"Das Leben ist ein unkontrollierbares Universum, eine Art Chaos ohne Form und letztendlich nicht zu erklären. Wir rationalisieren es, um es erzählbar zu machen und zu verstehen."
Für Antonio Tabucchi endete die wirkliche Welt nie dort, wo sie gemeinhin endet, sondern franste an den Rändern aus. Totenreich, Traumgespinste und die tatsächliche Realität waren Sphären, zwischen denen seine Figuren problemlos hin und herwechseln konnten. Oft war nicht einmal ganz sicher, welcher sie angehörten. Deshalb passt es, dass er in dem schmalen Band "Für Isabel", der jetzt aus dem Nachlass erschienen ist, ein Mandala zum Kompositionsprinzip erhebt und einen polnischen Schriftsteller auf die Suche nach einer alten Freundin schickt.
Der Krimi als Weg zur Erkenntnis
Dieser Mann, zugleich der Ich-Erzähler dieses schwerelosen Prosastückes, nennt sich Waclaw und kehrt nach vielen Jahrzehnten nach Lissabon zurück, wo er während der Salazar-Diktatur eine Liebesbeziehung mit eben jener Isabel unterhielt. Die junge Frau verschwand damals auf rätselhafte Weise, und nun scheint der Zeitpunkt gekommen, ihrem Verbleib nachzuspüren. Wie in vielen Romanen Tabucchis gibt es eine untergründige Krimihandlung. Dazu der Autor:
"Der Krimi interessiert mich, weil es eigentlich um Untersuchungen geht. Es handelt sich um eine Literatur des Nachforschens. Man fragt nach den Ereignissen, wie alles passierte und versucht, unlogische Zusammenhänge in einen logischen Zusammenhang zu bringen. Der Krimi liefert also ein Werkzeug zur Erkenntnis, er ist eine Form von Erkenntnis. Gleichzeitig ist die Literatur sowieso eine Form der Erkenntnis. Keine logische, wie die von Wittgenstein, sie gehört einer anderen Form von Logik an, keiner rationalen, sondern einer intuitiven. In meinen Büchern klären sich die Geheimnisse allerdings nie vollständig auf. Die Lüge ist eben eine einzige, aber es gibt unzählige Wirklichkeiten."
Von außen nach innen
Diese unzähligen Wirklichkeiten deckt Waclaw in Gesprächen mit neun verschiedenen Personen auf, denen jeweils ein Kreis des Mandalas gewidmet ist. Ein Mandala, eine religiös aufgeladene geometrische Figur aus dem Buddhismus, ist immer auf seinen Mittelpunkt bezogen. Den Kern bildet hier die gesuchte Frau. Die Bewegung geht von außen nach innen und folgt dem Lebensfaden Isabels, über die das Gerücht kursiert, sie sei im Gefängnis gestorben.
Am Anfang der Serie steht eine Jugendfreundin, der nächste Kreis gehört ihrer alten Kinderfrau, bei der Isabel nach dem frühen Tod der Eltern wohnte, daran knüpft sich eine Begegnung mit einer amerikanischen Saxophonistin, schließlich besucht Waclaw einen ehemaligen Gefängniswärter, dann einen Fotografen, damals ein klandestiner Kommunist, und am Ende trifft er noch auf eine Genossin, einen Dichter, eine Astrophysikerin und einen Geiger.
Gratwanderung zum Surrealen
Ihre Dynamik gewinnen die Kapitel aus einem eleganten Wechselspiel zwischen Vermutungen, Gegenbehauptungen und überraschenden Kehrtwendungen, die immer wieder neue Elemente ins Spiel bringen. Isabel könne von ihm schwanger gewesen sein, nimmt Waclaw an. Oder gab es noch einen zweiten Liebhaber? Eine Fotografie taucht auf, aufgenommen am Flughafen, dabei war schon eine Totenmesse für sie zelebriert worden.
Zufallsbegegnungen leiten den Rechercheur ebenso weiter wie geplante Treffen. Aber je mehr Waclaw erfährt und je näher er dem Zentrum rückt, desto mehr scheint sich die Frauengestalt zu entziehen. Schließlich katapultiert sich der Erzähler bis nach Macao und von dort in die Schweiz, bis im neunten Kreis der Bahnhof eines kleinen Ortes an der italienischen Riviera erreicht ist und die Handlung vollständig ins Surreale abgleitet.
