Rolf Schmidt ist Oberbürgermeister der Silber- und Adam-Riess-Stadt Annaberg-Buchholz im Erzgebirge. Vor seiner Wahl zum Stadtoberhaupt war der parteilose Kommunalpolitiker als Unternehmer mit eigener Firma tätig. Er ist ein Macher und daher als Stadtoberhaupt manchmal am Rande der Verzweiflung:
"Wir haben in den letzten Jahren und letzten Monaten sehr oft Stellungnahmen abgegeben, haben unsere Probleme vorgetragen, aber es tut sich einfach nichts, und wir beobachten das mit großer Sorge, wenn das so weiter geht: Die Kommunen saufen ab."
Schmidt ist nicht der einzige parteilose Oberbürgermeister, der diese Erfahrung gemacht hat. Er und 20 weitere parteiungebundene Bürgermeister im Erzgebirge haben sich nun erstmalig zusammengefunden, um in einem zehnseitigen Positionspapier zusammenzufassen, was in ihren Städten und Gemeinden schief läuft.
"Rekordsteuereinnahmen und an der Basis erzählen: Es ist kein Geld da"
Das sei, so betonen die Unterzeichner übereinstimmend – keine Kampfansage an die Staatsregierung, sondern ein Gesprächsangebot. Hauptanliegen sind die Finanzen. Steigende Ausgaben für beispielsweise die neu eingeführte, personalintensive doppelte Buchführung in den Kommunen. Ferner die Ausweitung der Bürokratie bei den Anträgen für Fördermittel bis hin zu den Mehrkosten durch die Überalterung der Bevölkerung. All das führe zu Ausgabenerhöhungen und schaffe große Probleme bei der Erfüllung der kommunalen Pflicht-Aufgaben. Die Schlüsselzuweisungen des Bundes und des Landes würden jedoch nicht angehoben sagt Oberbürgermeister Schmidt verständnislos:
"Und überall liest man, es gibt Rekordsteuereinnahmen, es gibt unglaubliche wirtschaftliche, gute Entwicklungen und an der Basis muss man jedem erklären, wir müssen kürzen, wir müssen Kindertagesstätten-Beiträge erhöhen und wir müssen dort streichen. Und es ist politisch nicht mehr glaubwürdig. Rekordsteuereinnahmen und an der Basis erzählen: Es ist kein Geld da. Das nimmt uns keiner mehr ab!"
Schwarz-rote Staatsregierung in Dresden mauert
Alle Bemühungen, mit der schwarz-roten Staatsregierung in Dresden ins Gespräch zu kommen, seien nicht wirklich gelungen, berichten die parteilosen Bürgermeister, man sei stets auf Ministerialebene gescheitert und habe den Eindruck, dass wenn überhaupt etwas entschieden werde, dann mutlos und strikt nach Paragraphen und Buchstaben. Alle kritisieren sie die kompromisslose Sparpolitik des sächsischen Finanzministers, die einzig auf den Schuldenabbau und Einsparungen ausgerichtet war. Gespart worden sei zu Lasten der Kommunen, sagen die Bürgermeister. Die Bürger fühlten sich immer mehr abgehängt, doch in Dresden wolle dies keiner hören, sagt Oberbürgermeister Schmidt:
"Wir haben den Eindruck, dass es immer wieder Themen gibt, die werden nicht wahrgenommen, man hat den Eindruck, dass die Regierenden so weit weg sind und in einer eigenen Welt leben, dass man nicht mitkriegt, was hier wirklich an der Basis los ist, und wie kann man das ändern?"
Eines brennenden Themen ist die ärztliche Versorgung auf dem Land. André Heinrich, Oberbürgermeister der traditionsreichen Bergbaustadt Marienberg ist ein erfahrener und besonnener Kommunalpolitiker. Doch bei diesem Thema platzt ihm schier der Kragen:
"Wir sind vor Ort und die Leute rufen uns an. Habe regelmäßig Kontakt zu Bürgern, die sagen 'Wie geht das jetzt weiter, haben wir einen, haben wir keinen, gibt’s noch mal was?'"
Und wenn dann von Seiten der Landesärztekammer beschwichtigt und die Lage schöngezeichnet werde, dann verlasse ihn sein Humor vollends, ruft André Heinrich in den Saal:
"Dann hört es bei mir auf, ich kann das selber nicht mehr verstehen, ich kann und ich werde das auch nicht mehr vermitteln! Weil ich sage: Wir sind da unterversorgt und das ist erst der Anfang! Wer in Statistiken mal reinschaut, was uns da in der nächsten Zeit noch erwartet, da wird es mir Himmelangst, muss ich ehrlicherweise sagen."
"Wenn du nicht mehr weißt, wo du dein Brot kaufen kannst"
Diese Angst betrifft auch die Zukunft der Freiwilligen Feuerwehren in der Region, die Schulen und die Mobilität. Vielerorts fahre kein Bus mehr, und dort wo er noch fahre, sei ein wirtschaftlicher Betrieb kaum möglich, schildert einer der Bürgermeister die aktuelle Lage. Dramatisch sei dies vor allem für die älteren Bürger. Vielerorts gebe es nämlich auch keine jungen Leute mehr, die die Alten beispielsweise ins Krankenhaus fahren könnten, um einen Angehörigen zu besuchen oder Freunde. Ähnlich dramatisch sei es bei der Nahversorgung, sagt Bürgermeister Thomas Kunzmann:
"Es lebt sich im Moment im ländlichen Raum zwar wunderschön, aber es hilft ja nicht, wenn du am Waldrand wohnst und die Rehe sehen kannst aber letzten Endes nicht mehr weist, wo du dein Brot kaufen kannst. So entwickeln wir uns und dem müssen wir entgegenwirken."
Alles andere habe politische Konsequenzen, fügt sein Amtsbruder aus der Gemeinde Wolkenstein hinzu, mit Blick auf den Wahlerfolg der AfD im Erzgebirge. Bürgermeister Wolfgang Liebing:
"Ich denke unsere Aufgabe ist es, unsere Bevölkerung für unsere Demokratie zu begeistern. Und das Leben im Erzgebirge ist bunt! Diese Demokratie muss im ländlichen Raum ein erstrebenswerter Mitarbeitsprozess sein."
"Wie steht es mit der Garantie gleichwertiger Lebensbedingungen?"
Doch je mehr sich der Staat zurückziehe, um so verlassener fühlen sich die Menschen. Das könne durchaus Implikationen für die politische Haltung haben, erklärt die Geografin Judith Miggelbrink, vom Leipziger Leibniz-Institut und verweist auf ähnliche Entwicklungen in anderen Ländern, wie etwa dem sogenannten Rust Belt in den USA, der einstigen Industrieregion und Hochburg der Demokraten, die nun mehrheitlich für Trump ist. Mit Blick auf Deutschland fragt Miggelbrink:
"Also wie weit darf sich ein Staat auch überhaupt zurückziehen? Wie steht es mit der Garantie gleichwertiger Lebensbedingungen?"
Die parteilosen Bürgermeister im Erzgebirge wollen dieser Entwicklung nicht länger tatenlos zusehen. Sie warten nun auf ein Signal aus Dresden.
Anmerkung der Redaktion: In der Überschrift des Beitrags haben wir das irrtümlich verwendete Wort "Bürger" zu "Bürgermeister" korrigiert.