Mira Czutka ist eigentlich Textil-Ingenieurin, die nach Jahren im operativen Geschäft ihr Herz für Team- und Organisationsfragen entdeckt hat. Sie war zwölf Jahre lang führende Diversity-Managerin in einem globalen hightech-Unternehmen.
Jetzt berät sie Unternehmen, die wissen wollen, wie sie mit Organisation, Werten, Hierarchie und Vertrauen umgehen sollen, um den neuen Herausforderungen gerecht zu werden.
Das Gespräch in voller Länge:
Bärbel Wossagk: Frau Czutka, bringt die digitale Revolution am Arbeitsplatz uns endlich die Sonne, die Freiheit, oder gibt es da mehr Schatten als Licht?
Mira Czutka: Ich glaube, es gibt Tag und Nacht, und Tag ist all die Möglichkeiten, die man hat, flexibler zu arbeiten, sich auch anders einzubringen, sich zu vernetzen mit der Welt, das finde ich supersuperinteressant und spannend. Es bringt einem quasi auch die Welt näher. Auf der anderen Seite ist es für viele auch eine große Belastung. Immer präsent zu sein, immer da zu sein, ständig erreichbar zu sein. Und ich neige ja zum Geschichtenerzählen, und es ist so, dass es da wirklich viele Geschichten gibt von Leuten, die schon kaum noch aufs Klo gehen, weil sie, wenn sie zu Hause arbeiten, denken, wenn mich jetzt jemand anruft, dann bin ich nicht erreichbar, und dann haben sie ein schlechtes Gewissen. Das sind so die dunklen Seiten, die dann auch auftauchen.
Wossagk: Die Flexibilisierung, von der Sie gerade gesprochen haben, das ist ja ein großes Plus, das ist ja auch eine Sache, die sich sehr viele Leute wünschen und erhoffen. Da hat sich auch schon einiges getan.
"Wie mache ich Schluss, dass ich nicht noch um zehn E-Mails bearbeiten muss?"
Czutka: Ja, es hat sich viel getan, und ich glaube, die Unternehmen sind so weit, dass sie sehr stark da Möglichkeiten anbieten, zumindest sehr viele, und auch gerade die großen Unternehmen. Ich glaube, jetzt ist es auch so ein Thema von den Menschen, wie gehe ich denn mit dieser neugewonnenen Freiheit gut um, und wie setze ich gut Grenzen. Das höre ich, wenn ich Seminare mache, wenn ich mit Leuten mich unterhalte über die Themen, über die Belastungen, die mittlerweile halt einfach auch zunehmen dadurch. Dass es ein großes Thema ist, wie grenze ich mich ab, wie mache ich Schluss, dass ich nicht noch um zehn irgendwie E-Mails bearbeiten muss. Da hängt sehr viel dran auch an den Menschen.
Wossagk: Jetzt gibt es ein paar Unternehmen, die schon eingeführt haben, keine Mails mehr weiterzuleiten nach einer bestimmten Uhrzeit abends. Ist das eine Lösung, die sozusagen von oben kommen muss, oder muss da jeder an sich selber arbeiten?
Czutka: Natürlich muss es vom Unternehmen gewertschätzt werden, dass man nicht noch am Sonntag um zwölf Uhr irgendwelche Mails rausschickt. Aber es hängt letztlich auch am Mitarbeiter, weil es gibt immer Tricks, wie man das umgehen kann, nämlich indem ich E-Mails beantworte, aber nicht los sende, sondern erst dann schicke, wenn quasi Montagmorgen wieder der Server offen ist. Von daher ist es eher am Mitarbeiter auch, da was zu tun.
Regeln müssen auch für Führungspositionen gelten
Wossagk: Die pure Regelung bringt eigentlich erst mal nichts.
Czutka: Nein. Und was ich gehört habe, hat das auch sehr viel mit Hierarchielevels zu tun, das heißt, für manche Hierarchielevels gilt diese Regelung auch nicht. Es ist nicht durchgängig, dass dann immer der Server abgeschaltet wird, sondern für Leute, die in einer Führungsposition sind, gilt das dann plötzlich nicht. Und, wie gesagt, es gibt ja diese Tricks, das trotzdem zu bearbeiten am Wochenende und dann halt erst verzögert rauszuschicken.
