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Archie Brown
"Der Mythos vom starken Führer"

Wenn in bestimmten Milieus nach einem starken Führer gerufen wird, dann meistens in der Hoffnung, ein Politiker möge endlich durchgreifen und effizient regieren, ohne demokratisches Herumgerede. Warum diese Vorstellung völlig falsch ist, analysiert der britische Politikwissenschaftler Archie Brown.

Von Michael Kuhlmann | 04.06.2018
    Buchcover: Der Mythos vom starken Führer" Propylaen 2018.Hintergrundbild: Adolf Hitler wird 1933 jubelnd in München begrüßt
    Brown stellt fest: Das politische Werk "starker" Führer ist selten so von Dauer, wie sie es sich gewünscht haben. (Buchcover: Propyläen Verlag / Hintergrundbild: AP Archiv)
    Wir schreiben das Jahr 2014. Niemand ahnt, dass bald ein Dilettant als US-Präsident Weltpolitik betreiben wird. Da stellt Archie Brown seine Überlegungen über politische Führung zur Diskussion. Er hat einen Trend beobachtet, und der beunruhigt ihn:
    "In den vergangenen Jahrzehnten war in den politischen Kommentaren eine Tendenz zu bemerken, von Regierungschefs in parlamentarischen Demokratien zu verlangen, sie sollten doch bitte mehr tun als bisher. Man fordert von ihnen, ihre Macht einschließlich ihrer Position gegenüber den Kabinettskollegen und der Partei vehementer einzusetzen."
    Stärke ist ein Kriterium für Sportler, nicht für Politiker
    Besonders für die USA stellt Brown das fest, und auch für Osteuropa aufgrund seiner mangelnden Demokratieerfahrung. Man wird den Osten Deutschlands dazurechnen müssen. Das Kriterium der Stärke aber eignet sich nach Browns Ansicht eher zur Beurteilung von Gewichthebern und Langstreckenläufern als von Politikern.
    Natürlich müssten Regierungen effektiv arbeiten. Es komme aber darauf an, wie sie ihre Entscheidungen träfen. Brown befasst sich mit einigen ganz verschiedenen politischen Führungspersönlichkeiten, die wichtige Weichen gestellt haben; von Margaret Thatcher über Michail Gorbatschow bis hin zu Hitler und Mao Zedong.
    Brown stellt fest: Das politische Werk ‚starker‘ Führer ist selten so von Dauer, wie sie es sich gewünscht haben. Auch von Lenins Erbe blieben unter Stalin nur Teile übrig, und mit Stalins Mythos räumte Chruschtschow auf. Für wirklich effektiv hält Brown eine andere Art der Führung: eben nicht die durch einen starken Mann, sondern die gemeinschaftliche Führung. Denn:
    "Wenn wir einem einzelnen Menschen erlauben, große Macht anzuhäufen, ebnen wir den Weg für gravierende Fehler. Auch kollektive Regierungen sind nicht gegen dumme und schädliche Entscheidungen gefeit. Aber es gibt zahlreiche Belege dafür, dass die Wahrscheinlichkeit katastrophal schlechter Entscheidungen erheblich steigt, wenn eine einzelne Person wichtige Entscheidungen alleine fällen kann."
    Brown nennt da spontan den spanischen Ministerpräsidenten Mariano Rajoy und seinen katalanischen Kontrahenten Carles Puigdemont. Eingehender befasst er sich mit der britischen Appeasement-Politik gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland. Deren Leitlinien bestimmte Premier Neville Chamberlain. Heeresminister Alfred Duff Cooper warnte erfolglos vor Illusionen; und Außenminister Anthony Eden trat ärgerlich zurück. Wäre es nach ihnen gegangen, hätte London eine härtere Gangart vorgelegt. Eine kollegiale Regierung Chamberlain hätte also effektiver agiert.
