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Arbeitsmarktreformen
"Mehr in die Arbeitslosen investieren"

Infolge der Hartz-Gesetze habe man vor allem Druck auf Arbeitslose gemacht, sagte der Arbeitsmarktforscher Gerhard Bosch im Dlf. Das sei deshalb gegangen, weil es viele gut Qualifizierte auf dem Arbeitsmarkt gegeben habe. Heute sei das anders. Bei schlechter Qualifizierten, die schon jahrelang erwerbslos seien, komme man mit Druck nicht weiter.

Gerhard Bosch im Gespräch mit Jürgen Zurheide |
    Das Logo der Bundesagentur für Arbeit mit Menschenmenge
    Der Soziologe Gerhard Bosch fordert ein Umdenken in der deutschen Arbeitsmarktpolitik (imago / Ralph Peters)
    Jürgen Zurheide: Frankreich macht sich auf den Weg, auf den Weg der Reformen. Wie im Wahlkampf versprochen, hat Präsident Emmanuel Macron jetzt Veränderungen beim Arbeitsrecht vorgelegt und die große Frage lautet: Was kann das bewirken? Kann und wird das die Arbeitslosigkeit senken – das ist das erklärte Ziel – und zweitens welche Analogien, und gibt es solche überhaupt, zu möglichen deutschen Reformen, die vor 15 Jahren hoch umstritten durchgeführt worden sind? Über all das möchte ich reden mit Gerhard Bosch, dem Arbeitsmarktforscher der Universität Duisburg-Essen, den ich jetzt erst mal am Telefon begrüße. Guten Morgen, Herr Bosch!
    Gerhard Bosch: Guten Morgen, Herr Zurheide!
    Zurheide: Herr Bosch, beginnen wir in Frankreich! Da gibt es ja zwei Extreme. Die Regierung sagt, das, was jetzt da auf den Weg gebracht ist, ist so etwas wie die Stärkung des sozialen Dialoges. Die Gegner auf der anderen Seite, vor allen Dingen bei der Linken, sagen, das ist ein Totalangriff auf das Arbeitsrecht. Wie sehen Sie das?
    Bosch: Ja, ich würde sagen, das ist ein Mittelding. Es sind einige Angriffe auf das Arbeitsrecht, die Abfindungen werden gedeckelt nach oben, was ich nicht für so tragisch halte, denn man kann immer noch 20 Monatsgehälter bei 30 Jahre Betriebszugehörigkeit bekommen, und es gibt auch eine gesetzliche Mindestregelung für Abfindungen, die wir in Deutschland zum Beispiel gar nicht haben. Eine Attacke auf die Gewerkschaften besteht schon darin, dass man jetzt in kleinen Betrieben gewählten Mitarbeitern Verhandlungsrechte zugesteht, also gewählten Mitarbeitern, die nicht unbedingt Gewerkschaftsmitglieder sind. Da gibt es keine richtigen formalisierten Wahlen, das kann also informell geschehen. Und da ist wirklich unklar, ob da nicht Unternehmensleitungen sich sozusagen ihre Leute aussuchen und ihre Verträge selber stricken. Also, da teile ich die Besorgnis der französischen Gewerkschaften. Vorteilhaft kann es allerdings sein, wenn diese gewählten Leute dann wieder Kontakte mit den Gewerkschaften aufnehmen und sich Rat holen für ihre Verhandlung. Also, was da genau rauskommt, wird auch von der Verhandlungskultur, die in Frankreich sehr schlecht ist, abhängen.
    Zurheide: Es wird ja vor allen Dingen gesagt, dass kleine und mittlere Unternehmen profitieren sollen, wahrscheinlich genau in dem Rahmen, den Sie da gerade skizziert haben. Das kann so sein, das muss nicht so sein. Wagen Sie da eine Prognose? Sie haben die mangelnde Kultur und die Bereitschaft miteinander zu reden in Frankreich schon angesprochen. Könnte das – und das wäre ja dann die Stärkung des sozialen Dialogs – gelingen?
    Bosch: Ja, sie ist schon einmal gelungen bei dem Gesetz über die 35-Stunden-Woche, das ist fast unbemerkt gewählt gewesen, weil man nur über die 35 Stunden diskutiert hat, aber die französische Regierung hat gesagt, wie das gemacht wird, auf betrieblicher Ebene, das muss ausgehandelt werden. Da gab es die größte Verhandlungswelle überhaupt jemals in Frankreich, in allen Betrieben hat man über die Arbeitszeit, die Lage und Verteilung verhandelt. Ich würde sagen, wenn wirklich die Gewerkschaften auch in ihrer Mitgliedschaft gestärkt werden, dann müssen auch Anreize geschaffen werden, dann könnte auch was Positives herauskommen. Das Problem - und da bin ich eher skeptisch - ist, dass die Gewerkschaften untereinander völlig zerstritten sind. Das heißt, im deutschen Kontext wären diese Maßnahmen nicht so schwierig oder gravierend wie im französischen Kontext, wo die Streitigkeiten unter den Gewerkschaften oft im Vorrang stehen.