Wossagk: Diese permanente Erreichbarkeit, die hängt natürlich zusammen mit den neuen technischen Möglichkeiten, die inzwischen ja eigentlich jeder im Arbeitsleben hat, Smartphone, Laptop - man kann eigentlich von jedem Ort arbeiten. Das hat ja dazu geführt, dass es die Vertrauensarbeitszeit schon länger gibt. Jetzt wird langsam auch der Vertrauensarbeitsort eingeführt.
Wie lernen wir mit der Virtualisierung wirklich gut umzugehen?
Czutka: Genau. Wie gesagt, es gibt sehr sehr viele Möglichkeiten, dass ich halt mich zum Beispiel ins Café setzen kann theoretisch, oder zu Hause am Küchentisch arbeiten kann. Die Frage ist halt, kann ich damit gut umgehen. Ich komme immer wieder auf das Gleiche: Inwieweit ist der Mensch schon so trainiert oder hat sich auch damit so auseinandergesetzt, dass er damit gut umgehen kann, dass er mit diesen Möglichkeiten auch positiv umgehen kann. Ich erzähle mal eine Geschichte, vielleicht ist es dann klarer. Ich mache ja auch viel so Seminare zur Virtualisierung, also wie arbeite ich in virtuellen Arbeitswelten, weniger technisch als menschlich. Da geht es um Vertrauen und solche Sachen. Und da kam irgendwann einmal eine Diskussion auf, dass, wenn man mal 10, 15 Jahre zurückblickt, wie wir da Meetings gemacht haben - die waren sehr unstrukturiert. Da haben Leute unterbrochen, also es war wenig gut organisiert. Wir haben das dann gelernt mit der Zeit, dass wir also mitbekommen haben, wie man so ein Meeting gut strukturiert, aber es hat Zeit gebraucht. Und genau da stehen wir heute mit der Virtualisierung meines Erachtens und auch, was ich aus den Diskussionen mitnehme, dass man erst mal wieder so einen Umgang damit erlernen muss, damit es nachher auch auf eine gute Art und Weise ablaufen kann. Das ist für mich so der Kernpunkt wirklich: Wie lernen wir mit der Virtualisierung wirklich gut umzugehen?
Wossagk: Also wir sind da in so einer Übergangsphase, die Virtualisierung ist schon da, aber wir wissen noch nicht so recht, wie wir damit zurechtkommen sollen?
Czutka: Genau so. So sehe ich das auch.
Wossagk: Wie können wir das lernen?
Czutka: Ich denke, das eine ist, dass Unternehmen da Möglichkeiten anbieten, dass man sich auch damit auseinandersetzen kann, und nicht nur voraussetzen, wir sind jetzt virtuell aufgestellt, wir arbeiten global, und jetzt friss oder stirb. Das geht meines Erachtens über normale Seminare zu "wie beherrsche ich die Technik" jetzt hinaus. Es ist also nicht nur eine Frage, wie mache ich jetzt quasi ein Live-Meeting oder wie mache ich eine Webkonferenz, sondern es geht einfach darum, wie gehe ich denn auch zum Beispiel dann mit den Zeiten um, wie kann ich irgendwie das steuern für mich, dass ich sage, ich bin jetzt mal nicht erreichbar und arbeite einfach mal konsequent Themen ab. Es hat auch was mit Vertrauen zu tun, dass sich dann bilden muss in Teams, und es muss letztendlich gestaltet werden. Mein Beispiel mit vor 10, 15 Jahren Meetingkultur, das ist ja auch nicht einfach so passiert, sondern das wurde ja auch unterstützt, und Leute haben sich entwickelt, haben sich damit auseinandergesetzt.
"Ich glaube nicht, dass man komplett auf menschliche Kontakte verzichten kann"
Wossagk: Die neue Technik hat auch dazu geführt, dass sich Menschen oft gar nicht begegnen. Man schreibt ganz viele Mails hin und her, Telefonkonferenzen, aber was passiert mit dieser persönlichen Begegnung? Ist das ein schwerer Verlust, oder kann man das auch irgendwie kompensieren und lernen?
