts der sich immer mehr sich differenzierenden Wählerschaft der SPD untersuchen solle, wie denn überhaupt die politische Struktur der deutschen Gesellschaft aussieht."
    2007 legte Neugebauer seine Studie über politische Milieus in Deutschland vor. Seine Erkenntnisse aber, die der SPD den Weg zu neuer Stärke weisen sollten, lieferten am Ende ausgerechnet Angela Merkel das Rezept für ihren späteren Wahltriumph.
    Kurz nach Erscheinen der Studie hatte der damalige SPD-Vorsitzende Matthias Platzeck der Kanzlerin in einem Gespräch von der Untersuchung erzählt. Merkel ließ sich die 130 Seiten im Taschenbuchformat schicken - und studierte sie sorgfältig. Bei passender Gelegenheit erzählt die Kanzlerin die Episode bis heute gerne – um dann lächelnd damit zu enden, wie nützlich die Lektüre für sie doch gewesen sei. Platzeck dagegen erinnert sich heute nur noch schemenhaft an das für die Kanzlerin so hilfreiche Gespräch:
    Brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) erklärt seinen Rücktritt.
    Matthias Platzeck gab als SPD-Chef die Studie in Auftrag. (picture alliance / dpa / Bernd Settnik)
    "Nee, an den Vorgang nicht direkt. Ich weiß, dass diese Themen diskutiert wurden. Übrigens das hält bis heute an."
    Der Politikwissenschaftler Gero Neugebauer hatte in seiner Studie akribisch nachgewiesen, warum die SPD mit all ihren Bemühungen gescheitert war, der eigenen Anhängerschaft die Notwendigkeit schmerzhafter Reformen wieder und wieder zu erklären. Ein simpler Grund war dafür entscheidend:
    "Etwas pathetisch formuliert hieße es: Die Politiker müssten sich daran erinnern, dass sie ein eigener Stand mit einer eigenen Sprache sind, die nicht notwendigerweise außerhalb ihres Standes verstanden wird."

    Merkel zog aus Neugebauers Studie einen radikalen Schluss
    Angela Merkel zog aus Neugebauers Studie einen radikalen Schluss: Man kann Politik in der Kommunikation mit den zunehmend unberechenbaren Wählermassen nicht rational erklären. Wenn es darum geht, in der heterogenen Mediengesellschaft Mehrheiten zu mobilisieren, zählen andere, weichere und irrationalere Kriterien.
    In einer immer vielschichtigeren und schwer verständlicheren Welt kommt es nicht mehr auf ausgiebige Erklärungen oder auf die Zuspitzung einfacher Botschaften an. Was zählt, ist die Lösung von Problemen. So wenig wie der Kunde in der Autowerkstatt mit technischen Details der Reparatur behelligt werden will, so wenig fragt der Wähler im entscheidenden Moment nach politischen Konzepten zur Lösung hochkomplexer Probleme. Die Währung, mit der bei Wahlen gehandelt wird, ist diffus, doch Merkel hat sie für sich definiert:
    "Und ich sage Ihnen: Dass wir auf über 40 Prozent gekommen sind, hat damit zu tun, dass wir Menschen in allen Gruppen, in allen Altersgruppen, in allen sozialen Schichten immer wieder angesprochen haben und dass sie uns vertrauen! Und Vertrauen ist ein ganz hohes Maß, was wir jetzt wahren müssen, das wir rechtfertigen müssen. Und darum geht es in den nächsten Jahren."
    Vertrauen aber lässt sich nicht durch eine auch noch so ausgefeilte Überzeugungsrhetorik gewinnen. Das ist der Schluss, zu dem Merkel nach der Lektüre der Neugebauer-Studie kam. Und sie ließ sich fortan nicht mehr irritieren, wenn eine entnervte Opposition, ungeduldige Medien und selbst der Bundespräsident von ihr verlangten, endlich zu erklären, wohin sie Deutschland und Europa mit ihrem Politikstil führen wollte - mal unideologisch moderierend, mal vorsichtig im Krisennebel vorwärts tastend.
    Gauck: "Sie hat nun die Verpflichtung, sehr detailliert zu beschreiben, was das bedeutet, auch fiskalisch bedeutet. Ich habe diese Aufgabe nicht. Ich bin auch keine Ersatzregierung."
