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Aporien der Demokratie
Vom Widerspruch politischer Grundwerte und Prinzipien

Die Demokratie gilt als anzustrebendes System. Das Volk hat die Macht - kein Gott oder König. Doch wenn die Staatsgewalt vom Volke ausgeht, kommt es dann zu einer Diktatur der Mehrheit? Und was bedeutet die Säkularisierung für die Demokratie? Ist der Bürger dadurch geschützt vor der Herrschaft der Religion oder garantiert sie die Religionsfreiheit?

Von Monika Boll |
    Namentliche Abstimmung von Parlamentariern mit Stimmkarten in die Wahlurne.
    Sind politische Prinzipien wie Rechtsstaat, Demokratie und die Trennung von Staat und Religion unwidersprochen gültig? (dpa / picture-alliance / Michael Kappeler)
    In den aktuellen Debatten wird sie immer wieder eingefordert: die Anerkennung unserer politischen Prinzipien. Rechtsstaat, Demokratie und die Trennung von Staat und Religion führen den Kanon an. Aber so unwidersprochen gültig und fraglos evident, wie sie auf den ersten Blick scheinen, sind sie nicht.
    Die politischen Grundwerte bergen jeder für sich ein widersprüchliches Potenzial. Und auch im Verhältnis zueinander werfen sie vielerlei Fragen auf.
    Was genau hat es mit dem innersten Prinzip der Demokratie, der Souveränität des Volkes auf sich?
    Verkörpert der freie Wille des Volkes neben dem basisdemokratischen Ideal auch die Herrschaft der Mehrheit?
    Und was bedeutet die Trennung von Staat und Religion? Verspricht sie Freiheit von der Herrschaft der Religion oder das Recht auf Religion?
    Und kann in strittigen Fällen, etwa bei Ansprüchen von Minderheiten, der Rechtsstaat das letzte Wort beanspruchen? Geraten damit aber nicht Demokratie und Rechtsstaat in ein Konkurrenzverhältnis?
    Wenn ja, auf welche Autorität kann sich das Recht, wo es als letztgültige Instanz in einem säkularen Staat auftritt, noch berufen?
    Fragen, die nahelegen, dass konkurrierende Prinzipien die Demokratie wesenhaft bestimmen und dass eine Gesellschaft, die sich auf sie beruft, nicht als einmal gesicherter Status Quo zu haben ist.
    Das Volk, der Souverän
    Es gibt wohl kein politisches System, das so uneingeschränkt anerkannt ist, wie die Demokratie. Während andere Staatsformen, die Monarchie, der Sozialismus, ganz zu schweigen von Diktatur und Faschismus, abgewirtschaftet haben, erstrahlt die Demokratie als unhinterfragbarer politischer Wert an sich. Wer sie ablehnt, macht sich fast schon moralisch suspekt.
    Eine Schwarz-Weiß-Zeichnung zeigt eine aufgebrachte Menschenmenge, die die abgeschlagenen Köpfe des ermordeten Gouverneurs der Bastille Delaumay und des Bürgermeisters Flesselles am 14.7.1789 durch die Straßen von Paris trägt. Dieser Tag markiert den Beginn der Französischen Revolution.
    Eine aufgebrachte Menschenmenge trägt die abgeschlagenen Köpfe des ermordeten Gouverneurs der Bastille Delaumay und des Bürgermeisters Flesselles am 14.7.1789 durch die Straßen von Paris. Dieser Tag markiert den Beginn der Französischen Revolution. (dpa / picture alliance )
    Kein Gott, kein König, kein Fürst - das Volk selber soll regieren. Am Ausgangspunkt der Demokratie steht die Verwandlung des Untertanen in den Staatsbürger. Bis dahin unterstand das Volk seinem Monarchen, dem durch Gott legitimierten Souverän und Inhaber der Staatsgewalt. Mit der französischen Revolution geht die Souveränität auf das Volk über, durch nichts legitimiert als durch sich selber und die Berufung auf eine allen Menschen gleiche Natur. Ein wahrhaft revolutionärer Vorgang. Das Volk als Ganzes erklärt sich zum Souverän und Inhaber der Staatsgewalt. Die Revolutionäre führten dafür den Ehrentitel "Citoyen" ein, mit dem sie sich untereinander anredeten. Citoyen bedeutet der stolze und freie Bürger, der das Allgemeinwohl vertritt.
