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Asiatische Moderne

Den meisten mitteleuropäischen Lesern ist nicht bewusst, dass sich die Moderne nicht nur auf den Schauplätzen der europäischen und nordamerikanischen kulturellen Inszenierungen ereignete, sondern auch, zum Beispiel in Ostasien. Vertreter dieser Moderne ist der koreanische Dichter Yisang, der koreanische Rimbaud. Ganz anders dagegen Ko Un. Er schreibt eine eher programmatische Poesie. Von beiden Literaten sind nun deutsche Übersetzungen erschienen.

Von Cornelia Jentzsch | 12.10.2005
    "An die Dunkelheit

    Begrabe die abgenutzten Sinnbilder.
    Bis morgen.
    Wenn du diese Sinnbilder zu Grabe trägst, die bisher
    Deine Seele ganz und gar
    Verschlissen haben,
    Dann erst
    Ist die Nacht eine Nacht, in der erster Schnee fällt.

    Hundert Jahre Politik und Literatur in diesem Land
    Haben die Dunkelheit nur als Sinnbild gepredigt.
    Für die dunklen Jahre des Feudalismus
    Die dunklen Jahre des Faschismus
    Die dunklen Jahre in der Arbeitslagern von Aoji
    Die dunklen Jahre des Ausnahmezustandes
    Und
    Die dunklen Jahre irgendwo.

    Wenn wir uns von diesen verordneten Bildern der Dunkelheit
    Verabschieden
    Du und ich
    Können wie schon morgen feierlich
    Das Ende dieses Alptraums
    Den Sieg über den Tod empfangen.

    Nur die unverschuldete Dunkelheit ist wahrhaftige Dunkelheit."

    Der Dichter Ko Un wurde 1933 geboren, als die Japaner Korea besetzt hielten. Koreanisch durfte damals weder gesprochen noch geschrieben werden. Seine Muttersprache lernte Ko Un heimlich von einem Diener und nach der Befreiung war er der einzige seiner Familie, der sie noch sprach. Um die traumatischen Erlebnisse der japanischen Fremdherrschaft und des Bruderkriegs zwischen Nord- und Südkorea und zu verarbeiten, trat er mit 19 in ein buddhistisches Kloster ein.

    Korea sei in diesem Krieg so stark bombardiert worden, dass es selbst die Berge an den Gipfeln abtrug, sagte Ko Un im Gespräch. Nach zehn Jahren verließ Ko Un aus Protest gegen die politische Haltung und innere Organisation der buddhistischen Orden das Kloster. Er gründete eine Schule für Kinder mittelloser Familien, verfiel dem Alkohol, unternahm einen Suizidversuch, ging nach Seoul, wurde Mitherausgeber einer Zeitschrift, veröffentlichte zunehmend Gedichte, trank erneut, unternahm einen weiteren Selbstmordversuch.

    Der Koreakrieg habe ihn zu einem Nihilisten werden lassen. Im Winter 1979 brachte ihn jedoch der Selbstmord eines Arbeiters, der der gleichen Generation wie er selbst angehörte, zum Nachdenken: Wozu dieser Tod, müsste man nicht Respekt vor jeglichem Lebewesen besitzen? Sein Blick auf die Widersprüche der Diktatur, so Ko Un, habe sich von da ab verschärft und seine Dichtung wurde zunehmend politischer. 1974 wird Ko Un zu einer Haftstrafe verurteilt, weitere Inhaftierungen folgen, unter anderem wegen Kontaktaufnahme zu nordkoreanischen Schriftstellerkollegen.

    In seinen Gedichten ist deshalb immer wieder von einem Wir, von gemeinsamer Hoffnung und von einem besseren Morgen die Rede.