    Auch Matthias Platzeck, der Auftraggeber der Neugebauer-Studie, der gerade erst das Amt des brandenburgischen Ministerpräsidenten aufgegeben hatte, glaubt nach wie vor, dass sich Politiker nicht allein als pragmatische Problemlöser bewähren müssen:
    "Ich bin nach wie vor ein überzeugter Anhänger, dass das so ist. Dass das, was damals das Ergebnis dieser Studie war oder schien, dass Menschen noch zurückgezogener und verwirrter reagieren, wenn man ihnen die Dinge erklärt, kann nicht herhalten dafür, dass man sagt: Dann sagen wir eben ihnen nichts mehr und machen einfach."

    Forschungsergebnisse besser verinnerlicht als die SPD
    "Klartext" lautete das Motto, unter dem SPD-Spitzenkandidat Peer Steinbrück im diesjährigen Bundestagswahlkampf den Beweis antreten wollte, dass Merkel zu schlagen sei. Doch der Plan ging nicht auf: Denn Merkel setzte der Wahlkampfstrategie der SPD ihren Wahlkampf der Vagheiten und Unschärfen entgegen. Und bewies damit, dass sie die Forschungsergebnisse der SPD-Studie besser verinnerlicht hatte als die Auftraggeber selbst, meint Gero Neugebauer:
    "Ich glaube, das hat sie gut begriffen, dass man Gesellschaften, die sich in einem Wandel befinden, ein notwendiges Maß an Sicherheit und Orientierung geben muss. Also anders als eine Parole, die sagt: Ich sag euch jetzt mal, wo‘s lang geht, so eine Art: Basta, nun marschieren wir mal voran und sehen zu, was kommt – so sagt sie jetzt: Ich fahre auf Sicht. Und dieses Auf-Sicht-Fahren vermittelt gleichzeitig denen, die im Anhänger sitzen oder hinten im Bus das Gefühl: Die weiß, wo es hingehen soll. Und wir werden auch nicht mit unsicheren Situationen hinter der Kurve oder hinter dem Tunnel konfrontiert."
    Auch die oberste Zielvorgabe, die Merkel für ihre dritte Amtszeit gesetzt hat, ist denkbar inhaltsarm: "Deutschlands Zukunft gestalten" lautet der Titel des Koalitionsvertrages, den die drei Parteivorsitzenden heute Nachmittag unterzeichnet haben. Doch wer außer einem kleinen Kreis von Politikern, Experten und Journalisten vertieft sich schon in die Details des knapp 200 Seiten dicken Wälzers, in dem die Vorhaben von der Europäischen Bankenunion bis zur Einführung eines Deutschen Bienenmonitorings beschrieben werden? Der Maßstab, den die Wähler nach spätestens vier Jahren an die Arbeit ihrer Regierung anlegen, ist in den Augen der Kanzlerin einfacher:
    "Für mich muss sicher sein – wir können ja alle die Zukunft nicht voraussagen – es muss die Möglichkeit geben, dass wir sagen können: heute mit diesem Programm, jawohl, es gibt eine gute Chance, dass es 2017 Deutschland besser geht und den Menschen in Deutschland besser geht als heute."
    Es ist dieser ebenso schlichte wie effektive Erfolgsmaßstab, an dem Merkel ihre politische Kommunikation ausrichtet. Er erlaubt es ihr, weit in alle politischen Richtungen auszugreifen und in allen politischen Lagern und gesellschaftlichen Milieus um Wählerstimmen zu werben. Ihre Gegner treibt Merkel damit in die Enge und oft genug zur Verzweiflung. Merkel:
    "Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Wenn die SPD das erste Mal eine gute Idee hatte, dann bin ich doch die Letzte, die das nicht unter dem Etikett Verbraucherschutz patentiert und nun wirklich auch festschreibt. Ja, es war eine SPD-Idee, von CDU-Oberbürgermeistern übernommen worden, anschließend von CDU und CSU, und dann müssen wir es nur noch umsetzen, meine Damen und Herren."

    Merkels Kunst der Vereinnahmung fremder Inhalte
    Die Kunst der Vereinnahmung und Anverwandlung programmatischer Vorstellungen aus allen politischen Lagern ist indes nicht allein das Erfolgsrezept der ideologiefernen Pragmatikerin Merkel, die seit bald 13 Jahren an der Spitze ihrer Partei steht. Gerade Merkel versuchte nach dem von ihr selbst mitbeschleunigten Ende der Ära Kohl eigenständige, programmatische Akzente zu setzen, die teils auf eine sozialpolitische Erneuerung der Partei, teils auf eine wirtschaftspolitische Wiederbelebung ordnungspolitischer Traditionsbestände abzielten.