    "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.",
    lautet Artikel 20 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland. Ein Satz wie ein Fanal. Aber das allein reichte dem Parlamentarischen Rat nicht aus, als er 1949 das Grundgesetz verabschiedete. Mit der Erfahrung des Nationalsozialismus vor Augen erhielt der Artikel 20 eine zusätzliche Absicherung. Die sogenannte Ewigkeitsklausel des Artikels 79 besagt, dass der Grundsatz "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus" von der Möglichkeit einer Verfassungsänderung per se ausgenommen ist. So ernst war es der Gründergeneration mit der Volkssouveränität und so groß war ihr demokratisches Pathos. Einen ebenso hohen Status genießt im Grundgesetz nur noch Artikel 1, der die Unantastbarkeit der menschlichen Würde festschreibt. Und doch hat das urdemokratische Ideal auch seine Aporien.
    Die Diktatur der Mehrheit
    In Minderheitenfragen ist der Wille des Volkes oft kein guter Berater, beispielsweise bei Gleichstellungsforderungen von Homosexuellen. Irland und Slowenien haben vor kurzem einen Volksentscheid über die Einführung der Homoehe durchgeführt. Die katholischen Iren stimmten überraschenderweise zu, die Slowenen lehnten mehrheitlich ab und hoben damit die bereits gültige Gleichstellung in ihrem Land an der Wahlurne wieder auf. Es stellt sich die Frage, warum eigentlich eine mehrheitlich heterosexuelle Bevölkerung einer Minderheit verwehren kann, was sie sich selber zugesteht? Schlägt hier nicht das urdemokratische Referendum in eine Diktatur der Mehrheit um?
    Ein anderes Feld, auf dem Mehrheitswille und Minderheitenansprüche immer wieder neu ausgehandelt werden müssen, ist die Frage kultureller Identität. Sie ergibt sich mit den neuen Herausforderungen einer Einwanderungsgesellschaft. Früher erwartete man von Zuwanderern wie den Gastarbeitern, die nach Deutschland kamen, dass sie als Gruppe weitgehend unsichtbar blieben. Heute treten die Einwanderer viel selbstbewusster auf und fordern eine Anerkennung ihrer kulturellen Identität. Die neue Identitätspolitik unterscheidet sich vom traditionellen Universalismus der Menschenrechte, insofern es nicht nur um die Persönlichkeitsrechte Einzelner geht, sondern um das Wir-Gefühl einer Gruppe. Sie verlangen nach Integration in die Mehrheitsgesellschaft, aber nicht um den Preis der Assimilation. Selbstbezeichnungen wie Deutsch‑Türke oder Deutsch-Russin drücken das neue hybride Identitätsverständnis aus. Es soll auch sichtbar sein, etwa in der Kleidung, den Essgewohnheiten, der Einhaltung religiöser Riten oder der Errichtung eigener Sakralbauten.
    Lächelnd stehen drei italienische Gastarbeiter 1961 vor einem modernen Junggesellenheim in Braunschweig. Sie bewohnen dort ein Zimmer im 11. Stock. In dem Wohnblock stehen rund 250 Betten für alleinstehende, ausländische Arbeitnehmer zur Verfügung. Die Zimmer, die mit ein bis drei Mann belegt werden, liegen im 9. bis 11. Stockwerk und kosten inklusive Heizung und Wäsche zwischen 55 und 62 Mark.
    Gastarbeiter verhielten sich unauffällig: Lächelnd stehen drei italienische Gastarbeiter 1961 vor einem Junggesellenheim in Braunschweig. (dpa / picture-alliance)
    Diese Pluralisierung der Kulturen und Religionen stellt auch für die traditionell eher homogene Mehrheitsgesellschaft eine nicht gering zu schätzende Herausforderung dar. Die Forderung nach Anerkennung von kollektiven Identitäten widerspricht dem herkömmlichen Verständnis des Pluralismus, das vom Individuum ausgeht. Denn je sichtbarer eine Minderheit als Gruppe in Erscheinung tritt, desto größer die Befürchtung der Mehrheit, dass von ihr die Gefahr eines Staates im Staat ausgehe. Diese Ansicht reicht bis zur Französischen Revolution zurück, die die Gleichheit aller Individuen erkämpfte, aber Sonderrechte für Minderheiten strikt ablehnte. Bestes Beispiel hierfür ist die Emanzipationsgeschichte der französischen Juden. Der erste Präsident der Nationalversammlung, Graf Clermont-Tonnerre, forderte im Jahr 1789:
    "Den Juden als Nation ist alles zu verweigern, den Juden als Menschen aber ist alles zu gewähren."
