Mensch gegen Maschine. Das ist der Stoff, aus dem Science Fiction gemacht ist. Maschinen übernehmen die Welt. Anselm Franke ist mit diesen Filmen aufgewachsen. Sie haben seine kritische Haltung geprägt, die sagt: Technologie ist heute so allgegenwärtig wie die Luft, die wir atmen. Und: Wir sind von ihr abhängig.
"Ich bin in keiner Form ein Romantiker oder jemand, der nostalgisch bestimmte Technologien einfach abschalten möchte. Sondern es geht darum, dass die technologische Entwicklung, die so rasant verläuft, dringend eine andere Form der gesellschaftlichen Auseinandersetzung erfordert. Und eben nicht allein den Kräften des Marktes überlassen sein kann."
Die Zukunft: Großkonzerne, die mit Daten handeln
Anselm Franke glaubt nicht an das Versprechen der "digitalen Utopie". An Demokratie durch Vernetzung. Stattdessen sieht er Großkonzerne, die mit Daten handeln und eine Politik, die sie größtenteils gewähren lässt. Der Kunstkritiker und Kurator leitet seit vier Jahren am Berliner Haus der Kulturen der Welt den Bereich "Digitale Medien". Seine Aufsatzsammlung "Nervöse Systeme" ist vor allem eine Warnung. Davor, dass wir täglich Daten produzieren – ohne zu wissen, was mit ihnen passiert.
"Die eigentlichen Schritte der Abstraktion, also in welchem Muster, in welche Statistiken, in welche Datenverarbeitungsmaschinen wir unsere eigenen Bewegungen, unsere eigenen Verhaltensweisen einspeisen, wie die dort übersetzt werden und wie die wieder zurück bei uns ankommen, ist ja nicht etwas, was wir präsent haben."
Von vielen technischen Prozessen, die wir nutzen, haben wir kein Verständnis. Das ist nicht neu. Unsere Worte verlieren an Bedeutung, sagt Franke. Das ist neu. Technische Codes werden zu einer fremden Sprache.
"Wir können etwas in der Welt mit den Worten erreichen. Und das Verhältnis, wenn das grundsätzlich aus den Fugen gerät, und da gibt es schon eine Tendenz zu, weil wir die Übersetzungsschritte der Abstraktion nicht nachvollziehen können, die viel wichtiger sind als Worte mittlerweile. Dann ergibt das natürlich vor allem für demokratische Gesellschaften ein großes Fragezeichen."
Die Geburt der Kybernetik
Wann hat es angefangen, dass alles aus den Fugen gerät? Im Zweiten Weltkrieg entwickelten die USA Technologien für den Sieg über Nazideutschland, Flugabwehrsysteme zum Beispiel. Unter der Leitung der Mathematiker Norbert Wiener und Julian Bigelow wird die Wissenschaft der Kybernetik geboren.
"Sie entwickelten ein Modell, in dem ein Mensch – der Pilot eines Flugzeugs – wie eine Maschine behandelt wird und dabei dieselbe Sprache spricht wie diese: die Sprache der Mathematik. Die Kriegssituation spielte dabei insofern eine Rolle, als Menschen in Stresssituationen, die eine schnelle Reaktion erfordern, in der Regel mechanisch reagieren, so dass von der Individualität des Piloten abstrahiert werden kann."
Psychiater beobachteten später bei ihren Patienten, dass logische Muster selbst bei akuter Schizophrenie funktionierten. Man konnte also im Kalten Krieg mit Menschen umgehen, die trotz ihrer Psychose rational und logisch handeln. Das Nervensystem konnte nun objektiv mit naturwissenschaftlichen Methoden beschrieben werden.
"Die Grundlage des kybernetischen Zeitalters ist eine fragwürdige Reduktion von Gesellschaft und Leben auf informationsverarbeitende Systeme nach dem Muster binärer Rechenoperationen."
Auswirkung auf Gesellschaft unkontrollierbar
Der Mensch wird auf Information reduziert. Die Maschinen werden als Erweiterung des menschlichen Nervensystems gedacht. Sie sollen Lebewesen imitieren und mit ihnen interagieren. Die technischen Systeme von heute sind also: nervös. Selbstfahrende Autos, Pakete-liefernde Drohnen oder Algorithmen, die für die Polizei Muster und Anomalien erkennen und die Wahrscheinlichkeit von Verbrechen voraussagen sollen. Ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft sind oft unkontrollierbar.
