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Appelle des 20. Jahrhunderts (2)
Protest gegen das Abtreibungsverbot 1971

Am 6. Juni 1971 bekennen sich im "Stern" 374 Frauen dazu, abgetrieben zu haben - und damit zu einer Straftat. Die Aktion, organisiert von Alice Schwarzer, gilt als Auslöser der zweiten deutschen Frauenbewegung. Die Debatte über das Werbeverbot nach §219a bringt die Frage der weiblichen Selbstbestimmung heute wieder zurück.

Von Norbert Seitz |
    Eine Gruppe hat sich zu einem wandelnden Bus formiert, auf dessen Seite der Schrifttzug steht "Wir fahren immer noch nach Holland". Gemeint sind damit Fahrten zu Abtreibungen in die Niederlande, wo der Eingriff nicht strafbar ist.
    Demonstration gegen den Abtreibungsparagraphen 218 im Jahr 1975 (dpa / Manfred Rehm)
    "Wir gehen in eine öffentliche Illegalität. Das heißt: Wir handeln gegen bestehende Gesetze, aber nicht als geheime Untergrundorganisation, sondern öffentlich."
    Aufruf zum zivilen Ungehorsam gegen den Paragrafen 218, angestoßen von einem Appell in der Illustrierten "Stern" mit dem Titel "Wir haben abgetrieben!". Frauen protestieren gegen Politik, Justiz und Kirchen, um den als skandalös empfundenen Zustand zu beenden, dass der Abbruch einer Schwangerschaft kriminalisiert wird.
    Am 6. Juni 1971 haben sich im Stern 374 prominente und nicht prominente Frauen des Schwangerschaftsabbruchs und damit eines Verstoßes gegen das Recht bezichtigt. Alice Schwarzer hat diese Aktion der kollektiven Selbstanklage initiiert, zusammen mit dem Stern-Reporter Winfried Maaß. Manfred Bissinger, damals Mitglied der Chefredaktion:
    "Natürlich gibt es in jeder großen Reaktion Bedenkenträger. Die gab es auch hier. Manche hatten Sorge, man könnte einen Prozess bekommen, dass man einen solchen Appell oder Aufruf veröffentlicht hat. Aber der größere Teil hatte das nicht und hat gesagt: 'Und wenn schon, das müssen wir tun'."
    28 Fotoporträts bekannter und unbekannter Frauen
    Die Vorlage zu dem deutschen Appell lieferten französische Frauen, darunter Catherine Deneuve, Marguerite Duras, Jeanne Moreau, im "Nouvel Observateur". Alice Schwarzer, selbst in Paris im feministischen Milieu lebend, diktierte dem Stern ihre Bedingungen für die importierte Aktion: Etwa 300 Unterschriften will sie beibringen, auch von Prominenten, das Titelbild soll aber nicht nur bekannte Gesichter, sondern die ganze Bandbreite der teilnehmenden Frauen zeigen.
    Die Sozialwissenschaftlerin Ilka Braun hat über die Stern-Aktion geforscht: "Nicht nur ließ sie sich all das schriftlich geben, sie gab die gesammelten Unterschriften und damit die Namen der Frauen, die sich mit ihrer Unterschrift faktisch einer Straftat bezichtigten, erst in dem Moment preis, als absolut sicher war, dass die Veröffentlichung genau in ihrem Sinne durchgeführt werden würde."
    Auf dem Titelbild des "Stern" sind sodann 28 Fotoporträts bekannter und unbekannter Frauen zu sehen, Hausfrauen, Sekretärinnen, bis zum Filmstar. Im Heft werden Namen, Adresse und Beruf von 374 Frauen abgedruckt, die sich zur Abtreibung bekennen. Später kommt heraus, dass manche von ihnen gar nicht wirklich bereits abgetrieben haben, aber die Sache unterstützen wollten. Von prominenter Seite mit dabei: Romy Schneider, Senta Berger, Sabine Sinjen oder Ursula Noack und Carola Stern.
    Eine Frau betrachtet das Titelbild des Stern vom 06.06.1971, in dem sich 374 Frauen zu einem Schwangerschaftsabbruch bekennen.