    Das hieß für den einzelnen Juden, dass er als französischer Citoyen die Rechte eines freien Bürgers und die Gleichheit vor dem Staat erlangte. Für die jüdische Gemeinde aber hieß es, dass sie ihre alte Gemeindeautonomie und damit einen Teil ihrer kulturellen Identität aufgeben musste. Juden sollten nun Franzosen und nichts als Franzosen sein.
    Hier besteht die Gefahr, dass der Mehrheitswille des Volkes in die Forderung nach differenzloser Homogenität umschlägt. So geschehen auch im Schweizer Minarettstreit 2009, als die Schweizer in einem Volksentscheid ein Bauverbot für Minarette durchsetzten. Auch hier hatten die Ansprüche einer Minderheitengruppe auf sichtbare kulturelle Identität schon numerisch keine Chance auf Anerkennung.
    Wo die Anteile direkter Demokratie und damit die Souveränität des Volkes hoch veranschlagt werden, wird noch eine andere Aporie des Volkswillen deutlich. Der Wille als Quelle politischer Legitimation ist kein sicheres Fundament, auf dem sich eine langfristige Politik aufbauen lässt. So frei er ist, so wankelmütig ist er auch. Er ändert sich ununterbrochen und müsste daher ständig aufs Neue abgefragt werden. Schon der französische Philosoph Ernest Renan hatte den Volkswillen 1882 in seiner berühmten Rede "Was ist eine Nation?" als ein "tägliches Plebiszit" charakterisiert. Auch dieses Dilemma trat bereits während der Revolution zu Tage, der es kaum gelang, eine dauerhafte Verfassung zu etablieren. Zwischen 1791 und 1795 gab es allein drei Verfassungen, die jeweils neuen Abstimmungen zum Opfer fielen.
    Verfassung und Recht als Gegengewicht
    Gegen dieses Risiko der Austauschbarkeit, das einer permanenten Revolution gleichkommt, sollte das Grundgesetz der Bundesrepublik mit der Ewigkeitsklausel abgesichert werden. Deutschland pflegt im Unterschied zu anderen Ländern einen eher zurückhaltenden Umgang mit Referenden. Man kann es als Betrug am Wähler oder als weise Voraussicht bewerten, dass über das Grundgesetz, und damit auch über den Artikel 20, demnach alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, niemals per Volksabstimmung entschieden wurde. 1949 nicht und 1990 auch nicht. Das Grundgesetz soll Solidität symbolisieren. Der Stellenwert, der im Nationalsozialismus dem Nationalismus zukam, sollte 1949 auf die Verfassung übergehen. Die Bürger der Bundesrepublik sollen sich nicht als Volksgemeinschaft, sondern über ihre Verfassung mit ihrem Staat identifizieren. Genau darauf zielt der Begriff
    "Verfassungspatriotismus". Das ist offenbar geglückt, denn bis heute umstrahlt das Grundgesetz eine Aura der Unantastbarkeit.
    Zu den demokratischen Errungenschaften des Grundgesetzes gehört auch Artikel 4:
    "Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich. Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet."
    Dieses Recht des Einzelnen konkurriert mit der Verpflichtung des Staates zur Neutralität in weltanschaulichen und religiösen Fragen. Zusammen ergeben beide Prinzipien die Trennung von Staat und Religion. Sie erwuchs aus der europäischen Geschichte mit den Erfahrungen der Religionskriege. Wo religiös verfeindete Gruppen im Namen der absoluten Wahrheit die Macht im Staat beanspruchten, blieb den Unterlegenen nur die Wahl zwischen Konversion, Exil oder Tod. Heute führt Europa keine Religionskriege mehr, sie finden anderswo statt, in Syrien, in Libyen oder im Irak.