    Der Historiker Frank Bösch ist Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam und Autor eines Standardwerks zur Geschichte der CDU. Merkel – beobachtet Bösch – hat das historisch gewachsene Wesen der CDU heute stärker verinnerlicht, als sich das auch ihre innerparteilichen Kritiker anfangs vorstellen konnten.
    "Die CDU ist vielmehr eine Partei, die sich an die Wähler anschmiegt. Das hat sich auch bei Angela Merkel gezeigt. Sie hat in der Opposition versucht, programmatische Akzente zu setzen. Aber diese Akzente waren sicherlich nicht die zentralen Punkte, die sie am Ende umgesetzt hat."
    Programmatisch scharfe Profilierungen, mit denen andere Parteien immer wieder ihre Identität formen, gehörten nur selten zum Wesenskern der CDU. Das U in ihrem Namen deutet an, dass die Union sich von Beginn an nicht als klassische Partei, sondern eher als neuartige Sammlungsbewegung formierte, die bis dahin unvereinbare erscheinende Gruppierungen der Nachkriegsgesellschaft in sich zusammenführen wollte: Katholiken und Protestanten, Arbeitnehmer und Unternehmer, Marktliberale und Befürworter einer weitreichenden Verstaatlichung von Industriebetrieben.
    Bösch: "Die CDU hat seit Ende der 60er-Jahre und dann insbesondere unter Kohl in den 70er-Jahren tatsächlich sehr, sehr intensiv Programmdebatten geführt und hat sich 1978 ja sogar ein erstes Grundsatzprogramm gegeben. Dennoch hat sich im Grunde seit 1982, seit Kohls Regierungsantritt, gezeigt: Die CDU ist keine Programmpartei."
    Stärker als die Sehnsucht nach programmatischer Geschlossenheit ist in der CDU traditionell die Bereitschaft, sich trotz aller inneren Zwiespälte, Gegensätze und Grabenkämpfe hinter ihren starken Führungsfiguren zu versammeln. Am Ende zählt der Erfolg. Adenauer, Kohl und auch Merkel sind für den Historiker Frank Bösch damit gleichermaßen prototypische Leitfiguren der Union in ihrer jeweiligen Epoche:
    "Angela Merkel wird ja oft als führungsschwach beschrieben. Ich denke, das Gegenteil ist richtig."

    Tief reichender Wandel der CDU unter Merkel
    Atomausstieg, Abschaffung der Wehrpflicht, Frauenförderung sind für Bösch mehr als nur politische Weichenstellungen, sondern auch Ausdruck eines tiefer reichenden Wandels der CDU unter Merkels Führung. Von Beginn an hat sie das Ziel verfolgt, die CDU aus der Sackgasse eines konservativen Wählerghettos zu führen. Dafür öffnete sie ihrer Partei den Anschluss an die wachsenden Gruppen urbaner, konfessionell ungebundener und ideologieferner Wählerschichten.
    Jetzt blickt nicht nur Deutschland, sondern die Welt auf die Frau, die morgen zum dritten Mal zur mächtigsten Politikerin Europas gewählt wird. Wohin wird sie das Land und Europa führen? In den nächsten vier Jahren wird sich entscheiden, ob Angela Merkel nicht allein als auf Sicht handelnde Krisenmanagerin in die Geschichte eingehen wird, sondern auch als weitblickende Architektin eines erneuerten Europas.
    Wird sie dort den Weg einer weiteren Integration fortsetzen? Wolfgang Schäuble und auch die jetzt zur Bundesverteidigungsministerin beförderte Ursula von der Leyen hatten auf dem Höhepunkt der Finanzkrise die Vision der Vereinigten Staaten von Europa proklamiert. Und auch Angela Merkel selbst prägte vor einem Jahr jenes Motto, das wenig später auch Bundespräsident Joachim Gauck zum Kernsatz eines europapolitischen "Common sense" in Deutschland aufwertete:
    "Mehr Europa. Das ist die Parole, das ist die Überzeugung der Christlich Demokratischen Union."
    Doch je näher der 22. September rückte, desto leiser wurde der Ruf auch aus dem Munde der Kanzlerin. "Mehr Europa" könne vielmehr auch bedeuten, Kompetenzen von der europäischen auf die nationalstaatliche Ebene zurück zu verlagern, verkündete Angela Merkel auf einer Deutschlandfunk-Veranstaltung im August:
    "Wir können auch überlegen, geben wir mal wieder was zurück. Die Niederländer diskutieren im Augenblick gerade darüber. Und diese Diskussion werden wir nach der Bundestagswahl auch führen."