    "In meinen Gedichten ist sehr häufig das Wort Morgen oder Zukunft zu finden, im Prinzip habe ich das auch zu häufig genutzt, [...] Für mich hat das Wort Zukunft oder Morgen etwas schicksalhaftes, es ist etwas, was ich sehr ersehne, was ich sehr positiv empfinde und ich denke, es liegt an der Erinnerung an meinen Vater. Es war nämlich zur Zeit der japanischen Kolonialherrschaft, als wir weder koreanisch sprechen noch koreanische Schriftzeichen verwenden durften und das Land ausgebeutet wurde, so dass ich in der Kindheit häufig Hunger empfunden habe. Normalerweise isst man ja drei mal am Tag, aber zu der Zeit war es so, dass man meistens zwei Mal am Tag aß und wenn, dann auch nur ganz wenig. Und es gab Tage, wo man kein einziges Mal essen konnte und sich den Bauch mit Wasser füllen musste, mit kaltem Wasser füllen musste. Man hat sich aber auch dieses Hungers geschämt. Ich kann mich erinnern, dass mein Großvater häufig während der Essenzeit Feuer gemacht hat. Weil der Rauch aus dem Kamin bedeutet ja, das man genug zu essen hat, um zu kochen. Mein Großvater hat dann einen Kessel mit Wasser gefüllt und geheizt, damit die Leute sehen, es kommt Rauch aus unserem Kamin und wir gehören nicht zu denjenigen, die hungern müssen. Mein Vater kam dann immer sehr spät abends heim, er ist immer sehr weit gegangen, um etwas Essbares für uns zu besorgen. Wir haben immer warten müssen, bis mein Vater kam, in der Hoffnung, dass er uns dann Reis mitbringt. Und wenn dann mein Vater spät nachts heimkam mit leeren Händen, dann war die Enttäuschung sehr sehr groß, weil wir dann eben nichts essen konnten. Mein Vater stand dann immer im Hof und versuchte uns aufzumuntern und sagte dann: Morgen! Morgen ganz bestimmt bringe ich etwas mit! Und deshalb ist dieses Wort Morgen für mich fest in meinem Kopf verankert, also dass ich das in meinen Gedichten sehr häufig verwendet hab. "

    Ko Un schreibt eine programmatische Poesie, die mit jeder Zeile Korrespondenz sucht, die von der Idee einer Verbesserung der Welt ausgeht und dynamische Veränderung, Bewegung bewirken will. Die Wirkung seiner Gedichte zielt auf die Vorstellung einer Gemeinschaft von Menschen, denen er sich zugehörig fühlt.

    Diametral zu Ko Uns Dichtung steht die eines anderen koreanischen Klassikers, Yisang. Seine Poesie bleibt unbedacht auf Wirkung und Wandlung, er beschreibt eine beängstigende Statik, die von der einzelnen Person unbändig reflektiert wird. Seine Bilder sind verwirrend, magisch. Yisang ist DER Wegbereiter der Moderne in der koreanischen Literatur, ein "koreanischer Rimbaud", wie der Droschl Verlag in seinem Prospekt den Verfasser des soeben erschienenen Gedichtbandes "Mogelperspektive" ankündigt. "Den meisten mitteleuropäischen Lesern ist nicht bewusst", heißt es im Prospekt, "dass sich die Moderne nicht nur auf den Schauplätzen der europäischen (und nordamerikanischen) kulturellen Inszenierungen ereignete, sondern auch, zum Beispiel in Ostasien."

    Yisang wurde 1910, knapp ein Vierteljahrhundert vor Ko Un, unter dem bürgerlichen Namen Kim Hae-Kyŏng geboren. Genau in jenem Jahr verlor Korea seine Unabhängigkeit an Japan, es wurde direkt dem japanischen Kaiser unterstellt.

    Yisang hinterließ ein nur schmales Werk von fünfzehn Erzählungen, etwa einhundert Gedichten und fünfzig Essays, die jedoch zu den wesentlichsten der koreanischen Literatur gehören.

    "Durch den Rekord-Graben rennen die Menschen der Unglückliche der in der Gegenrichtung rennt könnte ich sein der sich entfernenden Musik scheint er emsig zu lauschen."
    Mit nur siebenundzwanzig Jahren starb Yisang an Tuberkulose, kurz nachdem er wegen seines schlechten Gesundheitszustandes aus einer Haft in eine Universitätsklinik entlassen wurde. Die japanische Polizei hatte Yisang, wie damals viele andere koreanische Intellektuelle, wenige Wochen zuvor wegen angeblicher "antikolonialistischer Umtriebe" von der Straße weg inhaftiert.