    Aber auch in Deutschland stößt die Trennung von Staat und Religion nicht nur auf begeisterte Zustimmung. Allerdings sind es hier nicht Religionen, die untereinander in Konkurrenz treten, sondern der Grenzverlauf als solcher steht immer wieder zur Debatte.
    Was genau hat es also mit der Unterscheidung von Staat und Religion auf sich?
    Die Trennung garantiert zugleich die Freiheit von der Herrschaft der Religion als auch das Recht auf Religion. Bei der immer wieder aufflammenden Debatte um das Kopftuch gerät das jedoch öfter aus dem Blick. Dann sieht es so aus, als verbiete der Staat muslimischen Frauen das Tragen des Kopftuchs und verwehre so das Grundrecht auf Glaubensfreiheit. So ist es aber nicht. In allen Bereichen der Gesellschaft: zu Hause, auf der Straße, im Büro oder im Sportverein hat Artikel 4 Vorrang. Einzig ausgenommen hiervon sind Staatsbeamte und -beamtinnen, weil sie in ihren Berufen die Neutralität des Staates repräsentieren. Also etwa Richterinnen, Lehrer, Polizistinnen. Bei diesem Kreis gerät gelegentlich die Selbstwahrnehmung als Privatpersonen und als Staatsbeamte, das heißt das Recht auf Glaubensfreiheit, mit dem Neutralitätsgebot in Konflikt. Dieses Dilemma hat dann wohl auch das Bundesverfassungsgericht bewogen, ein älteres Urteil zu revidieren. Auf Grund der Klage von zwei muslimischen Lehrerinnen ist das Tragen des Kopftuches an Schulen in Nordrhein-Westfalen neuerdings nicht mehr generell untersagt, sondern nur noch in Fällen, wo es den Schulfrieden stört. Das heißt konkret: Der jeweilige Schulleiter oder die Schulleiterin muss im Fall von Beschwerden von Seiten der Kollegen, Schüler oder Eltern für Ausgleich sorgen.
    Fereshta Ludin mit weißen Kopftuch - hier aufgenommen 2004 im Leipziger Bundesverwaltungsgericht.
    Fereshta Ludin - hier aufgenommen 2004 im Leipziger Bundesverwaltungsgericht - hat einen langen Weg durch juristische Instanzen hinter sich. (picture-alliance / dpa / Peter Endig)
    Ist das tatsächlich eine gute Lösung? Oder zieht sich das Verfassungsgericht hier aus seiner Verantwortung und gefährdet selber den Schulfrieden?
    Die Lehrerin Fereshta Ludin wird das neue Urteil begrüßen, denn sie hatte schon 2003 vor dem Verfassungsgericht argumentiert:
    "Das Kopftuch ist ein Teil meiner religiösen Überzeugung und inzwischen meiner Glaubensidentität. Deswegen trage ich es nicht nur in der Schule, sondern allgemein in der Öffentlichkeit. Und ich denke, solange ich niemanden dazu zwinge, es auch zu tun - wo ist darin ein Problem zu sehen?"
    Wo könnte ein Problem darin zu sehen sein? Zunächst einmal fällt auf, dass diese Argumentation eine hohe Sensibilität für die eigene Glaubensidentität zeigt, aber gar keine für die Rolle als Staatsbeamtin. Warum sollte, wer sich für den Beamtenstatus entscheidet, sich damit nicht auch identifizieren? Andernfalls könnten sich nicht-muslimische Schüler durch das religiöse Bekenntnis der Lehrerin übergangen fühlen, so wie sich nicht-christliche Schüler in einem christlich dominierten Schulalltag nicht vertreten fühlen.
    Warum sollte es nicht für alle Konfessionen akzeptabel sein, wenn die Schule als staatliche Institution neutral auftritt, um niemanden religiös zu bevormunden? Lutz Geburtig, Leiter einer Schule in Berlin-Kreuzberg, sieht das allerdings anders:
    "Ich fände es ganz, ganz schade, wenn das Tragen eines Kopftuchs ein Einstellungshindernis ist. Ich akzeptiere als Schulleiter, aber auch als Privatmann, dass muslimische Frauen damit ihre Religiosität beziehungsweise einfach ihre Lebenseinstellung ausdrücken wollen. Und das ist auch durchs Grundgesetz abgedeckt. Und deswegen ist das auch in Ordnung und richtig."
