Der Umgang mit Flüchtenden ist weltweit für Staaten eine politische, soziale und juristische Herausforderung. Die Flüchtlingsforschung reflektiert das international seit rund 30 Jahren. In Deutschland aber etabliert sich diese Forschungsrichtung erst gerade eben.
Im Netzwerk versuchen Flüchtlingsforscher jetzt so schnell wie möglich sichtbar zu werden und die deutsche Politik zu begleiten.
"Wissenschaft war noch nie ein Instrument, das kurzfristig schnelle Wirkungen auf Politik erzielt hat."
Albert Scherr, Professor für Soziologie an der Pädagogischen Hochschule Freiburg. Kurzfristig schnellt aber die Nachfrage nach wissenschaftlichen Einschätzungen in die Höhe, wenn Politik Probleme hat: Flüchtlingskrise braucht Flüchtlingsforscher.
"Wissenschaft ist ein Instrument, das zu gesellschaftlicher Aufklärung beitragen kann, die sich auch auf Politik auswirken kann."
Vor dem Hintergrund der Flüchtlingskrise wird ein ganz bestimmter Forschungszweig in den Sozialwissenschaften interessant, der in Deutschland derzeit wie neu etikettiert wirkt, aber den es international seit rund 30 Jahren gibt.
Olaf Kleist: "Flüchtlingsforschung beschäftigt sich - wie der Name sagt - mit Flüchtlingen, aber auch allgemeiner gesagt mit Zwangsmigration, Vertreibung und anderen Arten, wo Menschen Zuflucht suchen, weil sie dort, wo sie leben, keinen Schutz mehr haben."
Um auch in Deutschland mehr Aufmerksamkeit für diese spezielle Richtung der Migrationsforschung zu erwirken, gründete der Politikwissenschaftler Olaf Kleist 2013 das "Netzwerk Flüchtlingsforschung" und koordiniert seit 2015 außerdem am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien der Universität Osnabrück das wissenschaftliche Netzwerk "Grundlagen der Flüchtlingsforschung". In dem wird der Austausch von 14 Wissenschaftlern für drei Jahre von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert. Olaf Kleist selbst forscht derzeit an der Universität Oxford am Refugee Studies Centre - einem weltweit führenden Zentrum für Flüchtlingsforschung:
"In Deutschland ist es wirklich ein sehr neues Forschungsfeld. Erst seit ein paar Jahren gibt es hier jetzt wirklich auch den Versuch, die verschiedenen Forscher und Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen hier zusammen zu bringen zu dem Thema, obwohl es natürlich auch schon in den frühen 80er- und 90er-Jahren durchaus einige Studien zu politischem Asyl gegeben hat. Was neu jetzt ist, ist, dass verschiedene Disziplinen verschiedene Perspektiven auf globale, europäische und deutsche Phänomene von Flucht, Vertreibung und Schutz untersuchen."
Deutschland, ein Einwanderungsland
Die Auseinandersetzung mit dem Phänomen von Flucht und Vertreibung hat hierzulande offenbar ähnlich auf sich warten lassen wie die gesellschaftliche Beschäftigung damit, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist.
"Wir haben mit Flüchtlingen ähnliche Aufgaben wie auch mit anderen Migranten - wenn wir über Integration sprechen, über die Aufnahme. Wir sehen das ja auch aktuell: die Aufnahme von Flüchtlingen in Deutschland, die natürlich zum Teil eine Herausforderung für die gerade entstehende Einwanderungsgesellschaft Deutschlands ist. Aber wir haben eben, wenn wir über Flüchtlinge sprechen, auch zusätzliche Herausforderungen, die man vielleicht bei anderen Migrationsgruppen nicht in dem Maße hat - seien es Fragen von Traumata, seien es die Fragen von 'Wie gehen wir eigentlich mit Familien, mit Familiennachzug um?' und ähnlichen Dingen."
In den Arbeitstreffen des Netzwerks 'Grundlagen der Flüchtlingsforschung' wird vergleichend nach anderen Perspektiven im Umgang mit Flüchtlingen gefragt. Und man konzertiert sich auf juristische, praktische und nicht zuletzt begriffliche Fragen. Wer ist eigentlich ein "Flüchtling"? Albert Scherr:
"Wir analysieren die Frage, wer unter welchen Bedingungen als Flüchtling anerkannt wird und nicht als Flüchtling anerkannt wird. Weil, der Begriff Flüchtling heißt ja erst mal nichts anderes als jemand, dem ein Schutzanspruch und ein Zuwanderungsanspruch zugesprochen wird, während alle, die nicht als Flüchtlinge gelten, eben die Mitteilung bekommen: Ihr dürft nicht im Land bleiben oder ihr dürft nicht rein kommen."