    Das koreanische Wort Yisang bedeutet "merkwürdig". Von einem Japaner irrtümlicherweise mit diesem Wort angesprochen, das auf Japanisch in etwa Herr Yi bedeutet, behielt der Dichter diesen Namen fortan bei. Das Wort "merkwürdig" kehrt sich bei Yisang auf bizarre Weise um. Galt er zunächst als scheinbar unpolitischer, eigenartiger Dichter, dessen Zyklus "Mogelperspektive" bei seinem Erscheinen in einer Tageszeitung 1934 auf Protest der Leser hin nach der fünfzehnten Folge abgesetzt werden musste, wird er heute gerade wegen seiner soghaften, erschütternden Dichtung als des Merkens für würdig befunden.

    " ...den Erinnerungen gegenüber bin ich ein Festkörper. "

    Marion Eggert, neben Hanju Yang und Matthias Göritz Übersetzerin der Poesie Yisangs, schreibt in ihrem Vorwort: "Diese Gedichte sind nicht nur das Psychogramm eines Menschen, der unter den Ansprüchen seiner patriarchalen Tradition ebenso leidet" wie "unter dem doppelt abnormalen Zustand einer raschen, rücksichtslosen Modernisierung unter kolonialem Vorzeichen". Yisangs Gedichte verweisen auf den Verlust sämtlicher Gewissheiten wie sie auch die Zeit im Angesicht ihrer Zerrissenheit zeigen. Tröstende Identifikationsangebote unterbreiten sie nicht.

    "Im Spiegel ist kein Laut.
    Eine stillere Welt gibt es wohl nirgends.

    Auch im Spiegel habe ich Ohren.
    Zwei meine Sprache nicht verstehende armselige Ohren [...]"

    Diese Zeilen Yisangs stammen aus einer weiteren Publikation dieses Herbstes, der bei dtv erschienenen Gedichtanthologie "Wind und Gras", die auch Gedichte von Ko Un enthält. Immer wieder taucht in Yisangs Poesie der Spiegel als Symbol des Lebendigen wie gleichzeitig Erstarrten, des Klaren wie Unergründlichen auf. Der Spiegel, in dem sich alles fokussiert, ist zugleich der Ort größtmöglicher Abwesenheit. Soviel Bewegung sich in ihm auch zeigt, seine Oberfläche bleibt hart und fest.

    "Des Spiegels wegen kann ich mein Spiegel-Ich nicht berühren
    doch wie könnte ich ohne Spiegel ein Spiegel-Ich berühren.[...]"

    Es ist weniger noch als Nihilismus, das hier aus den Zeilen spricht, es ist die schreckliche Ahnung, dass dieser unauflösbare Zustand der eigentliche sein könnte. Dass sich das lebendige Ich nicht ohne seinen Gegensatz, die eingefrorene Statik des Spiegels, wahrnehmen kann.

    "ein apfel fiel herab. die erde zerbrach daran. Schluss. jetzt treibt keinerlei geist mehr keime."



    Ko Un : "Die Sterne über dem Land der Väter". Gedichte.
    Aus dem Koreanischen übertragen und mit einer Nachbemerkung versehen von Woon-Jung Chei und Siegfried Schaarschmidt (Chogokui Byol)
    Bibliothek Suhrkamp 1395, Suhrkamp Verlag 2005. 104 Seiten. Euro 10,80

    Yisang: "Mogelperspektive". Gedichte.
    Aus dem Koreanischen von Marion Eggert, Hanju Yang und Matthias Göritz, mit einem Nachwort von Hanju Yang.
    Droschl Verlag, 168 Seiten, Euro 19,00

    "Wind und Gras. Moderne koreanische Lyrik".
    Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Marion Eggert.
    dtv, überarbeitete und erweiterte Neuausgabe 2005. 154 Seiten. Euro 8,50