    Auch Lutz Geburtig beruft sich allein auf Artikel 4 des Grundgesetzes und zwar, wie er ausdrücklich betont, sowohl als Leiter einer staatlichen Schule als auch als Privatmann. Aber müsste der Schulleiter Geburtig nicht eigentlich konträr zum Privatmann argumentieren? Eben weil er als Beamter jene Neutralitätspflicht des Staates repräsentiert, die Freiheit und Pluralität der verschiedenen Religionen erst ermöglicht?
    Es ist eine Merkwürdigkeit dieser Debatte, dass es für den politischen Grundwert der Trennung von Staat und Religion oft an Bewusstsein und auch an Berufsethos mangelt. Müssten Anwärterin und Anwärter auf eine Stellung bei Justiz, Polizei oder Schule zuvor nicht auch für sich selber prüfen und entscheiden, ob ihre religiöse Identität oder das Berufsethos als Repräsentant des Staates schwerer wiegt. Ein Staatsanwalt mit Kippa oder eine Richterin mit Kopftuch widersprechen dem Neutralitätsgebot ebenso wie das Kreuz im Gerichtssaal, das 2013 zu Beginn des NSU-Prozesses in München für Aufregung sorgte.
    Das Kreuz im Gericht des säkularen Staates hat etwas Provozierendes. Seine symbolische Botschaft wiegt sehr schwer. Sagt sie doch, dass jeder, der diesen Saal betritt, unterm Kreuz steht. Dass das von Juden und Muslimen, die ihre eigene historische Erfahrung mit dem Christentum haben, womöglich als Zumutung empfunden wird, kann nicht verwundern. Dennoch hatte die CDU-Politikerin Julia Klöckner, die auch Mitglied des "Zentralkomitees der deutschen Katholiken" ist, die Abnahme des Kreuzes beim NSU-Prozess als überflüssigen, vorauseilenden Gehorsam kritisiert und hinzugefügt:
    "Das Kreuz ist auch Ausdruck unserer Kultur. Das aufgeklärte Christentum und das christliche Bild vom Menschen sind Grundlagen unseres Grundgesetzes, auf dem unsere Rechtsprechung beruht."
    Julia Klöckner kann natürlich als christliche Politikerin eine christliche Weltanschauung vertreten, aber sie müsste berücksichtigen, dass das nicht für die Justiz des Landes gelten kann. Die Bundesrepublik ist ebenso wenig ein christlicher Staat wie ein islamischer Staat. Vielleicht fällt aber auch die Unterscheidung von Staat und Religion heute noch schwer, weil die realpolitische Entwicklung in Deutschland dem Prinzip der Trennung lange hinterher hinkte.
    Verzögerte Entkonfessionalisierung
    Das hatte vor allem mit der starken Re-Christianisierung zu tun, die auf das Ende des Nationalsozialismus folgte, bei der die christlichen Kirchen wieder großen Einfluss auf staatliche Institutionen gewannen. So war das Weltbild, das die Schulen vermittelten, lange christlich determiniert. Dies zeigte sich noch im Streit um die Entkonfessionalisierung des Unterrichts Anfang der 1960er-Jahre in Nordrhein-Westfalen. Hierbei hatte der damalige Düsseldorfer Ministerialdirigent Heinrich Holzapfel einem Philosophielehrer das Recht abgesprochen, eine atheistische oder materialistische Philosophie zu lehren, weil laut Landesverfassung jedes Kind in Ehrfurcht vor Gott erzogen werden müsse. Auch die Justiz der Bonner Republik argumentierte nicht weltanschaulich neutral, schon gar nicht in Fragen der Sittlichkeit. So findet man, ebenfalls noch in den 60er-Jahren, in einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs zum Ehestand folgende Zusatzerklärung:
    "Die Familie ist von Gott gestiftet und deshalb für den Gesetzgeber undurchbrechbar. Die Familie ist nach der Schöpfungsordnung eine streng ihrer eigenen Ordnung folgende Einheit. Innerhalb der strengen Einheit der Familie sind Stellung und Aufgaben von Mann und Frau durchaus verschieden: Der Mann zeugt Kinder; die Frau gebiert sie und zieht die Unmündigen auf. Der Mann sichert Bestand, Entwicklung und Zukunft der Familie; er vertritt sie nach außen; in diesem Sinn ist er ihr Haupt."