Czutka: Ich glaube nicht, dass man komplett auf menschliche Kontakte im Sinne von persönlichen Kontakten verzichten kann. Das geht letztendlich auch auf Performance, auf die Leistung, weil wenn ich keine Beziehungen mehr habe zu den Menschen, mit denen ich arbeite, oder meinen Kunden oder Kollegen irgendwo auf der Welt, dann werde ich auch gar nicht diese Kooperationsfähigkeit haben, ich werde auch nicht die Loyalität haben, die es normalerweise braucht, damit ich Aufgaben auch gut abwickle, sondern das ist für mich dann eine anonyme Masse. Und das geht letztendlich nachher auch auf Arbeitsleistung. Wenn man sich so ein bisschen mit den Themen heute beschäftigt, dann stößt man natürlich auf die Neurowissenschaften, und da dreht sich ja ganz viel auch um Beziehungsfähigkeit, wie Beziehungen geknüpft werden, wie Beziehungen entstehen, und wie wichtig Beziehungen und Vertrauen überhaupt dafür da sind, dass zum Beispiel jemand eine gute Leistung bringt oder jemand gern arbeitet. Und wenn ich das nicht möglich mache, dann werden die Leute nach außen natürlich so tun, als sind sie ganz fleißig und sie sind auch wahnsinnig engagiert, aber innerlich ist dann quasi irgendwie so eine, fast eine Kündigung da, dass Leute sich auch nicht mehr mit dem Job identifizieren und auch nicht mehr mit ihren Kollegen identifizieren. Und das erlebe ich schon auch.
Wossagk: Sie haben ja viele Jahre bei Gore gearbeitet, diesem globalen Hightech‑Textilunternehmen, also erst operativ richtig als Textilingenieurin und dann eben in diesem Bereich Unternehmenskultur, der ja bei Gore seit Gründung eine sehr wichtige Rolle spielt. Und Sie haben es gerade schon gesagt, Motivation bringt dann auch mehr Leistung natürlich. Macht diese neue Arbeitswelt glücklicher als die alte? Motivierter?
Czutka: Tut mir leid, dass ich immer wieder auf diese individuellen Geschichten zurückkomme, aber ich glaube, das hängt einfach sehr stark davon ab, wie sehr ich mit dieser neuen Welt mich arrangieren kann, wie sehr mir das auch gefällt. Es gibt Leute, die brauchen einfach festere Strukturen, und wenn Sie die in ein virtuelles Umfeld zum Beispiel schmeißen oder in ein Umfeld, wo sehr viel Vertrauen herrschen soll, und Sie können damit nicht umgehen, dann haben Sie ein Problem. Es passt nicht für alle, sondern es muss quasi immer auch abgestimmt werden auf das, was ich als einzelner Mensch auch gern mag. Ob mich das motiviert, wenn ich viele Freiheiten habe, oder ob es mich mehr ängstigt - das gibt es auch, dass Menschen, wenn sie plötzlich vor einer Aufgabe stehen und es wird gesagt, das machst du jetzt einfach mal, dass sie dann total schwimmen, weil sie nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen. Dann ist das keine Hilfe für sie. Für andere ist das supertoll, weil die endlich die Möglichkeiten haben, fast so wie selbstständig zu arbeiten und nicht ständig jemanden haben, der ihnen über die Schulter guckt.
Wossagk: Die persönlichen Treffen werden schwieriger, weil man mehr Flexibilität hat, weil man vielleicht auch vom Spielplatz seine Kinder betreut und gleichzeitig eine Telefonkonferenz macht, was ja eine schöne Geschichte ist. Aber dieses ganze Thema Kaffeemaschine und Kicker, der in vielen Unternehmen steht - was muss man tun, damit diese persönlichen Beziehungen nicht zu kurz kommen?
Viele Probleme werden nicht am Arbeitsplatz, sondern auf dem Flur gelöst
Czutka: Ich glaube, man muss Zeit dafür einplanen, und man muss als Allererstes mal die Wichtigkeit erkennen, dass das nicht einfach nur nice to have ist, wie man es im Englischen so schön sagt, sondern dass das wirklich originärer Bestandteil von guten Arbeitsbeziehungen und Arbeitsleistungen ist. Wir haben das in der Vergangenheit so automatisch gemacht, wir haben uns vor einem Meeting zum Beispiel erst noch einen Kaffee genommen, erst noch ein bisschen darüber geredet, was denn gerade los ist. Viele Probleme werden ja auch nicht am Arbeitsplatz direkt gelöst, sondern irgendwo auf dem Flur oder zum Beispiel an der Kaffeemaschine. Und wenn ich jetzt nur noch virtuell arbeite und das nicht einbeziehe, diese Qualität in Beziehungen, dann geht mir da was verloren, und deswegen braucht es eine große Bewusstheit erst mal darauf, dass so was wichtig ist und dass das nicht vergeudete Zeit ist, wenn ich zum Beispiel beim virtuellen Meeting erst mal zehn Minuten vielleicht Smalltalk mache oder mich austausche. Und das muss natürlich strukturiert sein, weil sonst sagt ja keiner was. Also das muss man schon auch dann anleiten oder dazu ermutigen, dass solche Sachen gemacht werden.
