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Aus dem Bleistiftgebiet

Die Dummheit ist ernsthaft geworden, die Dichter haben es schwer, hat Albin Zollinger bemerkt, ein Schweizer Dichter, der wusste, wovon er sprach. Der Satz steht in einem Aufsatz, dem Zollinger die Form eines Briefes an Robert Walser, genauer an die Hauptperson in dessen Roman "Geschwister Tanner" gegeben hat. Zollinger meint zu wissen, 1924, dass aus einem wie Robert Walser bürgerlich nichts werden kann. Er setzt ihn mit seinem Helden identisch, was nicht ganz falsch ist und bescheinigt ihm:

Alexander von Bormann |
    "Nein, Sie wollen nichts auf dieser Erde; Sie wollen auch nicht, dass Sie etwas wollen,... Sie armes Leuchtkäferchen in den Lauben des Lebens, Sie dumme Nase und tapferer Tagedieb. 0 Sie sind dem Gefummel entsprungen, 0 Sie leiden es ganz einfach nicht, einer ändern Nöti-gung zu gehorchen als nur derjenigen aus Ihrem innern Sternenlicht."

    Zollingers Charakterisierung der Wirkung Robert Walsers kann für viele andere stehen. Fast unisono wird sein Werk als das anmutigste des Jahrhunderts beschrieben:

    "Es ist in allen diesen Blättern so etwas von den Lichtregungen einer Schneefrühe. Was da aufblinkt an zarten Wunderlichkeiten, hat samt und sonders keine Berechtigung in sich, und wehe ihm vor jenen, die seine erhabene Weisheit nicht beglückt."

    Das ist nun schon zu viel getrommelt für einen Dichter so leiser Töne - "erhabene Weisheit" werden wir bei ihm vergeblich suchen; aber zarte Wunderlichkeiten sind bei ihm die Fülle zu finden. Auch Hermann Hesse bescheinigt ihm eine magische Verliebtheit in die Sprache und preist ihn, 1937, als den "Meister der anmutigsten, graziösesten deutschen Prosa..., welche damals geschrieben wurde", und Hesse setzt hinzu: "Er ist bis heute nicht übertroffen worden oder im geringsten veraltet." Es ist nicht falsch, mit einigen bedeutenden Ehrbezeugungen zu beginnen, ist doch Robert Walser für die meisten ein Name geblieben, der, irgendwo in der Kafka-Gegend angesiedelt, mit Respekt, aber kaum größerer Kenntnis genannt wird. Ganz unwiderstehlich pries ihn Walter Benjamin, und keiner, der dessen Sätze las und nicht zur Walser-Lektüre geeilt ist. Benjamin fragt sich, woher Walsers Figuren stammen, und ant-wortet ganz überraschend:

    "Sie kommen aus der Nacht, wo sie am schwärzesten ist, einer venezianischen, wenn man will, von dürftigen Lampions der Hoffnung erhellten, mit etwas Festglanz im Auge, aber verstört und zum Weinen traurig. Was sie weinen, ist Prosa. Denn das Schluchzen ist die Melodie von Walsers Geschwätzigkeit. Er verrät uns, woher seine Lieben kommen. Aus dem Wahnsinn nämlich und nirgendher sonst. Es sind Figuren, die den Wahnsinn hinter sich haben und darum von einer so zerreißenden, so ganz unmenschlichen, unbeirrbaren Oberflächlich-keit bleiben."