    Viele Muslime knien auf dem Boden und sprechen ein Friedensgebet gegen Extremismus in Kreuzberg, Berlin in Deutschland. Islamische Verbände halten Friedensgebet vor der Mevlana-Moschee ab, vor der vor einem Monat ein Brandanschlag verübt wurde. Eine Aktion des Zentralrats der Muslime, der Türkisch-Islamischen Union (Ditib), des Islamrates und dem Verband der Islamischen Kulturzentren (VIKZ).
    Muslime knien auf dem Boden und sprechen ein Friedensgebet gegen Extremismus in Berlin - Pluralisierung führt aber nicht automatisch zu mehr Toleranz. (imago/Mike Schmidt)
    Diese lange Verwobenheit von christlicher Weltanschauung und säkularer Demokratie hat zum einen etwas mit der besonderen Situation nach 1945 zu tun. Sie ist aber auch der Tatsache geschuldet, dass Deutschland nie so offensiv laizistisch war wie etwa Frankreich oder die Türkei. Die Verpflichtung des Staates zur weltanschaulichen Neutralität ist nicht als eigener Grundsatzartikel in der Verfassung verankert. Sie ergibt sich als logische Schlussfolgerung aus der Aufhebung der Staatskirche und damit auch der Staatsreligion. Beides wurde bereits nach dem Ersten Weltkrieg durch Artikel 137 der Weimarer Verfassung geregelt.
    Offenbar beinhaltet die Beziehung von Staat und Religion ein besonders großes Konfliktpotenzial für eine säkulare Demokratie, das es notwendig macht, den Verlauf der Trennlinie zwischen beiden Bereichen stets neu auszuhandeln. Heute heißt die Herausforderung nicht mehr Re‑Christianisierung. Stattdessen spricht man von einer postsäkularen Wende. Postsäkular meint, dass die Aufklärung der Moderne keine eindimensionale Entwicklung ist, die zwangsläufig mit dem Ende der Religion abschließen muss. Zwar ist ein Drittel der Gesamtbevölkerung in Deutschland heute konfessionslos und der Trend der Austritte aus den beiden christlichen Kirchen hält weiter an. In der Folge werden Kirchenbauten immer häufiger zu einer anderen Nutzung umgewidmet oder gar abgerissen. Andererseits gibt es aber auch eine steigende Pluralisierung von Religion. Religiöse Minderheiten, wie Juden und Moslems, pochen auf das Grundrecht religiöser Freiheit und wollen darin auch öffentlich sichtbar sein. Die teilweise heftigen Debatten um den Bau von Moscheen, das rituelle Schächten oder die Beschneidung zeigen, dass Pluralisierung nicht automatisch zu mehr Toleranz führt. Rituale anderer Religionen lösen oft Befremden und Unwohlsein aus. Den christlich Sozialisierten erscheinen Schächten und Beschneidung schnell als inhuman, während es Juden und Moslems schwer fällt, in einem gemarterten Menschen am Holzkreuz eine frohe Botschaft zu entdecken. Umso notwendiger ergänzen sich eine zunehmende Pluralisierung der Bekenntnisse und ein neutraler Staat, der ihre Freiheit garantiert, aber auch auf die Persönlichkeitsrechte beschränkt.
    Die Perspektive der Religion
    Aus der Sicht des säkularen Staates stellt Religion in den Grenzen einer privaten Konfession somit die Lösung eines alten feindlichen Antagonismus dar. Religion als Privatsache - ist das nicht die probate Antwort auf alle fundamentalistischen Bestrebungen? Gewiss. Aber wie stellt sich das Verhältnis aus Sicht der Religion dar? Ist das überhaupt noch Religion im ursprünglichen Sinn einer katholischen, das heißt allumfassenden Bindung an Gott? Ist das Verhältnis von Staat und Religion nicht ein sich wechselseitig ausschließendes? Der naive Aufklärer sieht Religion nur als Teil des liberalen Reglements, in dem sie bereits zur Privatangelegenheit sublimiert ist. Er kann nicht verstehen, warum Fundamentalisten da nicht freudig zustimmen.
