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Aphorismen mit einem gewissen elitären Dünkel

In seinem neuen Buch "Größenwahn passt in die kleinste Hütte" macht Thomas Lehr kurzen Prozess mit der großen Form: Geschichten und Gedanken - über das Fernsehen, die Tierliebe oder die Monogamie - hat er in Miniaturen gefasst. Wirklich originelle Beobachtungen aber sind in der Minderzahl, meint Rezensent Martin Krumbholz.

Von Martin Krumbholz | 14.11.2012
    "Kurze Prozesse": Das klingt bedenklich. Kurze Prozesse kennt man aus Diktaturen. So kann es nicht gemeint sein. Wie aber dann? Will der Autor sagen, dass er Denkprozesse abkürzt, oder dass er uns und unserem Leben oder unserem Lebensverständnis einen kurzen Prozess macht? Schlagen wir das schmale Buch an einer beliebigen Stelle auf und lesen:

    "Heutzutage ist man tierfreundlicher geworden. So wickelt man toten Fisch kaum mehr in Zeitungen."

    Zwei kurze Sätze, eine Pointe, vor allem aber: eine Melodie, eine Tonart. Kein Moll, denn es ist kaum anzunehmen, dass der Autor sich nach Zeiten sehnt, in denen man toten Fisch in Zeitungen gewickelt hat statt in Alufolie. Der Witz, den Lehr erzählt, ist ja nicht einmal schlecht. Es findet eine Inversion statt: Nicht mit Fischen hat der Mensch Mitleid, sondern mit Zeitungen. Dass das Schmunzeln darüber gefriert, ist sicher Absicht. Aber es ist eben auch: ein wenig zu sehr Absicht. Das riecht sozusagen – nicht nach totem Fisch, aber doch nach einer gewissen habituellen Misanthropie.

    "Erst der Flachbildschirm offenbarte die wahre Dimension des Fernsehens."

    Will sagen: das Fernsehen ist ohnehin und von Natur aus flach. Dass Flachbildschirme immerhin eine erfreuliche Auflösungsschärfe produzieren, interessiert den Verfasser nicht; er will ja auf die Kulturkritik hinaus. Und mit dieser ist er von vornherein auf der sicheren Seite.

    "Worauf es ankäme, wären Kunst, Philosophie und Liebe. Bezahlt werden Kitsch,Technik und Prostitution."

    Der doppelte Dreiklang sitzt. Schneidend scharf kommt das daher. Es mag zutreffen, dass Kitsch, Technik und Prostitution gutbezahlte Dienstleistungen sind. Aber kann Technik dem Menschen nicht ebenso nützen wie Philosophie? Und dass "Kitsch" unter allen Umständen höher im Kurs steht als "Kunst", kann man zwar leicht unterstellen, lässt sich aber kaum beweisen. An vielen Stellen verfestigt sich der Eindruck, dass Thomas Lehr von allem, was der Mensch hervorzubringen imstande ist, nur geistige Leistungen im engsten Wortsinn gelten lässt, wie in dieser bezeichnenden Anekdote:

    "Ich saß in einem Café und hörte plötzlich eine faszinierend sichere und dunkle Frauenstimme sagen: 'Ach, ich habe gleich gewusst, der Stoff gibt etwas her." Aber noch bevor ich mich umdrehen konnte, setzte sie hinzu: "Sie hat ein prima Hängekleid daraus gemacht.'"

    "Auf und nieder" ist dieser Passus betitelt, damit dem Leser ja nicht entgeht, wie sehr es den armen Autor bei dem Schreckenswort "Hängekleid" schüttelt. Mit anderen Worten: Ein Stoff kann unseren Autor selbstverständlich nur dann interessieren, wenn es sich um einen ideellen handelt; nach einer Person, die sich mit Textilien befasst, mit schlichter Materie, lohnt es sich nicht umzudrehen. Welch eine Enttäuschung liegt bereits darin, an einem öffentlichen Platz keiner Gleichgesinnten, keinem geistigen Stoffverwerter wie unsereinem zu begegnen, sondern einer vulgären Schneiderin! Es ist denn doch ein gewisser elitärer Dünkel, der sich wie ein roter Faden durch das Bändchen zieht. Ein Dünkel, der sich gelegentlich mit einer seltsamen Art des Selbsthasses mischt:

    "Das Unbegreifliche an den Frauen ist ihre Fähigkeit, Männer zu lieben."

