Hier spricht einer, der sagt: Was man nicht versteht, kann man nicht gut heißen, und was ich nicht verstehe, kann auch nicht gut sein. Soviel gesunde Arroganz verlangt die Selbstachtung. Der neuste Streich von Christoph Schlingensief und der Volksbühnendramaturgie setzt die unendliche Agonie des Gegenwartstheaters auf exemplarische Weise fort: Mit intellektueller Windmacherei im Begleitbuch wird eine hundertminütige Performance-Nichtigkeit zum interpretationsfähigen Kunstakt veredelt. Auf der Bühne produziert Schlingensief sein gewohntes Quatschgehampel mit Kettensägeneinsatz, Schlamm- und Blutwälzereien, für einen Moment darf man sein Geschlechtsteil bewundern – ziemlich kurz –; und zum Schluss fällt eine Schweinehälfte vom Bühnenhimmel.
Aus dem potenziell unendlichen Zeichenreservoire des Abendlandes werden bevorzugt religiöse Anspielungen verwendet – vielleicht kommt ja ein tumber Staatsanwalt mit der Blasphemiekeule daher und sorgt für juristische Begleitmusik. Derartige Provokationen können nur auf der visuellen Ebene im Campingplatz-Bühnenbild zünden, denn akustisch ist der Abend unrettbar verloren, die allermeisten Sätze gehen in Hintergrundgeräuschen unter. Zwei ehemals nicht untalentierte Schauspieler (Josef Bierbichler und Irm Hermann) fallen in der Laienspielschar – wie immer aus der untersten Bevölkerungsschicht gecastet – durch ihre geschulte Sprechkultur keineswegs auf, aber das macht nichts, sie haben ohnehin nichts zu sagen. Alles Wichtige steht im Begleitbuch, in dem sich die Hohepriester der zeitgenössischen Medienphilosophie Peter Sloterdijk, Boris Groys und der in die Jahre gekommene Bazon Brock gegenseitig jene Bedeutung verleihen, die sie alleine nicht besäßen, weil es der Gesamtgesellschaft ziemlich schnurz ist, ob sie in ihren Randbereichen vom so genannten "Attaismus" befallen ist. Auch mit Fußpilz kann man lange leben, und der von Schlingensief und Kumpanen ausgerufene "Attaismus", eine doppelte Namensanleihe am Dadaismus und einem der Elften-September-Attentäter, wiederholt nur, was Generationen vor ihnen an präpotentem Pubertätswahnsinn durchlitten: Chaos als Methode, Sinnlosigkeit als Prinzip. Übrigens, Christoph Schlingensief ist über vierzig und nach ehernem Kritikrecht kein Heranwachsender mehr, es darf ihn also die volle Härte der öffentlichen Meinung treffen.
"Meinungsverschiedenheiten über den Rang von Kunstwerken hat es immer gegeben, und sie waren heilsam", schrieb 1993 der Historiker Alexander Demandt in einer bitterbösen Kulturbetriebsverdammung. "Inzwischen aber verstummt der Streit zugunsten eines laissez faire, laissez aller. Es fehlt an ästhetischer Zivilcourage zur Bestimmung der Grenzen des Zumutbaren." Demandt wusste schon damals, wovon er redete, wissenschaftlich beschäftigt er sich nämlich mit dem Untergang von Hochkulturen. Zehn Jahre später ist der Ruf nach Zivilcourage obsolet geworden. Die Barbaren stehen nicht mehr draußen vor der Tür, wir subventionieren sie längst. In diesem Punkt hat Christoph Schlingensief sogar recht: Die Kunst ist ausgebrochen und hat all jene Bereiche des Lebens infiziert, die sich vorher noch bester Gesundheit erfreuten. Langsam wird es Zeit, sie in Quarantäne zu sperren – oder sollte ich die Botschaft des Abends falsch verstanden haben?
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