    Das Titelbild des "Stern" vom 06.06.1971 zeigt 28 Porträtfotos bekannter und unbekannter Frauen zum Titel: "Wir haben abgetrieben". (imago / epd)
    Alice Schwarzer lässt hinterher keine Zweifel über die Urheberschaft des Appells aufkommen: "Ich habe diese Selbstbezichtigung der 374 Frauen organisiert und in den Stern gebracht. Ich habe damals in Paris gelebt. Und ich komme eigentlich aus der französischen Frauenbewegung. Ich habe da gearbeitet als Korrespondentin. Und die Französinnen haben das gemacht, diese Aktion. Ich habe also einen Funken geworfen. Die Frauenbewegung wäre auf jeden Fall gekommen, auch nach Deutschland. Deutschland war ja als Land mit dem schweren Erbe des Faschismus eines der letzten in Europa, wo die Frauenbewegung anfing. Aber das hätte auch angefangen. Nur ich habe diese Sache importiert, und dadurch ist das losgetreten worden."
    Ehre, wem Ehre gebührt. Dieser Appell gilt bis heute als Auslöser der neuen Frauenbewegung in Deutschland - und als Meilenstein in der hiesigen Mediengeschichte.
    Aktion auch unter Feministinnen umstritten
    "Dieses Datum ist ein Signum der Frauenbewegung, dahingehend, dass es mit der Kampagne gelungen ist, über das studentische Milieu hinaus sehr viele Aktivistinnen zu gewinnen, die bereit waren, sich auch in der Öffentlichkeit sichtbar für ganz zentrale Ziele dieser neuen oder auch zweiten Frauenbewegung mit dem ganz alten Ziel des körperlichen Selbstbestimmungsrechtes im Falle einer ungewollten Schwangerschaft zu organisieren", erklärt Regina-Maria Dackweiler, Frauen- und Genderforscherin an der Hochschule Rhein Main in Wiesbaden.
    Doch sei der Stern-Appell selbst unter Feministinnen nicht unumstritten gewesen. Etwa der Frankfurter Aktionsrat zur Befreiung der Frau lehnt ihn als "kleinbürgerlich" und "reformistisch" ab. Der Sozialistische Frauenbund Westberlin beteiligt sich dagegen rege.
    "Die Szene müssen wir uns so vorstellen: Es gibt einen Strang dieser neuen Frauenbewegung, die ganz klar angesetzt hat an der Frage der Kinder. Das waren diejenigen, die den Streik der Kindergärtnerinnen in Berlin organisiert hatten - ohne große Unterstützung der Gewerkschaften. Es gab diejenigen, die ganz klar gesagt haben, wir müssen uns erst einmal schulen, bevor wir hier den Mund aufmachen können. Wir müssen uns auseinandersetzen mit dem Historischen Materialismus. Und es gab diejenigen, die angesetzt haben damit, was sind eigentlich Fragen, die uns umtreiben, und das ist eben ganz zentral die Frage des Rechtes, über eine Schwangerschaft - Ja oder Nein - entscheiden zu können."
    Alice Schwarzer sitz mit blumigem Kleid und verschränkten Armen auf einem Stuhl.
    Alice Schwarzer konnte 1971 viele prominente Stimmen für ihr Anliegen gewinnen (imago / Sven Simon)
    Auch und gerade gegenüber der Präsentation gibt es Vorbehalte unter Feministinnen. Regina-Maria Dackweiler: "Das andere, worum sich auch Kritik rankte, war der Promi-Faktor. Das ist etwas, was wir sehr gut nachzeichnen können, da gibt es eine sehr große Ablehnung. Also dieses Nach-vorne-Schieben von Rednerinnen, von solchen, die sich selbst als Intellektuelle betrachten. In dieser Phase und für einen langen Zeitraum war das nicht gewollt."
    "Eine Reaktion war: 'Na, da positionieren sich ohnehin schon bekannte Frauen in der Öffentlichkeit und wollen dann noch einmal ein Stück ihres Glanzes verbreiten oder ihre Bekanntheit noch mal steigern'", bestätigt Dieter Rucht, lange Jahre Bewegungsforscher am Wissenschaftszentrum Berlin.
    "Man wollte Treiber gesellschaftlicher Entwicklungen sein"
    Für Manfred Bissinger, den damaligen Redakteur, bleibt der Frauen-Appell "Wir haben abgetrieben!" eine Zäsur in der Mediengeschichte. Die Presse habe sich damals vom "Merker" zum "Täter" verwandelt - also von einer bloß berichtenden zu einer sich auch einmischenden Instanz.
    Bissinger sagt: "Am Ende war man sich einig, dass man es machen muss. Weil man wusste ja, die Mühlen des Staates, die laufen sehr langsam. Und deshalb musste man sich darum kümmern. Und man wollte ja gerne Treiber gesellschaftlicher Entwicklungen sein."