    Adolf Hitler, ein paar Stufen über Arthur Neville Chamberlain stehend, schüttelt ihm die Hand
    Adolf Hitler und der britische Premierminister Arthur Neville Chamberlain im September 1938 (dpa / picture alliance)
    Die effektive Regierung: ein Kollegium
    Ähnlich Chamberlain schlug auch Tony Blair den nicht-kollegialen Regierungsweg ein: Er war taub gegenüber Experten seines Kabinetts, die ihn vor einer Teilnahme am desaströsen Irak-Krieg warnten.
    Wie man als Regierungschef hingegen klug handelt, zeigt nach Archie Browns Dafürhalten einer der einflussreichsten Präsidenten der Vereinigten Staaten.
    "Abraham Lincoln ist ein herausragendes Beispiel dafür, wie eine kooperative und kollegiale Führung mit Prinzipientreue und bahnbrechenden Veränderungen einhergehen kann. Ein Mann mit geringeren Führungsqualitäten wäre versucht gewesen, persönliche Gefolgsleute in sein Kabinett aufzunehmen, die seine Autorität nie in Frage gestellt hätten. Lincoln hingegen besetzte die wichtigsten Posten mit seinen stärksten Rivalen um die republikanische Präsidentschaftsnominierung im Jahr 1860."
    Das Potential von Debatten
    Browns Ideal verlangt nach Politikern, die ihr Fach verstehen. Damit will der Autor keineswegs der Expertenregierung das Wort reden, einem nur scheinbar objektiven Gremium. Die kollegiale Regierung lebt gerade davon, dass kontroverse Positionen aufeinander stoßen und Kompromisse ausgehandelt werden. Von den Parteien wiederum, die die Regierung stützen, erwartet Brown mehr, als nur Beschlüsse abzunicken. Gleichzeitig hält er sie immer noch für das Mittel, mit dessen Hilfe sich die Bevölkerung Gehör verschaffen könne.
    Das britische House of Parliaments während der Debatte über Luftangriffe in Syrien und dem Irak.
    Das britische Parlament während der Debatte über Luftangriffe in Syrien und dem Irak (picture alliance / EPA / Press Association)
    Der Wert der Parteien
    "Wenn der Niedergang der politischen Parteien voranschreitet, wird ihr Platz von jenen innerhalb und außerhalb der Gesellschaft eingenommen, die am meisten Geld aufwenden können, um sich wirtschaftliche und politische Macht zu kaufen. Zum einen verwandelt sich eine Demokratie auf diese Art in eine Plutokratie. Zum anderen wird die Arbeit politischer Parteien zusehends von direkten Aktionen mehr oder weniger spontan gebildeter Gruppen verdrängt."
    Archie Browns Studie kommt in ihrer deutschen Übersetzung mit einem aktualisierten Vorwort zur richtigen Zeit: Sie erinnert anhand zahlreicher Beispiele daran, dass die sogenannten starken Führer eben nicht automatisch auch effektive Staatslenker sind - sondern dass ein kooperativ arbeitendes Kabinett kluger und eigenständiger politischer Köpfe dem Gemeinwohl besser dienen kann. Und dass eine gut abgestimmte Anbindung an den Souverän, das Staatsvolk, wenn nicht am besten, so doch am wenigsten schlecht über die Parteien funktioniert.
    Stillschweigend voraus setzt Brown allerdings eine funktionierende politische Kultur, deren aufgeklärte Staatsbürger sich mit Pluralismus abgefunden haben und Kompromisse nicht von vornherein als faul abstempeln. Archie Browns Kernaussage über die Schattenseiten starker Führer gehörte in den 1970er Jahren zum Einmaleins im Sozialkunde-Unterricht der Mittelstufe. Dass ein kluger Kopf sie heute auf fast 500 Seiten von Neuem erklären muss, offenbart, wie es 2018 um die politische Bildung in breiten westlichen Gesellschaftskreisen zu stehen scheint: erbärmlich.
    Archie Brown: "Der Mythos vom starken Führer. Politische Führung im 20. und 21. Jahrhundert."
    Propyläen, 478 Seiten, 25 Euro.