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Annie Ernaux: "Die Jahre"
Provozierende Aufforderung zur Selbstbesinnung

Die Beschreibung ihres Werdegangs als Aufsteigerin aus dem ärmlichen Provinzmilieu der Normandie weitet Annie Ernaux zu einer neuartigen Form der Autobiografie aus. Ihre Erfahrungen verzahnt sie in "Die Jahre" mit dem kollektiven Gedächtnis und der Summe der Prägungen ihrer Generation.

Von Christoph Vormweg |
    Annie Ernaux
    Die französische Schriftstellerin Annie Ernaux (imago/ZUMA Press/Ulf Andersen/Aurimages)
    "Etwas von der Zeit retten, in der man nie wieder sein wird."
    Das war das Ziel von Annie Ernaux‘ Projekt "Die Jahre". Zwei Jahrzehnte hat sie gerungen, bis sie die passende Form für die Materialfluten fand. Zum einen skizziert sie - ausgehend von Fotos und Videoaufnahmen – Stationen ihres eigenen Werdegangs. Zum anderen zapft sie das kollektive Gedächtnis der Franzosen an und beschreibt in komprimierter Form, was "man" erlebt hat - oder was "wir" oder "die Leute" durchmachen mussten. Den zeitlichen Rahmen markieren Annie Ernaux' Geburtsjahr 1940 und der Beginn des 21. Jahrhunderts. Auf den ersten Seiten mit Werbe-Slogans, Lied-Zitaten und Schlüsselbegriffen der Nachkriegszeit glaubt man noch, diese sogenannte "unpersönliche Autobiografie" sei ausschließlich ein Buch für Franzosen und eingefleischte Frankophile. Dann aber häufen sich für deutsche Leser die Vergleichsebenen: von der Invasion der amerikanischen Popkultur über die Aufbruchsstimmung der 68er bis hin zur großen materiellen Wohlstandsflut:
    "Die Gesellschaft bekam einen neuen Namen, sie hieß jetzt ‚Konsum-Gesellschaft'. […] Die Zeichen der Zeit standen auf Geldausgeben, und so schaffte man sich unermüdlich Gebrauchsgegenstände und Luxusgüter an. Man kaufte eine Kühl- und Gefrierschrank-Kombination, einen Renault 5, […] man erwarb einen Farbfernseher. Bunt war die Welt viel schöner [...]. Die Werbung zeigte, wie man zu leben, sich zu verhalten, und seine Wohnung einzurichten hatte, sie war die Kulturanimateurin der Nation."
    Das erhoffe Glück sah anders aus
    Annie Ernaux sucht nicht die Objektivität einer Kulturgeschichte. Vielmehr schreibt sie – zuweilen mit leise ironischem Unterton – immer aus der Sicht ihrer Prägungen. Der Kampf der Frauen für die Legalisierung der Abtreibung gehört genauso dazu wie der Milieuwechsel aus der Unter- in die Mittelschicht. Als gute Schülerin durfte sie studieren und wurde Gymnasiallehrerin für Französisch. Doch das Glück, das die zweifache Mutter sich erhoffte, sah für Annie Ernaux anders aus.
    "Wenn sie Zeit mit ihrer Familie verbringt, fühlt sie nur und denkt nicht. Richtige Gedanken kommen ihr nur, wenn sie allein ist, […] Gedanken über sich selbst, über das, was sie hat und was sie ist, über ihr Leben. Diese Gedanken sind eine Vertiefung all der flüchtigen Gefühle, über die sie mit niemanden reden kann, all der Dinge, über die sie schreiben würde, wenn sie die Zeit dazu hätte – aber sie hat ja nicht mal mehr die Zeit zum Lesen. In ihrem Tagebuch, das sie nur noch selten aufschlägt, ganz so, als würde es eine Bedrohung für den Zusammenhalt der Familie darstellen, als hätte sie kein Recht auf ein Innenleben, notiert sie: 'Mir fällt gar nichts mehr ein. Ich versuche nicht mehr, mir mein Leben zu erklären' und: 'Ich bin zu einer arrivierten Kleinbürgerin geworden.'"
    Durch die Erzählperspektive in der dritten Person schafft Annie Ernaux Distanz zu sich selbst. Sie macht sich gleichsam zu einer historischen Figur, zu einer Repräsentantin ihrer Generation. Oft ist sie sich auf alten Fotos selbst fremd und betont die Vagheit ihrer Erinnerungen. Darin liegt die große Stärke ihrer "unpersönlichen Autobiografie". Nie behauptet Annie Ernaux, es ganz genau zu wissen. Sie bleibt immer eine Suchende im großen Kontext des gesellschaftlichen Wandels. Besonders bewegend sind die nachdenklichen, melancholischen Passagen, so zum Beispiel über das Vergehen der Zeit.
    Kein gemütliches Nostalgie-Buch
    "Auch wir werden eines Tages in den Erinnerungen unserer Kinder im Kreise der Enkel stehen, im Kreise von Menschen, die noch gar nicht geboren sind. Wie das sexuelle Verlangen ist auch die Erinnerung endlos. Sie stellt Lebende und Tote nebeneinander, reale und imaginäre Personen, eigene Träume und die Geschichte. Auch werden sich auf einen Schlag alle Wörter auflösen, mit denen man Dinge, Gesichter, Handlungen und Gefühle benannte, mit denen man Ordnung in die Welt gebracht hat, die das Herz höher schlagen und die Scheide feucht werden ließen: die Slogans, Graffiti an Häuser- und Klowänden, Gedichte und schmutzige Witze."
    Annie Ernaux findet für ihr Erinnerungsbuch "Die Jahre" nicht nur eine gelungene Form, sondern auch einen eigenen, unverwechselbaren Ton, den ihre Übersetzerin Sonja Finck bestens getroffen hat. Ihre Beobachtungen zeigen eine nie selbstgewisse, immer fragende Frau im Strudel der sexuellen und politischen Ängste und Hoffnungen. Ihre "unpersönliche Autobiografie" ist kein gemütliches Nostalgie-Buch, sondern eine vielstimmige, stets provozierende Aufforderung zur Selbstbesinnung in einer immer unübersichtlicher werdenden Welt. Dazu gehört auch der Blick auf die mittelständische Vorstadt 40 Kilometer vor Paris, wo sie seit Jahrzehnten lebt; oder die Beschreibung der Desillusionierung, die sie als überzeugte Sozialistin seit Beginn der Mitterrand-Präsidentschaft durchleiden musste. Das anrührendste, da aussagestärkste Strukturelement ihres Buchs ist aber das klassische französische Festessen im Kreis der Familie. Annie Ernaux beschreibt hier, wie sich im Wandel der Jahrzehnte seit dem Zweiten Weltkrieg die Gepflogenheiten bei Tisch verändern. Auch das nachdenkliche Finale sollte man sich nicht entgehen lassen. Denn immer, wenn Annie Ernaux der Glaube an die Zukunft abhandenkam, hat sie das Schreiben gerettet: über alle Trennungen, den Brustkrebs und Präsident Sarkozy hinweg.
    Annie Ernaux: "Die Jahre"
    Roman, aus dem Französischen von Sonja Finck, Suhrkamp Verlag, Berlin 2017, 256 Seiten, 18 Euro