    Mit dem Stern-Appell wird eine gesellschaftliche Debatte losgetreten um die Abschaffung der Kontrolle weiblicher Gebärfähigkeit durch männliche Autoritäten - Ärzte, Richter, Politiker. Ganz konkret geht es darum, lebensgefährliche und entwürdigende Umstände während eines illegalen Eingriffs zu überwinden.
    "Ob wir Kinder wollen oder keine / Entscheiden wir alleine. / Und für die Gynäkologen ist Schluss / Mit den Extraprofiten aus dem Uterus / Ohne uns Frauen gibt's keine Revolution."
    Frankfurter Frauengruppen informieren am 05.11.1973 in der Innenstadt von Frankfurt mit einem Plakat über die in den USA praktizierte Abtreibungsmethode nach Karman. 
    Frauengruppen informieren 1973 über Abtreibung (dpa / Gerd-Eckard Zehm)
    Neues Abtreibungsrecht erst 1995
    Die Frage, ob Abtreibung ein ganz normaler medizinischer Eingriff oder ein ethischer Grenzfall sei, und ungeborenes Leben unter den Schutz der Menschenwürde und damit auch des Schutzes des Grundgesetzes falle, beschäftigt auch den Bundestag fortan immer wieder. Bei der Reform des Paragrafen 218 Strafgesetzbuch kommt es zwischen 1974 und 1995 zu teils denkwürdigen Parlamentsdebatten.
    1992, beim ersten Versuch einer gesamtdeutschen Neuregelung, reicht das Meinungsspektrum von der Lebensschutz-Position des CSU-Abgeordneten Norbert Geis bis zum Selbstbestimmungsplädoyer der Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth, CDU.
    "Man kann, so heißt es, die Entscheidung der Frau nicht abnehmen. Richtig! Aber was ist, wenn diese Entscheidung falsch ist, die unwiederbringlich zur Tötung eines Menschen führt."
    "In dieser Not- und Konfliktlage frage ich mich, warum eigentlich dem Arzt oder ihm nachfolgend dem Richter, dem Staatsanwalt, mehr Kompetenz, mehr Verantwortung zugesprochen wird als der Frau, die die Verantwortung nicht nur jetzt, sondern ein Leben lang für das Kind, die Kinder übernimmt - und deswegen: Hören wir endlich auf, die Frauen für entscheidungsunfähig, für nicht verantwortungsfähig zu halten."
    Fast ein Vierteljahrhundert nach dem Stern-Appell - und nach zwei Interventionen des Bundesverfassungsgerichtes gegen eine reine Fristenregelung wie in der DDR - gilt seit Juni 1995: Straffreie Abbrüche in den ersten zwölf Wochen nur unter Nachweis einer Schwangerschaftskonfliktberatung. Dies ohne Kostenübernahme des Eingriffs durch die Krankenkassen.
    "Pro Familia" ist am Fenster der Beratungsstelle am Palmengarten auf einem Fenster aufgeklebt
    Eine Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle des Bundesverbandes Pro Familia in Frankfurt (dpa / Arne Dedert)
    Einfluss der Kirchen auf die Politik
    Das neue Abtreibungsrecht wird von beiden Lagern als "Scheinfrieden" empfunden. Alice Schwarzer bekennt enttäuscht, die Frauen hätten Gnade, aber kein Recht bekommen. Die Katholische Kirche steigt 1999 aus dem staatlichen System der Konfliktberatung aus - auf Weisung des Papstes selbst.
    "Die Tötung ungeborenen Lebens ist kein legitimes Mittel der Familienplanung."
    "Wir Frauen aus dem Frankfurter Frauenzentrum haben zu massenhaftem Kirchenaustritt aufgefordert. Und zwar gab es da mehrere Anlässe, und zwar aus beiden Kirchen, sowohl aus der katholischen als auch der evangelischen, weil beide Kirchen eine gemeinsame Erklärung abgegeben haben, wo sie sich gegen die Abschaffung des Paragrafen 218 ausgesprochen haben."
    Der Einfluss der Kirchen auf die Politik hat in den Debatten über den Paragrafen 218 seinen Zenit überschritten. Diese These vertritt der Münsteraner Zeithistoriker Thomas Großbölting.