    "Bei uns sind die Jugendlichen keine Außenseiter"
    Zurheide: Sie haben gerade den Kündigungsschutz schon angesprochen. Ich will noch mal das Argument bringen, was natürlich die Regierung in den Vordergrund stellt, aber zunächst objektiv richtig ist: Junge Leute haben in Frankreich Schwierigkeiten, die Jugendarbeitslosigkeit ist hoch, weil eben viele drin sind, die, wie es denn heißt, nicht rausgeschmissen werden können oder wie auch immer man das bezeichnen will. Deshalb müsse man das lockern, um den Jungen eine Chance zu geben. Ist das Argument von der Hand zu weisen?
    Bosch: Na ja, wenn es zu extrem ist, wenn Betriebe völlig inflexibel sind, wenn der Kündigungsschutz zu extrem ist, dann ist an dem Argument was dran. Und Frankreich ist sicherlich am oberen Ende des Kündigungsschutzes im europäischen Vergleich, wir in Deutschland übrigens auch. Und das bringt uns zu der interessanten Frage: Warum haben wir in Deutschland mit die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit in Europa, obwohl wir einen ausgeprägten Kündigungsschutz haben? Das widerspricht ja wieder der These. Und den Grund dafür sehe ich darin, dass bei uns die Jugendlichen keine Außenseiter sind, sondern durch das duale System der beruflichen Ausbildung verpflichten sich Unternehmen, die Gewerkschaften, die Betriebsräte, junge Leute einzustellen, und die jungen Leute, und die Auszubildenden werden ja als Insider gesehen. Also, wenn man eine solche Möglichkeit der Ausbildung schafft, dann kann man das Problem lösen. In Frankreich, glaube ich, werden die Hoffnungen sich nicht erfüllen. Es werden ein paar extrem hohe Abfindungen etwas abgesenkt werden und im unteren Bereich gibt es sogar Verbesserungen für die entlassenen Beschäftigten, aber am Arbeitsmarkt wird sich wenig ändern, solange das Ausbildungssystem sich nicht ändert und nicht die Firmen bereit sind, in ihren eigenen Nachwuchs auch zu investieren.
    Zurheide: Damit sind wir jetzt fast bei der spannenden Frage der Vergleiche zwischen Deutschland und Frankreich, und da gilt ja so der Satz: Gerhard Schröder hat mit seinen Arbeitsmarkt-, mit seinen Hartz-Reformen hier den Knoten durchgeschlagen, erstens. Die Frage ist ja: Ist die Analogie richtig? Und zweitens: Ist Hartz überhaupt das Erfolgsmodell? Beginnen wir mit der ersten Frage, ist die Analogie zu Deutschland richtig, wenn Sie die Reformen da jetzt sehen?
    Bosch: Nein, eigentlich nicht, denn was in Frankreich diskutiert wird, ist das Arbeitsrecht im Betrieb, die Struktur von Verhandlungen. Und bei den Hartz-Gesetzen ging es im Wesentlichen um die Arbeitsmarktpolitik, also das, was außerhalb stattfindet. Und es ging auch um die Lohnpolitik, nämlich Deutschland hat einen großen Niedriglohnsektor geschaffen, übrigens nicht hauptsächlich mit den Hartz-Gesetzen, sondern wichtiger war der Verlust der Tarifbindungen in den 90er-Jahren und vor allem die europäischen Direktiven über die Öffnung von privaten Dienstleistungen. Denke ich mal an die Postdienstleistungen, früher gab es dort 100 Prozent Tarifbindung. Heute konkurrieren da viele kleine Dienstleister, die keinen Tarifvertrag haben. Das hat eigentlich den Niedriglohnsektor in Deutschland hervorgebracht. Frankreich hat weiterhin eine fast 100-prozentige Tarifbindung, weil alle Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklärt werden, und hat mit in Europa den geringsten Teil an Geringverdienern. Und ich habe eigentlich darauf gewartet, dass an dieser Struktur etwas geändert wird, denn die vorherige Regierung hat das schon angedeutet, aber bis jetzt ist nicht die Rede davon, dass man Tarife unterbieten kann auf betrieblicher Ebene, sondern die Löhne werden weiterhin auf Branchenebene ausgehandelt. Und das ist ein Riesenunterschied zu Deutschland.