Wossagk: Man muss vielleicht neue Regeln schaffen, obwohl man meint, man ist jetzt in einer Welt, wo alles viel freier ist?
Czutka: Ja, aber es geht immer um Freiheit in Grenzen. Weil wenn ich die grenzenlose Freiheit habe, bin ich auch schnell verloren. Und ich denke, ein gutes System funktioniert auch immer nur dann, wenn es Grenzen hat. Weil dann kann ich mich da bewegen und habe einen gewissen Raum, den ich ausfüllen kann. Wenn ich gar keine Regeln in Unternehmen habe, dann wird das die Leute wahrscheinlich eher verunsichern.
Wossagk: Die Digitalisierung hat ja auch dazu geführt, dass internationale Zusammenarbeit in vielen Dingen sehr viel einfacher geht. Sachen, die früher undenkbar waren, große Datenfiles hin- und herschicken, am selben Dokument arbeiten und so weiter. Wo sehen Sie denn da die Vorteile und die Schwierigkeiten?
Flut von Informationen, die nur noch schwer zu verarbeiten ist
Czutka: Grundsätzlich, glaube ich, ist das sehr positiv, jetzt einfach mal die Möglichkeiten zu haben, länderübergreifend zu arbeiten. Was ich erlebe, ist, dass viele Menschen doch mit vielen Vorurteilen belastet sind, also dass einfach die Prägungen, woher auch immer, doch zum Teil dazu führen, dass man mit einem gewissen - Misstrauen ist vielleicht zu viel, aber einfach einer Unsicherheit und auch ein Stück weit Angst, die damit zusammenhängt, mit den Leuten umgeht. Ich erlebe das häufig, wenn es dann darum geht, ich arbeite mit Italienern oder mit Indern oder Chinesen, was dann so an Bildern in den Köpfen ist und was sich dann natürlich auch ein Stück weit auch in die Beziehung mit überträgt, überhaupt, wenn es keine persönlichen Kontakte gibt. Und das fängt zum Teil schon an bei Dänen und Deutschen, die erst mal grundsätzlich doch sehr ähnlich sein sollten, wo man vermutet, da gibt es überhaupt keine Probleme, aber auch da gibt es einfach kulturelle Unterschiede. Und das, was die Dänen gut finden, finden nicht immer unbedingt die Deutschen gut, und umgekehrt, und schon habe ich einen Konflikt in Teams, obwohl ich mir dessen gar nicht bewusst bin. Das ist ein großes Thema, das andere ist einfach eine Flut an Informationen, die sehr schwer nur noch zu verarbeiten ist. Ich habe Menschen erlebt, die kriegen in der Woche 4.000 E-Mails, und die haben keine Möglichkeit mehr, selbst mit bester Strukturierung, mit bestem Vorgehen, wie ich das jetzt alles noch sortieren kann, und was ich ausblocke und was nicht. Die können das nicht mehr schaffen. Und das ist einfach eine Überforderung, und daran zerbrechen auch Menschen. Ich habe einige schon in meinen Seminaren auch erlebt, die alles Mögliche gemacht haben und dann nicht mehr damit umgehen konnten, weil sie konnten es einfach nicht schaffen, und die haben dann zum Teil gekündigt und sind in andere Unternehmen oder sind burnt out, und diese Themen.
Wossagk: Was kann man tun dagegen?
Czutka: Ich denke mir, von beiden Seiten, also von den Unternehmen zum einen, wie Sie vorhin schon angedeutet haben, Regeln einführen, was ist gut, und was ist nicht gut. Vieles lässt man ja so laufen, weil es ja mehr Leistung bringt. Und wir haben ja in der schönen, neuen Arbeitswelt viel auch Kostenreduktionen, das heißt, weniger Leute bei gleicher oder mehr Arbeit. Von Unternehmensseite, denke ich manchmal, ist das auch nicht unangenehm. Auf der anderen Seite ist es so, dass es natürlich die Leute ausbrennt, und gerade, wenn es Wissensarbeiter sind, ist das eher nachteilig. Und die Menschen - da komme ich wieder auf mein Thema, was ich schon mehrfach angesprochen habe -, die Menschen selber müssen auch Grenzen setzen und Grenzen einziehen für sich auch und auch da reflektieren.