    Deshalb sei hier auch einmal die andere Perspektive dargestellt. Schließlich befand sich auch das Christentum in einem langen Kampf mit der Aufklärung, den es am Ende nur um den Preis der Anpassung überstand. Denn die katholische Kirche, das bekundet schon ihr Name, erhebt Anspruch auf das ganze Leben der Gläubigen. Dass ihr andere Instanzen wie der Staat dabei ihre Vormachtstellung streitig machen, hat historisch ihre Entmachtung bedeutet. Der neutrale Staat als Wächter der Demokratie ist Konkurrent und Gegner einer Anschauung, nach der Gott und nicht der Staat die höchste Autorität darstellt. Und so sehen es fundamentalistische Gruppen, wie die Salafisten in Deutschland, auch heute. Auch das gehört zur postsäkularen Wende und zur Rückkehr der Religion. Wer heute im Namen von Aufklärung und Toleranz bei Fundamentalisten um Kompromissbereitschaft wirbt, der übersieht, dass es eine halbe, sozusagen reformierte Religion aus dieser Sicht nicht geben kann.
    Kardinäle und Bischöfe bei der Messe zur Amtseinführung von Papst Franziskus in Rom am 19.3.2013
    Kardinäle und Bischöfe bei der Messe zur Amtseinführung von Papst Franziskus. (dpa / picture alliance / Riccardo Antimiani / Eidon)
    Auch handelt es sich beim modernen Fundamentalismus, anders als oft behauptet, nicht um ein Nachhinken des Weltgeistes, der den Anschluss an das demokratische Zeitalter nur noch nicht gefunden hat. Dagegen spricht, dass der Fundamentalismus auch in solchen Staaten reüssieren kann, die eine Trennung von Staat und Religion schon einmal vollzogen hatten. Dass macht es leider nicht leichter, bedeutet es doch, dass der Fundamentalismus die Aufklärung nicht vor, sondern bereits hinter sich hat. Seine Anhänger können ihre Ablehnung der Trennung von Staat und Religion mit stichfesten Argumenten darlegen wie der in Ägypten geborene Brite Abu Hamsa el‑Masri:
    "Wir sagen von vornherein ohne taktische Verrenkungen, dass wir das gottesfeindliche Demokratieprinzip ablehnen. Das demokratische Prinzip ist irreführend, weil es nicht Allahs Willen und seine Rechtsprechung, die Scharia, als höchste Richtschnur anerkennt, sondern den Mehrheitswillen der Bevölkerung. Da wird Gottes Allmacht ausgeschaltet."
    Der Rechtsstaat als höchste Instanz
    Was den Status der Rechtsprechung betrifft, so gelten Recht und Gesetz auch in einem säkularen Staat als höchste Richtschnur, sie können sich allerdings nicht auf die Allmacht Gottes berufen. Es war hier schon die Rede von dem außerordentlich hohen Stellenwert der Verfassung in der Bundesrepublik. Als Gründungsurkunde der neuen Republik hob sie den Ausnahmezustand von Niederlage und Besatzungsmacht auf. Alle staatlichen Gewalten, und auch der Wille des Volkes, sind zuletzt an die Verfassung und an das Recht gebunden. In der Theorie bedingen sich die Souveränität des Volkes als Rechte setzende Instanz und der Rechtsstaat gegenseitig. Wenn sie jedoch in der Realität in Konkurrenz geraten, genießt das Recht als höhere Instanz Vorrang. Wäre es umgekehrt, wäre die Demokratie kein Rechtsstaat, sondern ein tägliches Plebiszit, das heißt eine Art permanente Revolution. Die säkulare Demokratie hat demnach ihre höchste Legitimationsquelle im Gesetz. Es schützt die Rechte des Einzelnen vor Übergriffen, auch solchen des Staates. Es verfügt das Gewaltmonopol des Staates und verhindert Selbstjustiz. Es garantiert Rechtssicherheit in Konfliktfällen und eine unabhängige Richterschaft.