    Das schrieb Benjamin 1929, im gleichen Jahr, da Walser in die Heilanstalt Waldau/Bern ein-trat; doch es ist unwahrscheinlich, dass diese Information schon seiner Stilanalyse zugrunde liegt. Benjamin war auch einer der ersten, die auf die Bedeutung des Schreibens für Walser hingewiesen haben. Ihm fallt an dessen Prosa eine "scheinbar völlig absichtslose und dennoch anziehende Sprachverwilderung" auf, er spricht sogar von "Verwahrlosung", von "einem Sichgehenlassen, das alle Formen von der Grazie bis zur Bitternis aufweist". Dabei beobach-tet er, dass Walser das Wie der Arbeit die Hauptsache ist, "dass ihm alles, was er zu sagen hat, gegen die Bedeutung des Schreibens völlig zurücktritt. "Man möchte sagen, dass es beim Schreiben draufgeht." - Dieser Bedeutung des Schreibens für ihn hat Walser auch ganz praktisch Ausdruck verliehen. Nach 1925 fand er keinen Verleger mehr. Er verzichtete -Kafka durchaus vergleichbar - auf ein Publikum und entwickelte eine mikroskopisch kleine Schrift, die lange Zeit für unentzifferbar galt. In der Heilanstalt Waldau hat er noch weiter an seinen "Mikrogrammen" gearbeitet. 1933 wurde er - gegen seinen Willen - in die Anstalt Herisau verbracht; er empfand das als Strafe und Entwürdigung und rührte von da an seine Bleistifte nicht mehr an. Kolportiert ist sein Ausspruch: Er wolle so leben wie seine Mit-patienten, da er nun kein freier Mensch mehr sei. So reichen die Mikrogramme also von 1924 bis 1933. Erhalten sind 526 Blätter und Zettelchen. Erst in den 80er Jahren begann man mit der systematischen Transskription dieses Textcorpus. Es enthielt nicht nur Unbekanntes, ein Drittel etwa war schon vorher veröffentlicht worden. Aber die Mehrzahl der Texte kommt doch einer Entdeckung gleich, auch wenn sie keine abschließende Form gewonnen haben -aber was heißt das auch bei Walser. - Bernhard Echte und Werner Morlang haben sich an die entsagungsreiche Arbeit der Entzifferung der nur l bis 2 Millimeter großen/kleinen Buch-staben gemacht. Die Herausgeber, nicht ohne Stöhnlaut:

    "Es handelt sich um eine extrem verkleinerte Sütterlinschrift, deren Winzigkeit, Verschliffenheit und kürzelhafte Kontrahierungen der Entzifferung enorme Schwierigkeiten entgegen-stellen."

    Nun liegt die Ausgabe mit den Bänden 5 und 6 abgeschlossen vor uns und müsste, wenn es mit rechten Dingen zuginge, mit Preisen überhäuft werden. Aus dem "Herrn Niemand" kann jetzt also ein Jemand werden. Der amerikanische Germanist Christopher Middleton hatte Walser so charakterisiert und als Begründung angeführt:

    "Anders als Thomas Mann und Hermann Hesse hatte Walser kein Gespür für das, was das Publikum lesen wollte."

    Walser war 50, als er in die Heilanstalt Waldau eintrat. Er hat danach noch 28 Jahre gelebt, 25 ohne zu schreiben. Berichte bezeugen, "dass Walsers starke geistige und körperliche Energie und der einmalige Zauber, der seiner Persönlichkeit eigen war, während dieser Zeit nicht ge-ringer wurden". So fand er in Carl Seelig einen Freund, der sich seiner und seines Werks an-nahm. Das Robert Walser-Archiv in Zürich wird von der Carl-Seelig-Stiftung getragen.

    Robert Walser begann den Rückzug in seine Kleinschrift etwa Mitte der 20er Jahre. Dabei war der Bleistift, das Vergehen des Materials im Schreiben, für ihn von besonderer Bedeu-tung. Er hat diesen Vorrang des Schreibens vor dem Geschriebenen in einem Brief an Max Rychner 1927 erläutert:

    "Ich darf Sie versichern, dass ich mit der Feder einen wahren Zusammenbrach mit der Hand erlebte, eine Art Krampf, aus dessen Klammem ich mich auf dem Bleistiftweg mühsam, langsam befreite. Eine Ohnmacht, ein Krampf, eine Dumpfheit sind immer etwas körperliches und zugleich seelisches. Es gab also für mich eine Zeit der Zerrüttung, die sich gleichsam in der Handschrift, im Auflösen derselben, abspiegelte und beim Abschreiben aus dem Bleistift-auftrag lernte ich knabenhaft wieder - schreiben."