Offen über Unternehmenskultur sprechen
Wossagk: Frau Czutka, wie müssen sich Organisationen, Unternehmen aufstellen, damit sie dieser neuen Arbeitswelt gerecht werden in der Zukunft? Was muss sich da grundsätzlich ändern?
Czutka: Ich bin ein großer Fan von einem ehemaligen Unternehmensberater, dem Frederic Laloux, und der geht davon aus - und er ist nicht der einzige, es gibt ganz viele mittlerweile, die sagen, es braucht eine Bewusstseinsentwicklung in Unternehmen. Das heißt, ich muss überhaupt erst mal reflektieren, ich muss bewusst werden, was will ich, was will ich nicht. Es hat auch viel mit Unternehmenskultur zu tun. Ich muss mir da einen Reflexionsprozess schaffen über das, wie ich arbeite. Nicht nur, was arbeite ich oder was tue ich, sondern wie tue ich das, wie tue ich das im Unternehmen. Und ich denke, das ist erst mal das allererste, und das können wahrscheinlich Leute am besten, die selbst schon mal reflektiert haben, die ein gewisses Bewusstsein darüber haben, wo sind hier auch Stolperfallen. Das ist, denke ich mir, eine Sache, sonst wüsste ich ehrlich gesagt nicht, was man da machen kann, außer, dass man darüber wirklich mal offen spricht. Das ist für mich die einzige Möglichkeit.
Wossagk: In diesem Buch, das Sie gerade erwähnt haben von Frederic Laloux, Reinventing Organizations heißt es, da geht es viel um dieses Unternehmen der Zukunft. Und vielleicht eine ganz neue Art von Unternehmen, die so am Horizont steht. Er meint damit noch nicht mal solche vorbildlichen oder fortschrittlichen Unternehmen wie sagen wir mal Patagonia als Beispiel, mit flachen Hierarchien, sondern in eine Richtung, wo so ein Unternehmen eher wie ein Organismus sein wird, wo verschiedene Teams in immer wieder wechselnden Konstellationen und Aufgaben zusammenarbeiten und es diese Pyramide der Informationswege und der Macht nicht mehr geben soll.
"Menschen möchten mehr humanes Arbeiten"
Czutka: Also ich liebe dieses Buch, ich finde da sehr viele Sachen, die mir sehr gut gefallen in dem Buch. Ich glaube aber auch, es geht gar nicht so stark um die klassischen Hierarchien, sondern wie begegnen sich Menschen. Und was ich erlebe, ist, dass viele Menschen Hierarchien auch mit Augenhöhendifferenz interpretieren. Das heißt, ich bin Vorgesetzter, und alle, die unter mir arbeiten, sind unter mir, auch wertmäßig, und das ist, glaube ich, das Thema. Es ist weniger, dass jemand eine Führungskraft ist, und die andere Person arbeitet zu - solange ich da auf so einer wirklich Augenhöhe miteinander umgehen kann, Respekt für den anderen Menschen aufbringe, auch eine gewisse Empathie, wird das gar nicht so sich negativ auswirken. Ganz generell glaube ich, dass Menschen mittlerweile mehr humanes Arbeiten möchten, also dass der Mensch wieder mehr im Mittelpunkt steht und nicht nur Kosten, nicht nur Aufgaben, nicht nur Schnelligkeit, sondern dass man wieder so ein bisschen so zurückkommt zu dem Thema, was braucht denn der Mensch, und was ist die Basis für menschliches Arbeiten. Das ist so das, wo es hingehen muss, und das sind auch die Beispiele von Laloux, wo halt Leute wieder mehr miteinander arbeiten und nicht gegeneinander.
Wossagk: Wäre das für ein Unternehmen denn auch von wirtschaftlichen Aspekten her effektiv? Also bisher wird sehr auf Kosten und Kontrolle und Effektivität geguckt.