Wenn Begriffe ein Eigenleben entwickeln
Die Unterscheidungen haben Vorläufer, sagt der Historiker Marcel Berlinghoff, Mitglied im Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien und Koordinator im DFG-Netzwerk:
"Beispielsweise in den 70er-Jahren wurde dann von Juristen im Rahmen des Asylrechts der Begriff geprägt eines Asylantrags, der offensichtlich unbegründet sei. Das hat natürlich in der öffentlichen Debatte einen ganz anderen Klang, wenn es dann eher in die Richtung geht: Ja, die sind ja alle grundlos hier und das sind sogenannte Scheinasylanten - das war von der Juristen so nicht gemeint. Aber in der öffentlichen und in der politischen Diskussion können dann eben Fachbegriffe aus den Wissenschaften auch in einem anderen Kontext erscheinen und ein Eigenleben fortführen."
Albert Scherr: "Das heißt, der Flüchtlingsbegriff ist eine sehr mächtige, eine wirkungsmächtige Kategorie und die Rolle der Wissenschaft ist erst mal zu analysieren, was steckt in dieser Kategorie, wie gut ist sie begründet, wie legitim sind die Ausgrenzungen, die sie vornimmt? Und das ist erst mal unser Job."
Durchmischte Migrationsströme
Die Grenzen zwischen Arbeitsmigration, Armutsmigration und politischer Verfolgung sind viel unklarer, als immer geglaubt wird, betont Albert Scherr. Die Wissenschaft spricht vielmehr von 'mixed migration flows', also von durchmischten Migrationsströmen und fragt nach den Konsequenzen, wenn eine bestimmte Teilgruppe von Migranten rechtlich als Flüchtlinge anerkannt wird und andere Teilgruppen nicht. Scherr:
"In der politischen Diskussion müsste man, wenn man könnte, an bestimmten Punkten 'Stopp' rufen, wenn auf einmal Forderungen auftauchen, die den internationalen Rechtsbestimmungen zuwider laufen. Also nehmen Sie die Genfer Flüchtlingskonvention: Die garantiert jedem Flüchtling erst mal das Recht auf ein geregeltes Verfahren. Damit kann man nicht einfach sagen, wir begrenzen die Flüchtlingszahlen, ohne das Völkerrecht außer Kraft zu setzen. Es gibt Punkte da müsste man 'Stopp' rufen, man wird nur leider nur begrenzt gehört."
Helen Schwenken: "Als Migrationssoziologin, die sich auch seit vielen Jahren schon mit Prozessen von bürgerschaftlichem Engagement, von neuen sozialen Bewegungen beschäftigt, interessieren mich vor allem Fragen auch, wie die Gesellschaft in Deutschland auf die neu Hinzugekommenen reagiert. Weil auch Migrations- und Flucht- und Asylpolitiken immer zu gesellschaftlichen Konflikten führen."
Auch Helen Schwenken, Professorin für Migration und Gesellschaft am Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften der Universität Osnabrück ist Mitglied in den Netzwerken für Flüchtlingsforschung. Sie untersucht in verschiedenen Gemeinden Initiativen, die sich entweder für oder gegen Flüchtlinge oder deren Abschiebung bilden:
"In unseren Fällen sind beispielsweise auch Schulklassen oder Fußballvereine, wo auf einmal jemand abgeschoben werden soll, und daraus entwickeln sich sehr spannende Prozesse. Und mich interessiert hier daran unter anderem auch, inwiefern eine längerfristige Politisierung über diese Proteste geschehen kann."
Asylrechtsverschärfung befriedigt nur Ressentiments
Weil die Zahl der Abschiebungen in den nächsten Monaten und Jahren mit Sicherheit zunehmen wird, fragen derzeit schon viele Akteure bei den Wissenschaftlern nach, was für konkrete gesellschaftliche Folgen bestimmte Maßnahmen - wie zum Beispiel die Verschärfung des Asylrechts - dann wohl haben werden. Schwenken:
"Wenn wir uns auch Migrationspolitik, Migrationskontrollpolitik anschauen über Jahrzehnte hinweg, stellen wir fest, dass ganz viele dieser Politiken so nicht funktionieren werden. Das betrifft Abschiebung, aber auch alle anderen möglichen Vorschläge, die jetzt in der aktuellen Diskussion sind. Und da können wir aus einer wissenschaftlichen Perspektive sagen, oder auch das besser einordnen und sagen: Das dient dazu, bestimmten Ressentiments in der Bevölkerung jetzt Genüge zu tun, aber das ist weder verfassungsrechtlich gedeckt, noch ist es menschenrechtlich unproblematisch, was wir derzeit mit der Verschärfung des Asylrechts sehen - unter anderem die Ausweitung von Inhaftierungsgründen, das Selektieren von sogenannten guten und schlechten Flüchtlingen, heute heißt es mit und ohne Bleibe-Perspektive."