    Andreas Ammer hat das kommentiert. Dabei geht er, 1991, noch von der Unentzifferbarkeit des Spätwerks aus. Seine Bemerkungen zeigen zugleich, dass die Wiederentdeckung Walsers auch mit der Aufmerksamkeit auf Schrift/Schriftkultur/Schreibakte zu tun hat, wie sie in den 80er Jahren in der Wissenschaft aufkam.

    "Was auf diese Art mikroskopisch zu Papier gekommen ist, ist zwar geschrieben, doch un-lesbar und hält dergestalt den Mittelweg zwischen zwei sich ausschließenden Erfahrungen: Einerseits definiert sich der Schriftsteller erst durch die schriftliche Fixierung von Innerlich-keit; andererseits ist die Entäußerung auch Auflösung seiner Gedankenwelt. Es ist die Eigen-tümlichkeit des Walserschen Spätwerks, dass zum Verständnis der Texte Einblick in den Vorgang ihrer Verfertigung nötig ist. Das Sujet des Dichtens ist, weitergehend, als dies jede direkte Thematisierung zeigen könnte, der Schauplatz der Schrift und der die Lebensdynamik suspendierende Vorgang des Schreibens."

    Die Herausgeber, die nun die Texte lesen konnten, auch uns lesbar gemacht haben, argumen-tieren viel weniger abstrakt, auch wenn sie mit dem oben Gesagten wohl einverstanden wären. Sie können annoncieren, was alles in den "Mikrogrammen" vorkommt:

    "Die Manuskripte ermöglichen nicht nur einen Einblick in Walsers schriftstellerische Werk-statt, sie vermitteln auch ein detailliertes Bild seines außenseiterhaften Lebens in Bern. Die Vielfalt alltäglicher Ereignisse, die Anfechtungen durch eine oft verständnislose und bedroh-liche Umwelt, die immer wieder neu gewonnenen Freuden des Spazierengehens, die Gedan-ken an eine wohl nur in der Phantasie gelebte Liebe, Reflexe auf Kino-, Theater- und Opernbesuche sowie sein enormer Leseeifer - all das findet Eingang in die unermüdliche tägliche Schreibarbeit."

    Man täuscht sich freilich, wenn man ,nur' Notizen erwartet: Es sind großteils sozusagen »regelrechte' Texte. Sie verbergen das ein wenig unter dem Prinzip der Digression, der gekonnten Abschweifung. Das hat schon der Wirkung Jean Pauls geschadet, das große Publikum will ein halbwegs ordentliches Erzählen. So läßt Walser eine Geschichte in Perleberg spielen, und der Eindruck, das könnte 1992 sein, würde einen nicht ganz betrügen. Es geht um unglückliche Geschäfte, um deren anstehende Kontrolle, um den Einsatz halb-beteiligter Damen - der Icherzähler gibt sich als Zeuge, der im Hintergrund bleibt um zu notieren, wie sich das Ganze entwickelt: Eigentlich muß er zu einer Besprechung, doch die kann er verschieben, vielleicht sogar ganz gem. Denn immerhin spinnt sich etwas an, der Dameneinsatz schien erfolgreich gewesen zu sein:

    "Grothe fürchtete, der Berliner könnte ihm seine nichtwiederzuersetzende Carmen vor dem Gesicht wegschnappen. Hansens Herz flammte jedoch bereits anderswohin empor. Ach, diese nimmerruhenden Herzen! Ich träte für die Abschaffung der Herzlichkeit ein, wenn sie nicht so schön wäre. Sie bildet ja schließlich auch die Grundlage für alle Bildung. Der Gespensterturm stand schweigend da. Wie kann man sich aber auch so wortkarg verhalten. Niemand liebte ihn, und er besaß doch so viel Gemüt. Wer, der Gespensterturm? Ja! Er bildete ja einen so wertvollen Beitrag zur Bereicherung unseres nüchternen Zeitalters mit lebendigen Beweisen einer poetischen Epoche. Das Volk fürchtete sich bloß vor ihm, weil er immer so still dastand und nie seinen Anzug wechselte. Bedürfnislose setzen sich gewissen Verdächtigungen aus."