    Aber auch hier tut sich ein Dilemma auf, das wie die anderen Aporien ebenso wesenhaft zur Demokratie dazugehört. Es ist die Frage nach der Legitimation des Rechts. Aus welcher Quelle schöpft sie? Nach allgemeinem Verständnis soll sich das Rechtssystem aus einem außergesetzlich geltenden Wertekanon sowie aus überzeitlichen Normen speisen. Ohne diese wäre die Akzeptanz einer allgemeinen Rechtsordnung schwer einzufordern. Andererseits lehrt die Erfahrung, dass Normen immer auch dem kulturellen und zeitlichen Wandel unterliegen. Das gilt vor allem für gesellschaftliche Moralvorstellungen. Man denke etwa an die lange Fortdauer des § 175, der noch bis 1969 einvernehmlichen Sex zwischen erwachsenen Männern als sittenwidriges Verhalten unter Strafe stellte. Oder an die streng nach Geschlechtern getrennte Rollenverteilung in Ehe und Familie, wie sie die hier schon zitierte Erklärung des Bundesgerichtshofs von 1960 verordnete. In beiden Fällen hat heute das Recht auf freie persönliche Entfaltung Vorrang, ohne dass der Staat interveniert.
    Aber woran soll sich die Rechtsprechung etwa in Fragen der allgemeinen Moral verbindlich und dauerhaft orientieren? Dies weist auf ein juristisches Dilemma, das selbst im Text des Grundgesetzes spürbar ist. In Artikel 2, Absatz 1 heißt es zu den Grundrechten:
    "Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt."
    Die Rechte anderer und die verfassungsmäßige Ordnung verstehen sich von selbst. Aber was genau ist das Sittengesetz? Der Staatsrechtler Günter Erbel definiert es folgendermaßen:
    "Das Sittengesetz ist die Summe derjenigen sittlichen Normen, die die Allgemeinheit als richtig anerkennt und als für das menschliche Zusammenleben verbindlich ansieht. Das Sittengesetz ist eine der drei Schranken der allgemeinen Handlungsfreiheit der freien Entfaltung der Persönlichkeit."
    Weiter heißt es bei Erbel jedoch:
    "Die Geltung eines grundrechtsbeschränkenden Sittengesetzes im Einzelfall festzustellen, ist mit besonderen Problemen verbunden. Weder das persönliche ethische Gefühl des Richters noch einschlägige Auffassungen in Teilen des Volkes rechtfertigen hier die sittliche Missbilligung eines bestimmten Verhaltens. In der heutigen pluralistischen Gesellschaft ein Sittengesetz als verbindlichen Ausdruck des maßgebenden moralischen Bewusstseins festzustellen, ist eine Aufgabe, die der Quadratur des Kreises nahekommt."
    Eine Jura-Studentin hält in einer Vorlesung an der Universität Osnabrück (Niedersachsen) eine Ausgabe vom Grundgesetz in der Hand. 
    Eine Jura-Studentin hält das Grundgesetz in der Hand. (Friso Gentsch / dpa)
    Der Quadratur des Kreises ist jedoch nicht nur in allgemeinen Moralfragen schwer zu entkommen. Sie betrifft die zentralen Grundwerte und gehört essentiell zur Demokratie dazu. Prinzipien wie Volkssouveränität, die Trennung von Staat und Religion und der Rechtsstaat bilden zusammen keine prästabilisierte Einheit. Oftmals geraten ihre Ansprüche untereinander in Kompetenzstreitigkeiten. So ist der Wille des Volkes laut Grundgesetz souverän, das heißt höchste Macht im Staat und muss sich doch dem Gesetz beugen.
    Und Staat und Religion sind historisch betrachtet Erzfeinde. Der Grenzverlauf ihrer Trennung ist bis heute umstritten, mitunter, wie zu sehen war, äußerst riskant. Bleibt also das Recht mit seiner objektiven Geltung ohne Ansehen der Person als ausgleichschaffende Instanz jenseits von Interessen und Leidenschaften. Doch seine Autorität ist nicht unantastbar. Die Werte, für die es steht, weisen auf kein Absolutes außerhalb ihrer selbst. Kein göttliches Gebot und keine universell gültige Vernunft, an die die Aufklärung einst glaubte, verleihen ihnen höhere Legitimität. Der Rechtsphilosoph und ehemalige Richter am Bundesverfassungsgericht Ernst Wolfgang Böckenförde fasste das Dilemma der Demokratie einmal wie folgt zusammen:
    "Der freiheitlich, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist."
    Die politischen Grundwerte und Prinzipien bilden zusammen kein festes Fundament, sondern ein durchaus fragiles Gefüge, das mit jeder politischen Herausforderung neu ausbalanciert werden will. Demokratie wird auch in Zukunft ein Wagnis bleiben.