    Nur vage Sätze zu Europa im CDU-Wahlprogramm
    Merkels Vorstellungen von der künftigen Architektur Europas - im Wahlprogramm der Union verloren diese sich allenfalls in rhetorischen Allgemeinplätzen, blieben vage. Abseits der großen Bühnen des Wahlkampfes und der Medien aber gibt auch Merkel immer wieder Einblicke in ihre Vorstellungen von einer Weiterentwicklung der komplizierten Mechanik europäischer Politik. 2010 etwa hielt Merkel vor den Absolventen des Europakollegs in Brügge – einer Kaderschmiede für den diplomatischen Dienst der EU – eine Grundsatzrede, die in Expertenkreisen nach wie vor als Schlüssel zum Verständnis von Merkels Handeln auf europäischer Bühne herumgereicht wird.
    Als "neue Unionsmethode" beschrieb Merkel darin ihre Vorstellung gemeinschaftlichen Voranschreitens, die einen Mittelweg zwischen dem mühsamen Zwang zur Einheitlichkeit aller EU-Partner und einem willkürlichen Voranpreschen einzelner Vorreiter eröffnen sollte. Der Fiskalpakt war für Merkel wenig später der Beweis, dass ihre Methode erfolgreich sein konnte. In einer Rede auf einer Wirtschaftstagung ließ Merkel auch vor wenigen Tagen wieder erkennen, dass sie auch in ihrer dritten Amtszeit noch einmal an den Fundamenten der Union arbeiten will:
    "Es hat sich jetzt herausgestellt, dass zumindest die Eurozone weitaus enger zusammenarbeiten muss. Wir tun dies im Augenblick sehr häufig auf intergouvernementaler Grundlage wie zum Beispiel beim Fiskalpakt. Auch bei der Bankenunion kann man ohne Vertragsänderungen bestimmte Schritte nicht gehen. Aber ich sage ausdrücklich: Deutschland ist zur Fortentwicklung der Verträge bereit."
    2017 ist die zeitliche Zielmarke, die Merkel ab morgen gesteckt ist. Gleichzeitig endet dann übrigens in Frankreich die erste Amtszeit von François Hollande. Für beide ist damit jetzt ein Zeitfenster eröffnet, in dem sie beweisen müssen, ob und wie Deutschland und Frankreich noch einmal in der Lage sind, Europa gemeinsam entscheidende Impulse zu geben.
    Für Merkel allerdings markiert das Jahr 2017 wahrscheinlich auch den Endpunkt ihrer Zeit an der Spitze des Landes und ihrer Partei. Und diese Zäsur muss die Partei erst einmal meistern. Die bittere Lehre, die der Historiker Frank Bösch aus der Geschichte der CDU zieht, dürfte auch der nüchternen Beobachterin Merkel vor Augen stehen:
    "Die CDU hat denkbar schlechte Erfahrungen mit Führungswechseln, bisher hat der Führungswechsel in keinem Fall geklappt. Nach den großen Kanzlern Adenauer, Kohl und zukünftig wird man dann auch sagen: nach Merkel."
    Noch kurz vor der Bundestagswahl im September wischte Angela Merkel selbst die Frage nach der eigenen Nachfolge locker vom Tisch:
    "Ich beschäftige mich mit den Sachen, die mich was angehen, und das heißt, wenn ich Bundeskanzlerin bin, muss ich vernünftig und gut regieren. Ich möchte dies vier weitere Jahre tun, und damit bin ich total voll beschäftigt. Und ich würde mal sagen, es hat sich schon immer noch jemand gefunden, der was werden will in Deutschland."
    Doch nachdem sie gestern die Personalliste ihrer dritten Regierung veröffentlicht hat, steht jetzt die eine, die größte Personalfrage der kommenden Jahre offen im Raum. Auf dem Höhepunkt ihrer Karriere hat Merkel zugleich – besonders mit der Rochade von Ursula von der Leyen ins Verteidigungs- und Thomas de Maizière ins Innenministerium – die Ausgangskonstellation für das Rennen um ihre Nachfolge hergestellt. Für sie selbst aber wird auch morgen, wenn sie zum dritten Mal den Amtseid als Bundeskanzlerin leistet, das Grundgesetz der Merkelschen Politik weiter gelten:
    O-Ton Merkel: "The proof of the pudding is the eating – zum Schluss werden uns die Menschen fragen: Geht es den Menschen in einigen Jahren besser als heute."