Silke Hahne: Sie gehören mittlerweile in den meisten Großstädten zum Straßenbild: Radfahrer in pinken oder grünen Uniformen, mit großen Boxen auf dem Rücken. Damit liefern sie das Essen vom Italiener an der Ecke zum Stammkunden nach Hause, der heute lieber auf dem Sofa zu Abend essen will. Sie werden oft schlecht bezahlt, sind scheinselbstständig oder befristet. DGB-Chef Hoffmann hat sie daher am Wochenende als "digitales Proletariat" bezeichnet. Geld für die Reparatur und Instandhaltung ihrer Fahrräder mussten sie erst durch Proteste erzwingen.
Auch Betriebsratswahlen haben die Fahrer schon organisiert. Allerdings - das alles zum Teil ohne die Hilfe der großen Gewerkschaften, wie sie der DGB vertritt. Es gibt also Bedarf für die Vertretung von Arbeitnehmerrechten in der Digitalwirtschaft. Aber gibt es von den Gewerkschaften auch das entsprechende Angebot? Das habe ich vor dieser Sendung Anke Hassel gefragt, die Wissenschaftliche Direktorin des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung. Hier ist ihre Antwort:
Anke Hassel: Ja, ich wäre da gar nicht so pessimistisch. Wir erleben jetzt insgesamt, dass durch die Digitalisierung neue Beschäftigungsformen entstehen. Und die Plattformökonomie und Plattformtätigkeiten sind eine Form davon. Das sind genau diese Essensbestelldienste, die über eine Plattform vermittelt werden. Und dort gibt es ganz wenige Regeln. Es gibt in manchen Bereichen von neuer Digitalisierung wenige Regeln, wie man die Arbeitsbedingungen überhaupt aushandeln und gestalten kann. Und hier versuchen natürlich Unternehmen, ihre eigene Marktmacht erst mal durchzusetzen.
Aber man sieht auch, wie wir das jetzt auch schon gesehen haben, dass die Beschäftigten und diejenigen, die in diesen Bereichen arbeiten, sich durchaus auch dagegen wehren und auch zu eigenen Formen der Solidarisierung greifen und auch sich durchaus organisieren. Man muss, glaube ich, schon sehen, dass in diesem Bereichen wir in einer Umbruchphase sind, wo jetzt etwas Neues entsteht, auch neue Arbeitsformen entstehen, und unterschiedliche Akteure, also sowohl die Arbeitgeber und die Unternehmen wie aber dann auch die Beschäftigten dabei sind, neue Standards zu setzen, sie zu verhandeln, und dass dieser Prozess im Fluss ist. Wir wissen erstens nicht, ob die Unternehmen überhaupt in der Form überleben werden, ob die Beschäftigungsverhältnisse in der Form überleben werden, und wir wissen auch nicht so wirklich, wie sie dann letztendlich reguliert werden. Dass dieser Bereich für die DGB-Gewerkschaften nicht erschließbar ist oder langfristig nicht erschlossen werden kann, davon braucht man nicht auszugehen. Das wissen wir jetzt einfach gar nicht.
Gewerkschaften eher in etablierten Unternehmen aktiv
Hahne: Aber solange die jungen Leute sich eben anders organisieren - muss man nicht davon ausgehen, dass die Gewerkschaften da ein bisschen auch einen Trend verschlafen und sich diese Gruppen noch nicht zu Genüge eben zugänglich machen?
Hassel: Die Gewerkschaften in Deutschland, die etablierten DGB-Gewerkschaften haben natürlich ihre Schwerpunkte in ganz anderen Bereichen, eben nicht in der Plattformökonomie, sondern die haben ihre Schwerpunkte in den etablierten Unternehmen, wo sie auch Betriebsräte haben, auf die sie zurückgreifen können, wo sie leichter Mitglieder organisieren können und mobilisieren können. Und deshalb ist es ganz klar, dass in diesen Bereichen auch eher neue Mitglieder gewonnen werden und auch Mitglieder bestehen.
Ich glaube, dass die Gewerkschaften im Moment diesen Prozess der Digitalisierung, den wir jetzt sehen, der auch zu neuen Beschäftigungsformen führen, wie in der Plattformökonomie, sich sehr genau anschauen, sich sehr genau anschauen, in welche Richtung diese Unternehmen gehen und dann natürlich irgendwann auch anfangen, direkt in die Auseinandersetzung mit den Unternehmen zu gehen. Aber bei den Essensbestelldiensten ist, glaube ich, dieser Prozess noch gar nicht so weit fortgeschritten. Wenn man sich andere Bereiche anschaut wie zum Beispiel bei Amazon, da sieht man, dort ist die Gewerkschaft ja schon viel aktiver, auch in dem Prozess der Interessenvertretung der Beschäftigten dort. Und das wird in anderen Bereichen auch so werden.