Albert Scherr: "Also es muss stärker kommuniziert werden, dass diese angeblich so klare Unterscheidung zwischen wirklich Verfolgten und nur Armutsflüchtlingen der Realität nicht gerecht wird. Ich kann das sehr gut selbst beschreiben: Ich habe relativ intensiv geforscht über die Situation von Roma in den ex-jugoslawischen Staaten. Was man da sehr gut beschreiben kann, ist eine Gemengelage von Armut und Diskriminierung und staatlicher Akzeptanz von Diskriminierung, die die in die Situation der völligen Perspektiv- und Aussichtslosigkeit bringt. Und dann zu sagen, das sind 'nur' Armutsflüchtlinge, geht an der Lebensrealität vorbei."
Leitmedien heute differenzierter als in den 90ern
Interessant ist, dass die Wissenschaftler die mediale Diskussion über Flüchtlinge als wesentlich differenzierter einschätzen als noch in den 1990er-Jahren. Albert Scherr:
"Da war doch die große Stimmungslage auch medial transportiert: Asylantenfluten, das Boot ist voll, also es gab eine sehr stark symbolgeladene Abwehrrhetorik auch in 'Stern', 'Spiegel' und anderen quasi Leitmedien. Das ist inzwischen deutlich anders geworden. Der Mediendiskurs ist wesentlich differenzierter geworden, der politische Diskurs gerade nicht mehr."
Ohnehin ist der Blick in die Geschichte ein wichtiges Thema in den Netzwerken. Gerade erst trafen sich die Mitglieder dafür an der Universität Oxford. Marcel Berlinghoff:
"Man kann daran ganz gut sehen, am historischen Beispiel, wie Flüchtlingspolitik passiert ad hoc, in Momenten, in denen es Herausforderungen gibt, wie auch jetzt aktuell wieder, aber auch wie Politik geändert wird, wie Kategorien geändert werden, wie Zuschreibenden geändert werden. Und dafür ist eine historische Perspektive sehr wichtig."
Fragwürdiger Blick auf die eigene Geschichte
Außerdem wird in den aktuellen politischen Debatten um den Umgang mit Flüchtlingen nicht selten auf die eigene Geschichte verwiesen - als Argument für flüchtlingspolitische Entscheidungen. Und das auch fragwürdig, denn es geht dabei um Klischees oder sogenannte Narrative über Gesellschaften, die bei genauem Hinsehen nicht stimmen, sagt Berlinghoff:
"Beispielsweise Frankreich als klassisches Asylland oder eben Deutschland, das ein Nicht-Einwanderungsland sei und dann überhaupt nicht reflektiert hat für viele, viele Jahrzehnten, dass natürlich die deutsche Nachkriegsgesellschaft eine in Bewegung war! Die unter anderem durch Zwangsmigration, durch Vertreibung, durch Flucht gekennzeichnet war - was natürlich ein Erfahrungshorizont der gesamten Gesellschaft ist."
Anfang 2016 plant das Netzwerk Grundlangen der Flüchtlingsforschung ein Arbeitstreffen zum Verhältnis von Wissenschaft, Politik und Praxis, das Helen Schwenken organisiert. In der Praxis sind zum Beispiel auch Mediziner und Psychologen am Umgang mit Flüchtlingen beteiligt. Sie halten entweder posttraumatische Belastungsstörungen fest, führen Altersfeststellungen durch oder nehmen zur Reisetauglichkeit bei Abschiebungen Stellung. Helen Schwenken:
"Das ist ein ethisch höchst schwieriges Feld, weil dort dann Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen daran beteiligt sind, staatliche Maßnahmen ja zu begründen, zu untermauern mit wissenschaftlichen Ergebnissen. Und das möchten wir dort auch reflektieren - weil es auch gerade in der Vergangenheit, gerade Skandale gegeben hat, in Berlin etwa, wo ein vermeintlicher Mediziner, der noch nicht mal eine Approbation vorweisen konnte, 50.000 Gutachten geschrieben hat und Abschiebungen dadurch legitimiert hat. Der wird mittlerweile gesucht, es stehen Strafverfahren an, aber das stellt natürlich für bestimmte Professionen überhaupt dieses ganze Gutachterwesen infrage."