    "Was in den fünfziger Jahren noch funktionierte, dass es auf der einen Seite eine einheitlich klare kirchliche Positionsbestimmung intern gab, die man auch in die Politik und in die Gesellschaft kommunizieren und zu größeren Teilen auch umsetzen konnte, das war 1970/71/72 und in der gesamten Debatte um den Paragrafen 218 dann vorbei. Insbesondere in der Evangelischen Kirche haben Sie schon in anderen Fragen, aber auch an der Frage um den Paragrafen 218, eine Entwicklung beobachten können, in der sich immer mehr das gesamte Meinungsspektrum, wie Sie es in der Gesellschaft insgesamt vorfinden, auch in der Kirche repräsentiert."
    Die Evangelische Kirche habe bereits 1970 in ihrer sogenannten "Denkschriften-Denkschrift" festgestellt, dass sie nur noch in bescheidenem Rahmen Politik machen könne. Die Lage in der katholischen Kirche sei komplex.
    "Es passiert hier in vielerlei Belangen - sei es der Zölibat, sei es die Weigerung, Frauen zu ordinieren oder zu Priestern zu berufen, seien es die verschiedenen Regelungen zur Empfängnisverhütung, aber auch zum Schwangerschaftsabbruch beispielsweise - passiert ein Schisma zwischen dem, was man in der Dogmatik festschreibt und was in der Hierarchie vertreten wird, und dem, was in vielfacher Hinsicht an der jeweiligen Kirchenbasis tatsächlich praktiziert wird."
    Und dennoch attestiert auch der Religionshistoriker Großbölting der katholischen Kirche, dass der Schwangerschaftsabbruch ein "ureigenes Feld" berühre, auf dem sie noch lange sehr einflussreich war.
    "Wenn Sie insgesamt auf die Rechtsprechung schauen, die vorgenommen wird – von der Diskussion in der 50er Jahren, von dem Höhepunkt der Diskussion in den 70er und dann wieder in den 90er Jahren, sind die Bundesverfassungsrichter und -richterinnen eigentlich von einer Position erfüllt, die sehr nahe an der katholischen Argumentation liegt: Insofern, mit großer Distanz betrachtet, würde man sagen, ist die Lobbyarbeit, insbesondere der katholischen Kirche, hier erstaunlich erfolgreich."
    "Fragestellung ziemlich schnell aus der Frauenbewegung herausgefallen"
    In der Frauenbewegung jedoch ist das Thema Paragraf 218 - trotz des vielfach kritisierten Scheinfriedens in der hiesigen Rechtsprechung - im Laufe der Jahre weitgehend von der kämpferischen Agenda verschwunden.
    So konstatiert Helke Sander, feministische Berliner Pionierin, gut dreißig Jahre nach der Stern-Aktion: "dass die Frauenbewegung eben mit der Kinderfrage angefangen hat. Und die ist sehr ins Hintertreffen geraten nach einigen Jahren, was auch viele Gründe hat, unter anderem auch, dass die Pille sich durchgesetzt hat. Aber dennoch: Die meisten Frauen kriegen Kinder. Und diese ganze Fragestellung ist ziemlich schnell dann aus der Frauenbewegung herausgefallen."
    "Es gibt zwei Themen, die für die jungen Frauen erledigt sind: Das eine Thema ist die Gewalt gegen Frauen - es gibt ja Frauenhäuser! - auch das ein Scheinfrieden. Und das andere ist das Thema des Schwangerschaftsabbruchs. Es ist den jungen Frauen überhaupt nicht mehr bewusst, dass es so ist, einerseits weil es Empfängnisverhütungsmittel gibt, andererseits weil im Kopf verankert ist - 'Im Notfall kann ich ja abtreiben'", unterstreicht die Frauenforscherin Dackweiler.
    Wie wichtig das Thema Abtreibung nach wie vor für den Feminismus sein müsste, wenn dieser sich mehr der Alltagsrealität der meisten Frauen annähern wollte, bringt die Publizistin Elisabeth Raether zum Ausdruck.
    "Man hat festgestellt, dass egal, ob Abtreibungen verboten sind oder nicht, dass sie immer stattfinden und schon immer stattgefunden haben. Und dass man Frauen in Gefahr bringt, wenn man es ihnen verbietet. Und warum das wichtig ist für die Gleichberechtigung, ist einfach, dass es eine freie Sexualität, eine selbstbestimmte Sexualität nicht geben kann ohne das Recht auf Abtreibung. Es gibt keine hundertprozentige Verhütung. Und deswegen: Wenn man Sex ohne Angst haben möchte, dann muss man wissen, dass man diese Möglichkeit hat."
