Dostojewski war ins sibirische Ostrog deportiert worden. Auf dem Weg dorthin schenkt ihm eine politische Mitgefangene eine Bibel - er wird sie sein Leben bei sich führen.
In der Verbannung lebt Dostojewski unter Säufern, Wüstlingen und Mördern. Und nie zuvor ist er auch einfachen russischen Menschen so nahe gewesen.
Anfangs ist es die Hölle für ihn. Durch diese Begegnungen lernt er die Welt noch einmal ganz neu kennen. Und an einem Ostermorgen erinnert er sich an ein Ereignis seiner Kindheit.
Eugen Drewermann:
"Er erinnert sich an den Bauern Marai, ein Kindheitserlebnis, er ist voller Angst, gelaufen durch ein Sonnenblumenfeld, weil er gehört hat, dass ein Wolf käme, und er rennt um sein Leben in die Arme des Bauern Marai, und der mit seinen erdverschmierten Fingern, malt ein Kreuz auf die Stirn des kleinen Dostojewski."
Dostojewski als christlicher Schriftsteller
Es ist dieses Erlebnis, das nach Eugen Drewermann als die eigentliche Geburtsstunde von Dostojewski als Schriftsteller bezeichnet werden muss, auch wenn er bereits vor seiner Zeit in der Verbannung publizistisch tätig gewesen war.
"Es gibt kein Recht, irgendjemanden der Häftlinge an seiner Seite zu verurteilen. Sie alle könnten der gleiche Bauer Marai sein. Und also muss man hingehen und verstehen, wie sie wurden, was sie sind. Man muss ihnen zuhören. Ihre Geschichten sich erzählen lassen. Das ist die zentrale Wende, die aus Dostojewski den christlichen Schriftsteller macht."
"Dostojewski ist ein Menschenschöpfer von einer Größe, die man erst langsam ermisst. Je klarer man das Ganze sieht, desto unbegreiflicher wird seine Größe. Denn die Gestalten des großen Dichters gehorchen nicht ihm, sondern folgen ihren eigenen Gesetzen, und sind noch tiefer als er selbst."
Die Brüder Karamasow wurden von demselben Vater gezeugt, aber von verschiedenen Müttern geboren. Bereits als Kind war Aljoscha von seiner Mutter in heiliger Hysterie zur Ikone der Muttergottes hinaufgehalten worden. Fast so als wolle sie den Sohn unter dem Mantelsaum der Gottesmutter in Sicherheit bringen.
Hoch gebildet, unnachgiebig, stolz
Romano Guardini hat diesen Aljoscha, der uns später als Mönch begegnet einen "Cherub" genannt.Iwan dagegen zeigt sich in den Dialogen als mephistophelischer Freigeist: hoch gebildet, unnachgiebig, stolz.
"Er hat keinen Halt, keine innere Verwurzelung. Er ist ein Intellektueller, der wohl Werte herbeidenkt, aber in merkwürdiger schizophrener Abgespaltenheit."
Iwan ist eine zerrissene Figur, wie ein großer, unerlöster Gedanke. In seinem Wesen liegt etwas von der Verachtung des gelehrten Atheisten.
"Iwan beginnt mit der Frage, die sich in der deutschen Philosophie einzig Schopenhauer in dieser Dichte gestellt hat: Was ist es mit dem Leiden der unschuldigen Menschen."
"Liebst du kleine Kinder, Aljoscha? Deshalb weise ich eine höchste Harmonie entschieden zurück. Sie ist auch nicht das Tränchen eines gemarterten Kindes wert. Ich will keine Harmonie. Diese Harmonie ist viel zu teuer, der Eintrittspreis übersteigt unsere Verhältnisse. Darum beeile ich mich, mein Billett zu retournieren. "
"Das ist Revolte, sagte Aljoscha leise und schlug die Augen nieder."
Gipfel der Inquisitionsprozesse
Dies ist der Moment, in dem Iwan, der Ältere, Aljoscha, dem Jüngeren, die Legende vom Großinquisitor erzählt, in der Christus wieder auf Erden erscheint.
"Bei mir auf der Bühne erscheint Er. Das geschieht bei mir in Spanien, in Sevilla, auf dem Höhepunkt der Inquisition. Er kam unauffällig und still, doch erkannten sie ihn alle. Die Menge strömt mit unaufhaltsamer Gewalt auf ihn zu, umringt ihn und folgt ihm. Er schreitet wortlos unter den Menschen dahin, mit dem stillen Lächeln unendlichen Erbarmens."
Wir befinden uns auf dem Gipfel der Inquisitionsprozesse. Soeben sind hunderte Häretiker qualvoll hingerichtet worden. Dafür verantwortlich ist der allmächtige Großinquisitor, der Christus sofort erkennt.
"In eben diesem Augenblick geht über den Platz vor der Kathedrale der Kardinal-Großinquisitor selbst. Er ist ein Greis von bald neunzig Jahren in seiner groben Mönchskutte. Er sieht alles und sein Gesicht verfinstert sich. Er weist mit dem Finger auf "ihn" und befiehlt den Wachen, ihn zu ergreifen."
Nun droht Christus selbst zum Opfer der Inquisition zu werden - zum Opfer jener, die in seinem Namen herrschen.