Forschung kann das Forschungsobjekt gefährden
Wenn man über Flüchtlinge forscht, stellen sich auch noch andere ethische Fragen, sagt Olaf Kleist. Die schutzbedürftige Gruppe - die zum Objekt der Wissenschaft wird - sei besonders verletzlich. Das bedeute:
"Dass wir aufpassen müssen, wenn wir zum Beispiel Interviews führen, dass wir dort keine Retraumatisierung auslösen, dass wir aber auch den Flüchtlingsschutz gewähren, indem wir zum Beispiel sie anonymisieren, dass wir klar machen, dass sie nicht eine zusätzliche Gefährdung durch unsere Forschung erfahren. Also wir haben hier eine ganz spezifische Verantwortung für Flüchtlinge in der Forschung selber, aber nachher auch in dem Output: Also in der Frage: Welche Konsequenzen hat es eigentlich, wenn wir bestimmte Sachen veröffentlichen, wenn wir bestimmte Ergebnisse haben? Das heißt nicht, dass wir Ergebnisse zurückhalten würden, aber wir müssen uns auch darüber immer klar sein, dass es Auswirkungen hat, was wir sagen und welche Ergebnisse wir nachher präsentieren."
Weil Flucht und Vertreibung Konstanten der modernen Gesellschaft sind, sagt Olaf Kleist, möchte der Wissenschaftler die Flüchtlingsforschung auch institutionell in Deutschland verankern:
"Auch wenn die Zahlen in Europa zurückgehen werden, werden wir noch immer viele Millionen Vertriebene und Flüchtlinge weltweit haben. Und das ist eine Aufgabe, der sich Deutschland und der sich Europa dauerhaft stellen muss. Wir haben hier eine dauerhafte Verantwortung und dafür braucht es auch eine dauerhafte und nachhaltige Forschung."
Wenn die Minderheit in der Mehrheit ist
Denn von Dauer sind auch die Konsequenzen, die Migration insgesamt hat. Die Verankerung des DFG-Netzwerkes am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien der Universität Osnabrück ist bewusst gewählt. Der Austausch ist wichtig - zum Beispiel mit Blick auf die langfristigen Veränderungen der Gesellschaft, in die immer mehr Menschen einwandern. Der Ethnologe Jens Schneider, Mitglied im Osnabrücker Institut, verweist auf eine Entwicklung, die sich in modernen Städten bereits vollzieht und die in der Wissenschaft umschrieben wird mit "mehrheitliche Minderheitenstadt":
"Das haben wir eben nicht nur in Amerika, wo der Begriff herkommt - 'majority minority cities' - sondern inzwischen eben auch in Europa. Und das passiert aber sozusagen unter dem Radar. Also da wird wenig drüber berichtet. Und das ist eine demografische Revolution, die, glaube ich, weit größere und weit tiefere Auswirkungen hat als alles, was wir seit dem Zweiten Weltkrieg erlebt haben."
Städte setzten sich aus immer mehr Minderheiten zusammen, die hier miteinander leben. Das stellt die Grundidee der Integrationsgesellschaft auf den Kopf, sagt Jens Schneider. Wo hinein sollen Migranten - ob Arbeitsmigranten oder Flüchtlinge - denn dann noch integriert werden?
"In einer Gesellschaft, wo alle Minderheiten sind, habe ich als Mehrheit, als ehemalige Mehrheit, nicht mehr die Position, um zu sagen: Gleicht euch uns an! Weil was wir unter Integration verstehen, ist ja eigentlich: Versucht möglichst so zu werden wie wir. Ihr dürft eure Sprache behalten, okay. Aber eigentlich ist die schönste Integration: Die Leute werden wie wir. Und das ist dann natürlich vorbei. Wenn ich in einen Arbeitszusammenhang komme, wo zehn Leute arbeiten und die, die ethnisch deutsch sind, sind auch nur zwei - mit welchem Recht stelle ich mich hin und sage: Ey, ihr müsst das so machen, wie wir das machen? Und das ist überhaupt noch nicht angekommen. Das ist eine psychologische Herausforderung, die interessanterweise besonders an diejenigen sich richtet, die eben bisher mit dem Thema noch nicht beschäftigt waren: also sprich die Mittelschichten, die oberen Mittelschichten, die bürgerlichen Stadtteile, die bürgerlichen Gymnasien und so weiter."
Weitere Informationen
In zwei aktuellen Publikationen erfahren Sie mehr über Flüchtlingsforschung und die Veränderung unserer Gesellschaft. Die 2015 erschienene Ausgabe der Zeitschrift "Peripherie" widmet sich dem "Dis-Placement: Flüchtlinge zwischen den Orten", herausgegeben von Olaf Kleist und Helen Schwenken. Außerdem 2015 erschienen: "generation mix. Die subversive Zukunft unserer Städte und was wir daraus machen" von Jens Schneider.