    Paragraf 219a als ungewollter Nebenkriegsschauplatz
    Inzwischen ist das Thema Abtreibung weltweit mit Macht zurückgekommen. Im konservativ-katholischen Polen tobt ein in Kampf um die Streichung der eugenischen Indikation. In den USA hat Donald Trump damit die evangelikale Wählerschaft für sich gewinnen können.
    Abtreibungsgegner halten Plakate mit der Aufschrift "Women for religious freedom" vor dem Supreme Court, dem Obersten Gerichtshof in den USA.
    US-amerikanische Abtreibungsgegner vor dem Supreme Court (picture-alliance / dpa / Jim Lo Scalzo)
    In Deutschland betont die AfD den Vorrang des Schutzes des ungeborenen Lebens, auch um strategisch Lebensschützer aus dem Umfeld der Unionsparteien für sich zu gewinnen.
    Bewegungsforscher Dieter Rucht nennt den ideologischen Grund: "Das bedeutet auch, dass zum Thema der Abtreibung künftig wieder mehr diskutiert werden wird. Und das ist eine historische Konstante, dass konservative Kreise im Prinzip Abtreibung abgelehnt haben. Und das zeigt sich dann auch daran, dass man das eigene Volk auch numerisch möglichst stark halten will gegen die sogenannten Invasoren von außen. Und dann ist es eine logische Konsequenz ihrer Position: Wir müssen die deutsche Nation, das deutsche Volk, das deutsche Blut, das müssen wir stärken und hochhalten. Und das bedeutet: Jede Abtreibung ist ein Verlust für das deutsche Volk."
    In der Bundesrepublik ist der zuvor fast völlig aus dem Bewusstsein geratene Paragraf 219a Strafgesetzbuch, der ein Informations- und Werbeverbot für Schwangerschaftsabbruch vorsieht, zum ungewollten Nebenkriegsschauplatz der Großen Koalition geworden. Anlass des Streits war die Verurteilung der Gießener Gynäkologin Kristina Hänel zu einer Geldstrafe von 6.000 Euro, weil sie über einen Link Frauen Informationen zum Schwangerschaftsabbruch zukommen ließ.
    "Ja, ich streite nicht nur darum, dass ich das darf, sondern ich streite darum, dass die Frauen das Informationsrecht bekommen über den Schwangerschaftsabbruch, dass sie sich informieren können. Und dazu gehört auch, dass Ärzte, die Abbrüche machen, ihre Informationen in die Öffentlichkeit geben dürfen."
    Hänel überbrachte nach ihrer Verurteilung einen Appell mit tausenden von Unterschriften dem Bundestagspräsidenten. Seither tobt die Debatte um die Beibehaltung, Abschaffung oder eine Reform des Paragrafen 219a - Ausgang noch offen.
    Eine Frau mit zugeklebtem Mund demonstriert gegen das Informationsverbot für Schwangerschaftsabbruch unter dem Motto "Weg mit dem Paragraph 219a StGb".
    Protest gegen das Informationsverbot für Schwangerschaftsabbruch, das im Paragraph 219a des Strafgesetzbuches geregelt ist (imago/IPON)
    An so vielen Stellen hat die feministische Diskussion sich inzwischen derart ausdifferenziert, dass Teile der Frauenbewegung vom Wiederaufkeimen so alter Konflikte kalt erwischt wurden und sich in die Ecke gedrängt sehen.
    "Es hat eine sträfliche Verengung der Themen, der Issues der Frauenbewegung gegeben auf die Problematik der Vereinbarkeit von Familie und Beruf/Karriere, und darüber sind andere 'nicht erledigte Anliegen' in den Hintergrund getreten bzw. gar in Vergessenheit geraten. Das heißt grundsätzlich, die gesellschaftliche Organisation der Geschlechterverhältnisse kann nicht als transformiert gelten, wenn wir als Folie anlegen die Restaurationszeit der 60er Jahre. Vor diesem Hintergrund ist der Feminismus in der Defensive."
    Was nicht bedeutet, dass die Genderforscherin Dackweiler die bleibende Bedeutung des Stern-Appells von 1971 für die legale Abtreibung anzweifeln wollte.
    "Das ist ganz zentral der Machtdiskurs in der neuen Frauenbewegung und im Feminismus. Es geht um die Frage: Wer bestimmt über die Reproduktionsfähigkeit, die Fruchtbarkeit von Frauen. Wer bestimmt darüber, ob Frauen Kinder auf die Welt bringen oder nicht. Das gehört ins Zentrum der Machtfrage und der Machtdebatten im Feminismus: Die Entscheidung über die körperliche Selbstbestimmung."