"Die Wachen führen den Gefangenen in ein enges, düsteres Gewölbe, ein Verlies in dem uralten Sitz des Heiligen Tribunals. Der greise Großinquisitor bleibt am Eingang stehen und sieht „ihm" lange ins Antlitz. Endlich nähert er sich „ihm" langsam und sagt: „Bist Du es? Du? Antworte nicht, schweige. Du hast ja auch nicht das Recht, dem etwas hinzuzufügen, was Du bereits früher gesagt hast."
Zynische Rede
Um Mitternacht wird Christus verhört: Wie kann der Gottessohn es wagen, auf die Erde zurückzukommen und die Ordnung zu stören, welche die römisch-katholische Kirche in über tausend Jahren errichtet hat.
Eugen Drewermann:
"Man glaubt nicht an Gott, man glaubt an den Staat. Man glaubt nicht an ein Jenseits, sondern an ein Glückseligkeitszuchthaus, das man diktatorisch auf Erden einrichtet: Und das werden die Gedanken des Großinquisitors."
Die Rede des Großinquisitors ist zynisch wie die eines Machiavelli der Geistlichkeit. Aber sie entbehrt nicht einer gewissen Logik.
"Jesus hat die Menschen überfordert, meint Iwan. Indem er ihnen die Freiheit zutraute. Das ist eine viel zu schwere Last."
"Als der Inquisitor verstummte, wartete er eine Weile, dass der Gefangene ihm antworte. Er aber nähert sich plötzlich dem alten Mann und küsst ihm still auf seinen blutleeren Mund. Das ist Seine ganze Antwort. Der Greis erschauert. In seinen Mundwinkeln zuckt es. Er geht zur Tür, schließt sie auf und sagt zu "ihm" ‚ geh und komme nicht wieder. Niemals, niemals!"
Prophetische Begabung
Die Parabel vom Großinquisitor hat bis heute eine enorme Wirkungsgeschichte. Russische Religionsphilosophen wie Leo Schestow oder Nikolai Berdjajew haben sich darauf berufen, um das Gottesverhältnis des Menschen zu erklären, ebenso wie die Philosophen Martin Heidegger oder auch Albert Camus, der ihm eine prophetische Begabung zuschrieb:
"Er hat die Herrschaft der Großinquisitoren und den Triumph der Macht über die Gerechtigkeit vorausgesehen."
Dostojewski war von der zeitgenössischen Geistesströmung der Slawophilen nachhaltig beeinflusst, immer wieder zeigen sich bei ihm auch antiwestliche Ressentiments der Ostkirche. Ein Ereignis hat Dostojewski besonders aufgeregt: Zur Zeit des Balkankrieges sandte der Papst ein Glückwunschtelegram an die erfolgreichen Türken – für Dostojewski war das eine Ungeheuerlichkeit.
"Dostojewski hat schließlich noch miterlebt wie der Papst sich unfehlbar erklärt, 1870 im ersten Vatikanischen Konzil. Es kann nicht anders gewesen sein, als dass er sich bestätigt gefühlt hat in seiner Großinquisitor-Fantasie."
Weite des Menschenbildes
Seit seiner Zeit in sibirischer Gefangenschaft fasziniert Dostojewski der russische "Raskol" oder Altgläubige. Im Katholizismus vermag er dagegen nur den Rationalismus zu sehen, der aus der für ihn aus einer "unheiligen" Verbindung des Christentums mit der römischen Staatsidee hervorgegangen sei.
"Was Dostojewski dabei ohne Zweifel übersieht, das ist nicht zu leugnen, ist wie tief die Orthodoxie selber dem Zarentum sich verbunden hat. Wie nationaltheologisch die Orthodoxie in all den Ländern geworden ist, wie viel Konstantinismus und Byzantinismus ihr innewohnt, demgegenüber war er blind. Da ist er Ideologe, in gewisser Weise sogar Propagandist."
Auch zum Judentum hat sich Dostojewski immer wieder in bedenklicher Weise geäußert. Doch rät Eugen Drewermann dazu, den Autor nicht an der gelegentlichen ideologischen Enge seiner Weltanschauung zu messen, sondern an der Weite seines Menschenbildes.
Friedrich Nietzsche hat einmal geschrieben, Dostojewski sei der einzige Psychologe, von dem er habe lernen können. Ob mit seinem Fürsten Myschkin in „Der Idiot" mit seiner christusähnlichen Mitleidskraft;
Oder seinem dunklen Bruder Stawrogin aus den „Dämonen", einer satanischen Gestalt mit dunkel-leuchtendem Charisma, das Menschen in Bann schlägt, um sie mit der kalten Boshaftigkeit eines Experiments in ihr Verderben zu schicken:
In gewisser Weise nimmt Dostojewski zentrale Erkenntnisse des ganzen 20. Jahrhunderts vorweg: die Psychoanalyse als Versuch, den Menschen in seinen Tragödien zu verstehen; den Existenzialismus als die Theorie, dass der Hintergrund aller menschlichen Befindlichkeiten die Angst sei.
"Wie beruhigt man die Unruhe in der Tiefe? Außer durch eine Liebe, die alles versteht. Der Weg zu einer Integration des Menschen ist ein unendliches Verstehen."