    Natürlich steckt hinter so einem Satz die Absicht, so sehr zu übertreiben und zu verallgemeinern, dass aus einer bloßen Feststellung ein Aphorismus wird. Oft ist nicht die Übertreibung das Problem, sondern die Verallgemeinerung. Aber warum und in welcher Hinsicht wäre es unbegreiflich, wenn Frauen – im Allgemeinen – Männer lieben könnten? Und wie wäre es umgekehrt? Warum ist es dann nicht ebenso unbegreiflich, dass Männer Frauen lieben können? Nach dem Umkehrschluss sucht man denn doch vergeblich. Denn auf so plumpe Art und Weise möchte es sich Thomas Lehr mit seinen Leserinnen auf keinen Fall verderben. Andererseits ist es keineswegs so, dass man vielen Sätzen in diesem Band nicht ohne zu zögern zustimmen könnte. Den meisten Sätzen kann man sogar viel zu widerstandslos zustimmen. Das sind dann die weniger interessanten Sätze. Die wirklich originellen Beobachtungen, wie hier, sind in der Minderzahl:

    "Die Nachrichtensprecher und die Dauermoderatoren sehen tief nach innen, daher rührt ihr Erfolg. Fast jeden Abend derselbe Mensch, der so betroffen in dein Wohnzimmer starrt, als hinge dort klein gedruckt seine eigene Todesanzeige an der Wand, die er vergeblich zu entziffern trachtet. So werden sie dressiert."

    Ohne den triumphalen Schlusssatz – "So werden sie dressiert" – wäre der Passus noch triftiger. Bis dahin ist es eine Pointe, dann folgt wieder die unentbehrliche Kulturkritik, die der Autor sich einfach nicht verkneifen kann. Dass aber der Nachrichtensprecher just in unserem Wohnzimmer seine Todesanzeige entdeckt, ist eine nicht nur gruselige, sondern irgendwie auch einleuchtende metaphysische Pointe, schließlich geht es in den meisten Nachrichten um Tote. Einmal bekennt der Verfasser schnörkellos:

    "Manchmal gehe ich so gerne schlafen, dass ich mir vorstellen kann, mich einmal auf den Tod zu freuen."

    Auch das: eine verblüffende Beobachtung. Man könnte sich mehr an ihr erfreuen, wenn sie nicht umstellt wäre von der x-fachen Anzahl an - Plattitüden wäre ein zu hartes Wort, aber an weniger überraschenden Einsichten:

    "Die Medizin ist das erste Kapitel des Todes."

    Dazu nickt man müde und denkt: Weiter im Text. Also bitte:

    "Jeder hat Eselsohren im Buch seines Lebens. Wer immer die gleichen Stellen aufschlägt, ähnelt bald dem besagten Tier."

    Nun ist die Neigung, "immer die gleichen Stellen aufzuschlagen", in der Tat weit verbreitet, und es steht uns nicht an, den Autor mit einem Esel zu vergleichen, auch wenn er uns dieses Angebot viel zu bereitwillig macht. Denn auch in diesem Buch werden immer wieder die gleichen Seiten auf- bzw. die gleichen Töne angeschlagen. Es ist der dumpfe Missklang der Griesgrämigkeit, der schlechten Laune und des Lebensekels, der das Büchlein regiert. Zum Lachen bringt es uns selten, eher schon mal zu einem betroffenen Schlucken. Zum Beispiel hier:

    "Leidenschaftlich monogam zu sein, das lasse ich als Kunstwerk gelten."

    Olala: Dies können, ja müssen auch wir als einen trefflichen Aphorismus gelten lassen.

    Thomas Lehr: Größenwahn passt in die kleinste Hütte. Kurze Prozesse.
    Hanser Verlag 2012, 107 Seiten, 12,90 Euro