Czutka: Ich denke, auf jeden Fall. Weil alles, was gut funktioniert, reibungsloser funktioniert, bringt immer Nutzen. Ich beziehe das immer sehr auch auf individuelle Erfahrungswerte, die Menschen haben. Wenn ich zum Beispiel in einer Beziehung bin mit jemandem und es knirscht und es ist irgendwie sehr ungut, dann wird letztendlich das, was rauskommt, nicht besonders gut sein. Wenn ich aber zum Beispiel mit einem Kollegen eine gute Beziehung habe, und das heißt nicht jetzt heiapopeia, sondern einfach eine gute, konstruktive Art der Auseinandersetzung, des Miteinanderumgehens, dann wird das, was produziert wird, auch eine andere Qualität haben. Und ich denke, darum geht es. Nicht nur die Quantität im Auge zu behalten, sondern auch die Qualität, und das ist natürlich ein gesellschaftliches Thema. Das ist jetzt nicht nur ein Thema von Systemstrukturen, sondern mögen wir lieber Qualität, oder mögen wir lieber Quantität in unseren Leben? Und da passiert gerade etwas, wo ich glaube, es geht mehr zu Qualität. Und höhere Qualität ist in der Regel auch besser für den Output in Unternehmen.
Menschen sind mit Kommunikationsmöglichkeiten überfordert
Wossagk: Ja, auch diese neuen Strukturen, die sich da anbahnen und in manchen Unternehmen auch schon verwirklicht werden mit flacheren Hierarchien, hängen natürlich auch mit der Digitalisierung letztlich zusammen. Es gibt neue Kommunikationswege, wo sich Mitarbeiter untereinander austauschen können, Intranet oder sonst welche zahlreichen Geschichten. Das heißt, die Digitalisierung spielt auch bei der Kommunikation im Unternehmen und damit ja auch bei der Informations- und Machtverteilung eine große Rolle, oder?
Czutka: Ja. Wobei ich glaube, dass die Menschen mittlerweile fast überfordert sind mit den Kommunikationsmöglichkeiten. Dass man E-Mail hat, man hat theoretisch noch Telefon. Man hat irgendwelche gemeinsamen Foren, also so eine Art Facebook in Unternehmen. Und das alles in Balance zu halten und zu bespielen, ist extrem schwierig. Da ist die Komplexität mittlerweile so groß, dass sie schon wieder ins Gegenteil schlägt, weil Leute nicht alles gleichzeitig machen können. Und von daher, das begrenzt sich ein Stück weit selbst. Die Kommunikationsmöglichkeiten, die es gibt, die sind so, dass, wenn man sie nicht beschränkt auf Dauer, dann werden sie ins Negative schlagen. Und was Macht und Einflussnahme durch Kommunikation anbelangt, das ist wie immer schon, also letztendlich geht es natürlich auch wieder um Netzwerke und damit um persönliche Beziehungen. Weil Kommunikation ist eins, das, was ich lese, das, was ich höre, aber was zwischen zwei Menschen passiert oder in der Gruppe, ist noch mal ein ganz anderes Thema, und ich denke, das bleibt, das ist menschlich, das ist neurowissenschaftlich begründet.
Wossagk: Also da spielt die Digitalisierung keine wirkliche Rolle?
Czutka: Es macht es halt komplexer, vielleicht auch komplizierter. Wir brauchen neue Formen der Zusammenarbeit. Aber dass sich Menschen verbinden müssen oder dass Menschen zusammenarbeiten, das wird sich nicht verändern.
Wossagk: Wird die Macht in Unternehmen in Zukunft anders verteilt werden, als das heute meistens der Fall ist?
Unternehmen müssen Führungspersonal sorgfältig auswählen
Czutka: Ich denke, das kommt darauf an, wie man Macht definiert. Ist es eine Macht einfach nur, ich drücke jemandem was drauf? Das geht, wenn ich die hierarchische Stufe dafür habe, aber das wird auf Dauer wahrscheinlich mit vielen Menschen nicht mehr funktionieren, weil die dann, wenn sie woanders hingehen können, auch woanders hingehen werden, oder ich die Leistung nicht bekomme, die ich vielleicht bekommen möchte. Und es gibt aber auch eine Macht, also eine Autorität der Person, der Persönlichkeit. Bin ich jemand, wo Leute sich gern hinwenden oder wo ich auch ausstrahle, dass ich Verantwortung übernehme, dass ich auch Vertrauen rechtfertige. Das ist eine komplett andere Form der Macht. Das ist eigentlich keine Macht, das ist eher Autorität. Und ich glaube, dass das wichtiger werden wird. Das ist ja aber heute auch schon wichtig. Ich meine, wenn man mal in die Unternehmen guckt, es gibt Leute, die sehr dominant agieren, sehr mächtig. Das funktioniert auch bis zu einem gewissen Grad, aber es ist auch so, dass viele Mitarbeiter irgendwann sich da rauslösen oder, wie gesagt, burnt-out sind oder - also wo dann auch negative Wirkungen daraus entstehen. Und es gibt Führungskräfte, da passiert unglaublich viel. Die Leute arbeiten gern für die Menschen. Da passiert das auch mit einer Leichtigkeit, nicht nur mit dem Druck, von dem wir schon gesprochen haben. Also das gibt es ja heute auch schon. Und ich glaube einfach, dass Unternehmen grundsätzlich gucken werden, wie ist die Person, die zum Beispiel ein Team leitet, gestrickt, was für eine Persönlichkeit hat sie. Ist das auch nutzbringend, nützlich für das Unternehmen oder macht es mehr kaputt.