Schwierigkeiten der Gewerkschaften mit Amazon
Hahne: Aktiv ist die Gewerkschaft in der Tat bei Amazon, allerdings nicht besonders erfolgreich.
Hassel: Genau.
Hahne: Woran liegt das?
Hassel: Amazon ist ein Unternehmen, das explizit sich einer tariflichen Regulierung zu entziehen versucht und das auch nicht besonders kooperativ ist gegenüber Gewerkschaften und auch nicht bei Betriebsratsgründungen. Und bei solchen Unternehmen, die da sehr radikal gegenüber Gewerkschaften auftreten, haben natürlich Gewerkschaften es auch sehr viel schwerer, weil die Unternehmen haben Mechanismen, sich den Tarifverhandlungen zu entziehen. Amazon hat auch seine Vertriebsstellen in Regionen, die jetzt wirtschaftlich nicht besonders gut entwickelt sind, wo also auch die regionale Bevölkerung auf diese Arbeitsplätze angewiesen ist, die dann auch nicht direkt in eine Auseinandersetzung mit ihrem Arbeitgeber gehen wollen und so weiter. Also, die Umstände, unter denen dort Gewerkschaften operieren müssen, sind schon sehr schwierig.
"Dienstleistungsbereiche in anderen Ländern ganz anders organisiert"
Hahne: Jetzt sind ja nicht nur junge Menschen in der Tendenz seltener Gewerkschaftsmitglieder, auch atypisch beschäftigte Frauen, gering Qualifizierte. Das heißt, vertreten die Gewerkschaften diejenigen, die es vielleicht am dringendsten brauchen, überhaupt noch wirksam und so, dass ihnen dann auch tatsächlich damit geholfen ist?
Hassel: Wenn wir uns die Entwicklung im internationalen Vergleich anschauen, dann sehen wir schon, dass in Deutschland es eine Sondersituation ist dadurch, dass die deutsche Wirtschaftsstruktur, aber damit auch die Beschäftigtenstruktur, immer noch sehr stark vom industriellen Bereich geprägt wird. Wir haben immer noch einen sehr hohen Anteil der Beschäftigung in der Industrie und den industrienahen Dienstleistungen. Und andere Bereiche, wo dann auch sehr viel eher gering Qualifizierte und Frauen beschäftigt sind, sind bei uns nicht so weit entwickelt wie in anderen Ländern.
Wenn wir uns im Vergleich mit anderen Ländern und auch Gewerkschaften in anderen Ländern [sehen], dann sehen wir, dass dort - zum Beispiel in Skandinavien, aber auch in Großbritannien - Frauen mittlerweile die Mehrheit der Gewerkschaftsmitglieder ausmachen, weil dort Dienstleistungsbereiche ganz anders organisiert sind als bei uns. Ich denke, das wird in Deutschland langfristig auch in diese Richtung gehen. Aber wir sind in diesem Prozess noch nicht so weit fortgeschritten. Es gibt jetzt keinen natürlichen Grund, warum Frauen zum Beispiel weniger Gewerkschaftsmitglied sein sollten als Männer, sondern das hängt sehr stark von der Beschäftigtensituation ab und auch von der Wirtschaftsstruktur eines Landes.
Bedürfnisse und Wünsche der Beschäftigten abfragen
Hahne: Welche Anpassungsstrategien haben Gewerkschaften denn mittlerweile noch entwickelt, um relevant zu bleiben?
Hassel: Die Gewerkschaften sind in den letzten Jahren doch erheblich mitgliederorientiert geworden in dem Sinne, dass sie systematisch durch Beschäftigtenbefragungen zum Beispiel abfragen, was denn eigentlich die Bedürfnisse und Wünsche der Beschäftigten in ihren Organisationsbereichen sind. Die IG Metall hat zum Beispiel den letzten Tarifabschluss, der ja eine sehr starke Arbeitszeitkomponenten hatte, vorher durch Beschäftigtenbefragungen vorbereitet, und zwar nicht nur kurz vorher, sondern auch langfristig vorher, und da schon gemerkt, dass zum Beispiel im Bereich Arbeitszeit ein wichtiges Thema liegt, was sie dann auch tarifpolitisch besetzt hat. Die Eisenbahnergewerkschaft hat es ähnlich gemacht.
Es gibt also durchaus mehr und mehr Instrumente, über Befragungen, aber auch durch konkrete Interaktion mit den Mitgliedern, dass man wirklich genauer hinschaut, wo denn der Schuh eigentlich drückt, und dann auch genauer versucht, in der Tarifpolitik diese Wünsche und Bedürfnisse auch abzubilden.
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