Die große Koalition werde in ihrer ersten Kabinettssitzung im neuen Jahr am Mittwoch einen Staatssekretärs-Ausschuss zum Thema Armutszuwanderung einsetzen, sagte Regierungssprecher Georg Streiter. Diesen Prüfauftrag vereinbarten demnach Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD). Die Arbeitsgruppe soll sich mit der Frage beschäftigen, "ob und welche operativen Maßnahmen die zuständigen Ressorts gegen den möglichen Missbrauch von Sozialleistungen veranlassen können".
Zugleich soll Merkel versucht haben, den koalitionsinternen Streit über Armutszuwanderung und Freizügigkeit in Europa zu entschärfen. "Jeder, der lesen kann, wird feststellen, dass es inhaltlich keinen Unterschied gibt in den Koalitionsparteien", sagte Streiter. "Keiner legt Hand an die Freizügigkeit, die zu den zentralen europäischen Errungenschaften zählt." Wer das kritisierte CSU-Papier mit dem umstrittenen Satz "Wer betrügt, der fliegt" ganz lese, werde feststellen, dass "auch dieses Papier den gleichen Geist atmet wie alle anderen Einlassungen".
Zuvor war auch aus den Reihen von SPD und CDU Kritik am Vorstoß der CSU für schärfere Regeln gegen sogenannte Armutszuwanderung gewachsen. "Das alles ist im Ganzen unstimmig und unsinnig", sagte CDU-Vorstandsmitglied Regina Görner mit Blick auf die CSU-Kampagne "Wer betrügt, der fliegt" in der Internetzeitung "Huffington Post". "Die CSU schürt damit das Vorurteil, dass es bereits massiv Einwanderung in die Sozialsysteme gebe. Die hält sich bisher aber in ganz engen Grenzen", sagte die CDU-Politikerin. Der Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt, Michael Roth (SPD), warf der CSU vor, mit "dummen Parolen" Stimmung gegen Einwanderer zu machen. "Das ist nicht das Niveau, auf dem die große Koalition arbeiten darf."
Auslöser der Debatte ist die seit dem 1. Januar geltende Arbeitnehmerfreizügigkeit für Rumänen und Bulgaren in der EU. Sie brauchen nun keine gesonderte Genehmigung mehr, um in Deutschland zu leben und zu arbeiten.
Kritik von Kommunen und CSU-Integrationsbeauftragtem
Die Vorschläge der CSU zur Entlastung der Kommunen bei den Hilfen für Zuwanderer gehen nach Einschätzung des Deutschen Städte- und Gemeindebundes an den eigentlichen Schwierigkeiten vorbei. "Das ist nicht das zentrale Problem", sagte der Hauptgeschäftsführer des Verbandes, Gerd Landsberg. "Den Zusammenhang, der jetzt in der politischen Diskussion herstellt wird zwischen der Arbeitnehmerfreizügigkeit und der Armutszuwanderung, den sehe ich ehrlich gesagt nicht", sagte Landsberg. "Wer nach Deutschland kommen will, konnte dies auch zuvor schon." Die Kommunen benötigten aber konkrete Hilfe bei ihren schon bestehenden Problemen vor Ort. Dabei gehe es um Unterbringung, Gesundheitskosten und um Schulsozialarbeit für die betroffenen Kinder. In Deutschland lebten derzeit rund 300.000 Menschen aus beiden Ländern, die überwiegend gut integriert seien, sagte Landsberg. Nur rund zehn Prozent würden Hartz-IV-Mittel beziehen.
Der Hamburger Senator für Soziales und Arbeit, Detlef Scheele, forderte in diesem Zusammenhang mehr Unterstützung vom Bund. Im Deutschlandfunk sagte der SPD-Politker, nötig seien insgesamt rund 200 bis 300 Millionen Euro. Allein könnten notleidene Städte die Aufgaben nicht schultern, zum Beispiel bei der Krankenversicherung, Integrationskursen und Gewerbeanmeldungen. "Die bisherige Regierung hat sich standhaft verweigert."
Der Integrationsbeauftragte der bayerischen Landesregierung, Martin Neumeyer (CSU), hat seine Parteifreunde in der Debatte um eine drohende Armutszuwanderung zur Mäßigung aufgerufen. "Wir führen eine Gespensterdebatte ohne Zahlen" etwa über die zu erwartende Zuwanderung aus beiden Ländern, sagte Neumeyer dem Bayerischen Rundfunk. Zugleich warf er seinen Parteifreunden vor, sich künstlich zu entrüsten.
CSU verteidigt Position
Bundesagrarminister Hans-Peter Friedrich (CSU), bis vor Kurzem noch für das Innenressort zuständig, verteidigte die Haltung seiner Partei: "Wer will, dass die Freizügigkeit und europäische Solidarität auch in Zukunft Akzeptanz findet, muss verhindern, dass sie missbraucht wird. Wir beschädigen die Freizügigkeit nicht, sondern wir schützen sie", sagte Friedrich.
Nach Deutschland zu kommen, "um Sozialleistungen zu kassieren", sei nicht Sinne der Freizügigkeits-Regelung der EU, sagt Bayerns Innenminister Joachim Herrmann im Deutschlandfunk. "Es ist unbestreitbar, dass es eben leider auch einige gibt, die hier eher dazu neigen, Sozialleistungen zu missbrauchen (...) und dann versuchen, hier auch unseren deutschen Sozialstaat entsprechend auszunutzen."