Wossagk: Ist es denn tatsächlich denkbar, denn es wird ja diskutiert und in manchen Unternehmen auch schon ausprobiert, auf den Chef sozusagen ganz zu verzichten. Ein Unternehmen ohne CEO, ohne Chef, ohne Hierarchiestrukturen?
Czutka: Ich denke, da kommt es auch zum einen auf die Größe an, und zum anderen, wie ist es organisiert. Gore war ja vor vielen Jahren noch sehr viel kleiner, und da war das Kernthema immer Arbeiten in kleinen Teams. Und mittlerweile gibt es viele Unternehmen, die auf diesen Ansatz von kleinen, selbststrukturierten, selbstmanagenden Teams letztendlich aufsetzen. Gore war sicherlich sehr früh dran damit, aber ich erlebe das auch in größeren Unternehmen, wo der Trend da hingeht, dass man versucht, so viel wie möglich in die Teams reinzugeben. Die Frage ist, gibt es dann wieder Leute, die das torpedieren. Aber grundsätzlich, wovon Sie auch schon gesprochen haben, es gibt diese Strukturen, die immer mehr in so Organismen sich organisieren sollen, wo also das System einfach im Mittelpunkt steht. Und ich glaube, dass das sehr gut funktioniert, weil so ein Peer-Druck auch und ein Peer-Abgleich letztendlich das Effektivste ist. Man muss nicht kontrollieren, sondern die Leute gucken schon auch, wo sind da immer die Grenzen. Und verletzt jemand die Grenze oder verletzt er sie nicht. Da kann man sehr viel steuern. Das ist ja nichts, was nicht gesteuert wäre, wenn es selbstorganisiert ist.
Wossagk: Die ständige Erreichbarkeit, vielleicht das Arbeiten in kleinen Teams, wo man ganz enge Beziehungen hat - führt das nicht auch dazu, dass man diese Trennung zwischen Privatleben und Arbeitsleben, dass die immer mehr verschwimmt? Wäre das ein Problem oder ist das anzustreben? Manche sagen ja, man wäre dann ganzheitlicher, wenn das sich nicht mehr so unterscheiden würde. Wie sehen Sie das, Frau Czutka?
"Es gibt Menschen, die möchten gern, dass Arbeit und privates ineinander fließt"
Czutka: Auch da wieder, ich denke, das ist sehr persönlich. Es gibt Menschen, die möchten gern so arbeiten, dass Arbeit und privat ineinander fließt, weil ich mich mit der Aufgabe so verbunden fühle, weil ich die Menschen, mit denen ich arbeite, wirklich toll finde, das gibt es. Das ist so ein Stück weit auch vielleicht ein künstlerischer Ansatz, so wie Picasso, der gesagt hat, ich arbeite nicht, ich lebe, und dadurch verwirkliche ich mich. Das ist vielleicht nicht unbedingt die Menge, aber die Leute gibt es auch. Und für andere ist es, denke ich mir, auch ganz wichtig, sehr starke Grenzen einzuziehen, das sind auch zum Teil junge Leute, die erlebt haben, wie ihre Eltern gerade in familiären Situationen darunter sehr gelitten haben, dass es keine Grenzen gab, wo der Vater vielleicht noch am Sonntagmorgen irgendwelche Arbeiten mit nach Hause gebracht hatte. Da sind Leute da, die Grenzen brauchen, und dann gibt es, da denke ich, das ist die Menge, die einfach lernen muss, damit umzugehen.
Wossagk: Damit sich die Arbeitswelt zum Besseren wendet, müssen wir da zuerst mal andere, bessere Menschen werden sozusagen, damit wir auch die bessere Arbeitswelt bekommen?