"Die Literatur ist für mich eine Wirklichkeit. Eine andere, als die, die wir wahrnehmen. Ich habe nie an den realistischen Roman geglaubt. Literatur hat mit Wirklichkeit überhaupt nichts zu tun. Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose, sagte Gertrude, aber das Wort Rose stimmt nicht mit der Blume überein, dazwischen liegt eine immense Distanz. Literatur und Schreiben sind eine andere Wirklichkeit, ein anderer Raum, was nicht bedeutet, dass sie weniger wahr wäre als das Alltägliche, was man immer vor sich hat."
Ein "Fossil" aus Tabucchis Nachlass
Antonio Tabucchi, 1943 in Vecchiano bei Pisa geboren, im Brotberuf Universitätsprofessor für Portugiesische Literatur, großer Pessoa-Experte und 2012 nach kurzer, schwerer Krankheit verstorben, schrieb die Prosa-Meditation "Für Isabel" bereits in den neunziger Jahren nieder, verzichtete aber auf eine Veröffentlichung und ließ die sieben Schulhefte in Obhut einer Freundin zurück. Er bezog sich mehrfach auf diesen Torso und nannte ihn "ein merkwürdiges Wesen, wie eines auf einem Stein hockendes Fossil eines noch unerforschten Käfers".
Kurz vor Ausbruch seiner Krankheit ließ er sich die Hefte zurückgeben und spielte offenkundig mit dem Gedanken, den Text zu veröffentlichen. Dazu kam es nicht mehr, ebenso wenig wie zu einer erneuten Durchsicht. Seine Frau Maria José de Lancastre und sein Verleger Carlo Feltrinelli entschieden sich dennoch für die Publikation.
Tabucchis Formulierung, es handele sich um ein "Fossil" würde ein hybrides Gebilde nahelegen, tatsächlich ist "Für Isabel" aber aus einem Guss. Weder stilistisch noch kompositorisch gibt es Brüche. Mit seinem typischen traumwandlerischen Gestus bündelt der Verfasser seine großen Lebensthemen: Die Frage nach Widerstand in einem in sich geschlossenen politischen System, die Frage nach dem Wesen der Zeit und die Überlegung, dass sich eine derartige Kategorie unmöglich nur in Richtung Zukunft ausdehnen kann.
"Ich habe seit jeher viel über die Zeit nachgedacht, oft auch auf einer unbewussten Ebene. Es ist eine Dimension, über die wir eigentlich noch nicht sehr viel wissen. Sind wir es, die wir die Zeit durchqueren oder durchquert die Zeit uns? In vielen meiner Bücher spielt sich vor allem die Liebe außerhalb der Zeit ab. Sich jenseits der Zeit zu befinden, erzeugt ein Schwindelgefühl, eine gewisse Trunkenheit, so als falle man eine Treppe hinunter. Merkwürdigerweise gibt es einen Zusammenhang mit der Wahrnehmung des Raums. Meine Figuren kommen oft zu früh oder zu spät mit ihren Erfahrungen, sie passen nicht in ihr Leben, sie haben das Gefühl, in Bezug auf sich selbst verspätet zu sein."
Alles folgt dem Prinzip des Mandalas
In den neun Mandala-Kreisen, die Isabel immer wieder neu vergegenwärtigen, klingt auch diese Erkenntnis an. "Für Isabel" ist die elegante erzählerische Variation eines Mandalas. Alles folgt dem Formprinzip des Kreises: der Rhythmus der Satzketten, die Folge der Figuren, die Anordnung der Schauplätze. Isabel ließe sich auch als eine Figuration für die Dichtung an sich deuten, so wie es der italienischen Tradition mit Dantes Beatrice und Petrarcas Laura entspricht. Seine Schönheit gewinnt dieses Buch aus der Atmosphäre, die Tabucchi zu erzeugen versteht. Am Ende taucht Isabel selbst natürlich auf. Im Jetzt. Oder doch im Damals?
"Ich bin ein Detektiv, der an einem bestimmten Punkt die Kündigung einreicht. Vielleicht strecke ich angesichts der Wirklichkeit die Waffen."
Antonio Tabucchi: Für Isabel. Ein Mandala.
Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl
Carl Hanser Verlag München, 174 Seiten, 16,90 Euro
Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl
Carl Hanser Verlag München, 174 Seiten, 16,90 Euro