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Aufregung um Kretschmann-Mitschnitt
"Es war bestimmt kein privates Gespräch"

Winfried Kretschmann in Rage – der heimliche Videomitschnitt vom Grünen-Parteitag entzweit Journalisten: War es in Ordnung, den Grünen-Politiker ohne ausdrückliche Genehmigung aufzuzeichnen? Man müsse differenzieren, findet Journalistikprofessor Volker Lilienthal. Auf jeden Fall trage Kretschmann eine Mitverantwortung.

Von Michael Borgers |
    Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann spricht in Münster auf dem Bundesparteitag der Grünen.
    Winfried Kretschmann (dpa-Bildfunk / Bernd Thissen)
    "Wie kann man denn so ein Zeug verzapfen?", fragt Winfried Kreschmann im Laufe des Gesprächs mit seinem Partei- und Fraktionskollegen Matthias Gastel, das seit Mitte vergangener Woche im Videoportal Youtube dokumentiert ist. Gespräch ist eigentlich das falsche Wort: Während im Hintergrund ein laufender Redebeitrag des Grünen-Parteitags zu hören ist, gerät Kretschmann über die zuvor beschlossenen Automobilpläne in Wallung, spricht unter anderem von "Schwachsinns-Terminen" und fordert "Jammert nicht rum und lasst mich in Ruhe".
    Gut zweieinhalb Minuten dauert die Sequenz, die seitdem viel diskutiert wird, nicht nur bei den Grünen. Denn: Sie wurde ohne ausdrückliche Einwilligung Kreschmanns und Gastels gemacht.
    Das Bild zeigt eine Szene aus dem umstrittenen Video, in dem Baden-Württembergs Ministerpräsident Kretschmann (Grüne) dem Parteikollegen Gastel "Ihr habt keine Ahnung" zuruft (Die Untertitel stammen von den Autoren des auf Youtube veröffentlichten Beitrags).
    Ein Screenshot aus dem umstrittenen Video. (Youtube / jouWatchTV / Christian Jung - veröffentlicht am 21.06.2017)
    Kritik aus Stuttgart
    Der Grünen-Politiker Boris Palmer, Bürgermeister von Tübingen, spricht von einem "Skandal, dass jemand so etwas aufnehme", nicht wegen des "nicht aufregenden Inhalts", sondern wegen der Art und Weise der unerlaubten Aufzeichnung. Ähnlich äußert sich Thomas Strobl, Kretschmanns Stellvertreter als Ministerpräsident und stellvertretender CDU-Bundesvorsitzender. Kretschmanns Regierungssprecher erkennt einen Vorfall von "medienpolitischer Bedeutung", der nichts mehr mit Journalismus zu tun habe, sondern "Entlarvungspolitik" sei, "ein sittenwidriger Lauschangriff".
    Erstellt und eingestellt hat den Mitschnitt Jouwatch TV. Die Internetplattform bezeichnet sich selbst als "Journal für Medienkritik und Gegenöffentlichkeit". Beobachter – wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung – ordnen Jouwatch TV als rechtspopulistisch und islamfeindlich ein; so schaltet der für eine ähnliche Ausrichtung bekannte Kopp-Verlag Werbung. Als Chefredakteur führt das Portal im Impressum Thomas Böhm, seit 2016 Geschäftsführer der "Bürgerbewegung Pax Europa e. V.", einem Verein, der sich selbst als Menschenrechtsorganisation definiert, die "Aufklärungsarbeit über das Grundwesen und die Ziele des Islams leistet".
    Vergleichbar mit den AfD-Leaks?
    Der Urheber der Aufnahme vom Grünen-Parteitag, Christian Jung von Jouwatch, wehrt sich gegen die Vorwürfe aus Stuttgart. Die Aufnahmesituation sei "eindeutig und klar erkennbar" gewesen, zitiert ihn die rechtskonservative Wochenzeitung "Junge Freiheit". JF-Onlinechef Felix Krautkrämer schreibt auf Twitter ironisch‏: "Die Journalisten, die nun das Kretschmann-Video als unsauber kritisieren, würden sicher auch nie aus gehackten AfD-Chats und -Mails zitieren."
    Die beiden Fälle seien kaum miteinander zu vergleichen, findet der Hamburger Journalistikprofessor Volker Lilienthal. Bei den Zitaten aus der "angeblichen" Whatsapp-Gruppe hätten Journalisten das Problem, den Wahrheitgehalt der Texte zu überprüfen, sagte Lilienthal im Gespräch mit @mediasres. Bei der Videoaufnahme sei Authentizität gegeben. Vergangene Woche waren die Beiträge aus einer Whatsapp-Gruppe der AfD in Mecklenburg-Vorpommern bekannt und diskutiert worden.
    Überhaupt sei im Fall Kretschmann "viel Politik drin, sondern weniger Recht": Lilienthal vermutet, hätte sich jemand aus dem "liberalen Journalisten-Milieu" und nicht Jouwatch TV verantwortlich gezeichnet, "wäre die Aufregung nicht so groß gewesen".
    Der Journalist und Journalistikprofessor Volker Lilienthal.
    Der Journalist und Journalistikprofessor Volker Lilienthal. (picture alliance / dpa / Paul Zinken)
    Nur eine Inszenierung?
    Der SWR berichtete zwar über die inhaltliche Auseinandersetzung, entschied sich aber dagegen, Bilder des Originalvideos zu zeigen. Andere stellten infrage, ob die Bilder tatsächlich ohne Einwilligung der Protagnisten entstanden sind. So schrieb die "Bild"-Zeitung von einem "angeblich heimlich aufgenommenen Läster-Video". Der Berliner AfD-Abgeordnete Harald Laatsch ging noch weiter und unterstellte auf Twitter eine "gezielte Aufnahme, die genau so in die Öffentlichkeit gestreut werden soll und viele fallen drauf rein".
    Eine derartige Inszenierung erkennt Volker Lilienthal nicht. Aber, findet der frühere epd-Journalist, hätten Kreschmann und Gastel die Aufnahme bemerken - und ablehnen müssen; die Kamera stand offenbar unmittelbar vor den beiden.
    "Kann es auf einem öffentlichen Parteitag ein nicht-öffentliches Gespräch geben?", fragt Lilienthal - und gibt die Antwort selbst: "Es war bestimmt kein privates Gespräch."
    (*) In der ersten Fassung hatten wir unseren Gesprächspartner Volker Lilienthal im Vorspanntext nicht korrekt wiedergegeben. Das haben wir geändert.