Czutka: Nein, aber ich glaube, es ist einfach immer eine Sache der Entwicklung. Jeder Mensch, denke ich, hat so einen innewohnenden Pfad der Entwicklung. Es geht nicht darum, zu dieser Selbstoptimierung zu kommen, weil ich glaube, das ist, wo jetzt ganz viele Menschen meinen, sie müssen sich noch mehr optimieren und noch mehr leisten und noch perfekter werden, damit sie überhaupt in so einer Arbeitswelt bestehen können. Das ist sicherlich nicht - zumindest nicht mein Ziel. Aber es geht darum, letztendlich vielleicht sich auch ein Stück weit mehr in seinen Grenzen wohlzufühlen und auch seine Grenzen zu kennen und zu sagen, dafür stehe ich. Und das ist ja auch eine Form von Entwicklung. Aber es heißt bestimmt nicht, dass ich jetzt der perfekte Mitarbeiter werden muss. Weil wenn wir dahin kommen, dann torpediert das mein Ziel, das ich habe, wenn ich mit Menschen und Unternehmen arbeite - dass es einfach menschlicher wird, dass wir uns wieder darauf besinnen, was ist denn überhaupt in uns angelegt.
"Klarheit ist ein großes Thema"
Wossagk: Also nicht der optimierte Mensch, sondern der, der sich dieser Grenzen bewusst ist und der vielleicht auch nicht immer gleich die ganze Welt erobern will.
Czutka: Ja. Und ich glaube auch, das sind die Leute, die sehr vernünftige Entscheidungen treffen, die auch in der Lage sind, Dinge abzuschätzen. Weil wenn ich nicht in der Lage bin, mein eigenes Territorium quasi abzuschätzen und zu reflektieren, wie will ich denn dann größere Zusammenhänge reflektieren? Das eine hat ja mit dem anderen zu tun, das sind einfach Qualitäten, die ich habe. Und wenn ich ständig über Grenzen gehe, für mich persönlich, werde ich die Grenzen wahrscheinlich auch im Unternehmen überschreiten permanent. Und ob das dann immer hilfreich ist für das Unternehmen, weil dann Entscheidungen getroffen werden, die unter Umständen absolut falsch sind, die sich dann sehr teuer bezahlen, und nur so als Seitenhinweis, es gibt ja auch große deutsche Automobilfirmen, wo ich denke, da hat vieles auch so funktioniert, dass man dann einfach über Grenzen gegangen ist. Und das ist nachteilig auf Dauer.
Welche Werte müssen die Organisationen der Zukunft haben, damit sie gesund sind, selbst und für ihre Mitarbeiter?
Klarheit - ich glaube, ganz wichtig ist Klarheit zu sagen, was wird verlangt, was geht, was geht nicht, damit die Leute wissen, in welchem Rahmen befinde ich mich. Das passiert ja heute oft nicht. Es wird eher im Diffusen verhandelt, wenn es überhaupt verhandelt wird. Also, Klarheit ist ein großes Thema. Ehrlichkeit auch damit verbunden, also zu sagen, uns geht es gut, uns geht es schlecht. Nicht politisch so sehr zu agieren. Und Vertrauen ist ein ganz großes Thema, und das hat auch viel mit Klarheit natürlich zu tun, weil wenn ich ständig das Gefühl vermittle, ich retuschiere das, was im Unternehmen ist, dann wird das natürlich einen Einfluss auf Vertrauen haben, weil Mitarbeiter, aber auch Kunden das Gefühl haben, sie können diesem Unternehmen nicht vertrauen. Und ich denke, das ist ein Kernthema auch gerade in Zukunft, wo so viele Unternehmen am Markt konkurrieren. Was macht denn den Unterschied, und welchem Unternehmen vertraue ich da noch, und wo gehe ich auch hin, wo will ich mich engagieren als Mitarbeiter, und wo lasse ich es. Ich glaube, das ist ein großes Thema. Und das wird ein großer Schritt für viele Unternehmen werden. Und da wird sich wahrscheinlich auch viel aussortieren. Und die Leute, das finde ich ganz spannend, werden bewusster. Wenn ich mir überlege, was vor zehn Jahren Menschen über Produkte, über Unternehmen gedacht haben, wie sie sich dazu beziehen, und was es heute heißt, wenn ich mich mit einem Unternehmen auseinandersetze, mit den Produkten, und wie sehr spüre ich denn, passt es oder passt es nicht. Das hat sich extrem verändert. Die Leute sind bewusster geworden, und jetzt geht es darum, in den Unternehmen letztendlich auch Bewusstheit noch mehr auszurollen, dass man das auch reflektieren kann.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.