"Wenn wir sagen, das System selbst ist nervös, dann meinen wir vor allem solche Systeme, wie sie in der Terrorabwehr zum Einsatz kommen oder auch wie der Stadtstaat Singapur sie für das gesamte Leben in Singapur einsetzt, wo permanent versucht wird, in einer Grundnervosität das Unbekannte vorherzusagen und alle Prozesse technologischer und sozialer Art in Muster zu übersetzen und zu antizipieren. Diese Form von Antizipation ist ein großes Problem für die sozialen, dynamischen Prozesse selbst, weil sozusagen erst determiniert wird, was überhaupt möglich ist."
Vom "nervösen Zeitalter" spricht man eigentlich für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg.
"Eine Bezeichnung, die heute umso mehr Sinn zu machen scheint."
Kapitalismuskritik – sperrig geschrieben
Denn Anselm Franke und die anderen Autoren wählen die Metapher des Nervensystems vor allem, um den Kapitalismus ins Visier zu nehmen: Der Autoverkehr soll mithilfe von Datenanalysen so gesteuert werden, dass es keine Staus mehr gibt.
"Ein militarisierter Polizeistaat-Kapitalismus ist die wahrscheinlichste Folge dieses Trends – und ein solcher wird vermutlich von nationalen Bevölkerungen begrüßt werden, die im aufkommenden Chaos nach jeglicher Art von Sicherheit streben."
Im Band "Nervöse Systeme" kommen vor allem Medien- und Kulturtheoretiker zu Wort. Sie alle untersuchen, wie zeitgenössische Kunst - Filme, Fotografien, Bücher - mit Digitalität umgeht. Obwohl der Titel pointierte Aussagen verspricht, sind die Texte sperrig, hochwissenschaftlich geschrieben, ihr Verständnis muss man sich an vielen Stellen hart erkämpfen.
Keine Arbeit mehr für Menschen
Die digitale Technik ändert vor allem unsere Arbeitswelt. Wie kommt das im Band zur Sprache? Der Kunstkritiker Brian Holmes analysiert die Science Fiction-Fernsehserie "The Common Sense": Darin tragen Arbeiter ein elektronisches Übertragungsgerät im Mund. Es sendet ihnen Gefühle, die sie zu mehr Leistung motivieren sollen. Ein ähnliches Beispiel kommt aus der Realität: Bei Amazon dirigiert eine Software die Lagerarbeiter von einem Abholauftrag zum nächsten und misst ihre Zeit für die Wege. Computergesteuerte Effizienz – bis zu dem Punkt, an dem für den Menschen keine Arbeit mehr übrig bleibt.
"Die Firma CompuServe stellte in einer Werbung von 1982 die Zukunft als sauberen, weißen Raum mit glatten Wänden dar, zwischen denen adrett weiß gekleidete weiße Mittelschichtler mit weißen Gegenständen auf ihren Regalen nicht mehr arbeiten müssen, weil Rechner ihnen alle Arbeit abnehmen. Arbeit und Freizeit: Um beides kümmert sich der Computer. Das Leben der Menschen wird schöner, effizienter, besser."
Das Buch: kompliziert und wenig konkret
Unser Leben hat Wert, wenn es produktiv ist. Aber was tun die Menschen, die weiß gekleideten dort zwischen den glatten Wänden, wenn sie in naher Zukunft keine Arbeit haben? Wie definiert sich der Mensch dann? Das ist die Schwäche des Buches. Es reflektiert kritisch die Übermacht der Technik in den Händen großer Unternehmen. Es fordert politische Institutionen, die unsere Persönlichkeitsrechte schützen. Es weist auf Karl Marx hin, darauf, dass Arbeit im Kapitalismus alles Konkrete und Sinnliche verliert. Doch es fehlt der Blick in eine Zukunft, in der laut Prognosen jeder zweite Deutsche seine Arbeit an Roboter verlieren wird – und das schon in 20 Jahren. Anselm Franke fordert:
"Wir müssen uns der Skripte und Modelle bewusst werden, nach denen unsere Lebenswelt sich strukturiert, um diese modifizieren und ablehnen zu können."
Brian Holmes wünscht sich – ohne es weiter zu erklären - eine alternative Macht und eine ökologische Ästhetik. Was soll das bedeuten? Das Buch ist kompliziert und unkonkret – und das wiederum ziemlich frustrierend.
Buchtitel: "Nervöse Systeme".
4. Band der Bibliothek "100 Jahre Gegenwart" (Haus der Kulturen der Welt).
Herausgeber: Anselm Franke, Stephanie Hankey, Marek Tuszynski
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Seiten: 224, Preis: 18,00 Euro
4. Band der Bibliothek "100 Jahre Gegenwart" (Haus der Kulturen der Welt).
Herausgeber: Anselm Franke, Stephanie Hankey, Marek Tuszynski
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Seiten: 224, Preis: 18,00 Euro