    "Die deutschen Betriebe waren sehr hierarchisch"
    Zurheide: Ich kann heute Morgen nicht mit Ihnen reden, ohne auch nach der deutschen Situation zu fragen. Da spielt ja bei der guten Arbeitsmarktlage, die wir gemeinhin ja hier feiern, eine Rolle, dass am Horizont dräut – und auch das ist diese Woche wieder klargeworden – ein riesiger Arbeitskräftemangel. Wie ernst nehmen Sie all die Prognosen, die wir auch diese Woche gehört haben, bis 2030 fehlen drei Millionen qualifizierte Kräfte, wie Prognos das vorhersagt? Zutreffend? Oder sind Sie skeptisch?
    Bosch: Ich nehme das sehr, sehr ernst. Ich glaube, dass das auch ein Umdenken in unserer Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik erfordert. Jetzt komme ich noch mal auf die Hartz-Gesetze zurück. Die sind ja eingeführt worden, als wir fünf Millionen Arbeitslose hatten, und der Kerngedanke war ja, die Arbeitsplätze sind da, man muss die Leute nur da hineinpressen und die müssen auch niedrigere Löhne akzeptieren. Diese Politik, die ich für falsch halte, denn wir haben riesige soziale Verzerrungen, geringe Löhne in vielen Bereichen, von denen die Leute trotz Mindestlohn nicht leben können, die halte ich für falsch. Und die ging aber eine Zeit lang gut, weil, bei fünf Millionen Arbeitslosen hatten wir wahnsinnig viele qualifizierte Leute, die vorher in Großbetrieben arbeiteten, eine super Ausbildung hatten, entlassen wurden, hatten wir verfügbar auf dem Arbeitsmarkt. Und das Wachstum der letzten Jahre ist eigentlich nicht durch Fachkräftemangel in großem Maße behindert worden, weil wir erst mal die gut qualifizierten Arbeitslosen in den Arbeitsmarkt integrieren konnten. Jetzt sind wir an einem Punkt – und das wird sich weiter verschärfen –, wo man nicht mehr mit dem Druck auf die Arbeitslosen allein weiterkommt, weil wir zunehmend gering qualifizierte oder schlecht qualifizierte Leute, die häufig auch noch jahrelang arbeitslos waren, unter den Arbeitslosen finden. Und von daher muss die Arbeitsmarktpolitik sich ändern, nicht mehr Druck auf die Arbeitslosen muss im Vordergrund stehen, also das Fordern, sondern das, was Schröder ja damals auch genannt hat, das Fördern muss eine ganz andere Bedeutung gewinnen. Und da haben wir Riesenfehler in Deutschland gemacht, zum Beispiel ist die berufliche Weiterbildung, die Umschulung von Arbeitslosen stark eingeschränkt worden und auch finanziell völlig unattraktiv für die Arbeitslosen, denn sie bekommen höchstens ihr Arbeitslosengeld weiter, aber keine Prämie für die besonderen Anstrengungen bei einer beruflichen Weiterbildung. Ich möchte das formulieren: Wir brauchen eine investive Arbeitsmarktpolitik, also wo wir mehr in die Arbeitslosen investieren in den nächsten Jahren, in ihre Qualifikationen.
    Zurheide: Das heißt, die Glücksgefühle, die manch einer hat, wenn er die Arbeitslosenzahlen sieht, die halten Sie für verfehlt?
    Bosch: Ich habe die Glücksgefühle auch, das kann ich nicht verschweigen. Ich bin ja sehr froh darüber. Ich glaube bloß, dass die Ursache nicht in den Hartz-Gesetzen liegt, sondern in der stillen Revolution in den Jahren zuvor, wo die Betriebe sich reorganisiert haben. Die deutschen Betriebe waren sehr hierarchisch, die waren inflexibel, die waren starr. Unsere berufliche Bildung war auf Status, auf Hierarchie, auf Abgrenzung und nicht Teamarbeit orientiert. Da hat sich wahnsinnig viel verändert. Wir haben eine richtige Revolution innerhalb der Betriebe, wo die Organisationen sich verändert haben, und das findet auch weiter statt. Wir haben mit die flexibelsten Unternehmen in Deutschland, auch dank unserer Mitbestimmungskultur ist die Arbeitszeit zum Beispiel sehr flexibel, viel flexibler als in Frankreich. Das war ein Riesenfortschritt und der hat eigentlich den Aufschwung gebracht und die Unternehmen sind da auf einem guten Weg. Aber was sie versäumt haben, ist, sie haben zu wenig in ihren Nachwuchs investiert. Und wir haben auch im deutschen Bildungssystem leider 20 Prozent unserer Jugendlichen, die nicht über ausreichende Qualifikationen verfügen, wenn sie in den Arbeitsmarkt kommen. Also, an diesem unteren Ende müssen wir viel stärker investieren.
    Zurheide: Herzlichen Dank, das war der Arbeitsmarktforscher Gerhard Bosch von der Universität Duisburg-Essen, das Interview haben wir kurz vor der Sendung aufgezeichnet.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.