    Man merkt, es geht recht sprunghaft zu in dieser Prosa, auch wenn das Zitat an der Stelle abgebrochen worden ist, wo der Faden wieder aufgenommen und zu Hans zurückgekehrt wird. Es ist aber jene Souveränität des Erzählens, die sich in den zwanziger Jahren überhaupt durchsetzte, eine ganz eigene Mischung von Spiel und Ernst, die dem Leser verbietet, eine Geschichte als einen Bericht zu lesen. Das Ich kommentiert, was es erzählt, und findet dabei genug Anhalt an den eigenen Worten, es kommt mit der größten Selbstverständlichkeit von Liebe und Herz auf Herzlichkeit und Bildung. Dabei bleibt es sozusagen im Zimmer, von dem aus erzählt wurde, wo sich die Protagonisten auch befinden. Der Blick schweift zum Turm, der auch Gespensterturm genannt wird, was Raum für eine längere Abschweifung bietet. Der Turm bekommt nun ganz unangemessen viel Aufmerksamkeit zugewandt - er ist poetisch/ romantisch, und er ist zugleich eine Art drop-out. Sympathie durch Empathie, durch Ein-fühlung in die Situation des Turms, der Verdächtigungen ausgesetzt ist, sich antibürgerlich schimpfen lassen muß. Das Erzählen Walsers bleibt durchaus bei der Sache, bei dem, was er als seine Sache begreift. Dazu gehört die Wahrnehmung und Präsentation jener Zeichen, die unsere Gegenwart zur Vergangenheit und zu anderen Denkweisen hin öffnen. Das geschieht so spielerisch selbstredend und zugleich mit anmutigen Verwirrungen, dass der Leser einfach mitspielen muss. Oder er verweigert sich von vornherein. Robert Walser weiß, dass er seinen Lesern etwas abverlangt. Gegen Ende der Erzählung hält er sich "die Hand vor den Mund, sonst fallen noch viel viel mehr Eigentümlichkeiten daraus heraus, es könnten ihrer", setzt er selbstkritisch hinzu, "leicht zu viele werden, meinst du nicht auch?" Diese Floskel - "meinst du nicht auch" - erinnert ihn daran, dass sie Einverständnis mit dem Leser sucht, und gleich beginnt eine Überlegung, eine eigene Digression, ob das wohl so gemeint war:

    ""Meinst du nicht auch, dass es sehr apart wäre, wenn alle dasselbe meinen würden? Eine wundervolle Meinung, oder nicht? Was meinst du dazu? 0, wenn ich in diesem Seltsamkeits-stil Bände füllte? Was hast du diesbezüglich für eine Meinung? Selbstverständlichkeiten zu Unerhörtheiten auseinanderspannen. Enorm! Nicht wahr, du freust dich auch, so wie ich mich schon heute freue, dass ich das einmal machen werde? Ich fühle das Ausmirherauszuhebende kommen. Vielleicht dauert es übrigens noch sehr lang, bis es da ist, aber es wird eines Tages da sein. Was wird da sein? Was sind das für Andeutungen?"

    Der Text schließt ein wenig verwirrt, mit Fragen, die andeuten, dass der Textfluss sich wohl verselbständigt hat, dass der Text mehr vom Subjekt weiß, als dieses von sich selbst. Und so ist es ja auch gewesen. Das müßte zu einer bedeutsamen, hochpoetischen Lyrik führen, doch diese Erwartung erfüllt sich weniger. - Die Mikrogramme sind nach einem Mischprinzip, also etwas locker geordnet, einmal chronologisch, zum ändern nach Gattungen. Das ist eine vernünftige, leserfreundliche Entscheidung. So finden wir in den Bänden 2 und 6 die Lyrik beieinander, einmal die von 1924/25, dann die von 1925 bis 1933. In den Gedichten treten, meine ich, die Verstörungen/ Umschattungen Walsers am ehesten hervor. Doch muß man hinzufügen, dass diese Wertung umstritten ist. Die Herausgeber sprechen dezidiert von überholtem Forschungsstand und vom "Verdikt einer angeblich beginnenden geistigen Zerrüttung". Viele Gedichte zeigen jedenfalls sehr anrührend das Bemühen, sich und das heißt die Verse zusammenzuhalten: im Bezug auf Vorlagen (Texte, Gemälde, Redeformen) oder im Reim, der für einen guten Klang und Ausgang sorgen muß. Ein recht beliebiges Beispiel aus den zwanziger Jahren:

    Durch diverse Leute/ich mich zerstreute./Unter anderem erfreute/ich einen Knaben mit Beute./Er dankte mir in einem Hang/zu zartem Überschwang/ganz ohne Zwang,/das ergab einen guten Klang./Nun schein' ich mir im Saal/fein und schmal,/der Sonnenstrahl/mir hierzubleiben anbefahl,/ zum ersten Mal/wohn' ich hier nun beinah magistral./Stell' dir mein Ohr/möglichst großartig vor/ und mein Haar/jeden Eigensinnes bar./Fürwahr,/da stell' ich in der Tat nun etwas dar.

    Es ist natürlich auch eine Frage der Interpretationslust und -kunst, wie man mit solch einem Text umgehen möchte: Man kann die Reimerei als Parodie lesen, als Fratze, die der Forde-rung nach Stimmigkeit entgegengehalten wird; und dieses Eingehen auf die Erwartungen lohnt sich ja auch, wenn das Ich endlich einmal etwas darstellt. Aber das Gesamtaufkommen der Gedichte erlaubt eine sozusagen dekonstruktive Lektüre nicht. Die Texte haben viele Schönheiten und Überraschungen und sind doch regelmäßig verunziert, vor allem durch die oft banal-hilflose Reimerei. Sie zeigt das dichterische Ich besetzt durch die Tradition, und nicht in der Lage zu interessanten Fügungen. Es ist schon viel, wenn das Denken mit Ant-onymen, also mit dem Aufrufen der Gegenworte, weiterkommt:

    Der Himmel ist ganz schwarz vor Bläue,/als wenn uns allen feuriges, fauliges Unheil dräue. Finster wurde alles Lachen,/die feinen weißen Steinchen am Wege öffnen ihre Rachen. Leblosigkeiten höhnen aufs Leben,/und die Strebsamkeiten ersticken alles Streben.

    Anrührend sind die Gedichte, wo sie die Erfahrung des kasernierten Lebens ansprechen, m den Texten der dreißiger Jahre (Band 6) hat sich die Kluft zwischen Gedanken- und Bilder-flucht einerseits und dem Reim wie anderen Traditionsvorgaben andererseits verstärkt. - Das Hauptgewicht dieser Ausgabe, wenn man von den biographischen Zeugnissen einmal absieht, liegt wohl auf den größeren Texten von 1925, dem sog. "Räuber"-Roman und den "Felix"-Szenen. Sie waren nicht für die Publikation vorbereitet und sind erstmals 1972 von Jochen Greven und Martin Jürgens transskribiert und publiziert worden. Zum ändern liegt der Akzent auf der späten Prosa, die man verschollen, dann unentzifferbar glauben musste. Wer sich an die surrealistischen Text-Spaziergänge Franz Kafkas erinnert, kann m Robert Walser seinen zarteren Dichterbruder entdecken. Aber Band 5 enthält wahre Schätze, man möchte sie immerzu vorlesen. Einer beginnt, und muss zitiert werden, weil er den Titel für diesen Beitrag ergeben wird:

    "Mit kraftvoller Zartheit bewegte sich meine an Schreibmaschinen denkende, kaffeehaus-besuchinbetrachtziehende Ichheit, die ihr Ich eigentlich gar nicht mehr empfand, unter dem Dach einer alten Brücke. Der Fluß lag unter dem eigentümlichen Bauwerk still wie eine lieber nicht erwähnt sein wollende Vergleichung, von der ich gewillt bin zu glauben, sie könnte meinem Prosastück eher schädlich als nützlich sein. 0, raunender Wald, wie hobest du dich in der Nacht, die ich mit meinen Schritten nicht aus der Ruhe aufzustören vermochte, angenehm empor. Ich fragte die Wege, die ich mit einer Art von Landsknechtsgangart belästigte, sehr sorgenvoll, ob sie mich als unfein empfänden. Da und dort umstanden Wesen, die ich als menschliche Figuren erkannte, ein Haus, denen mein Gruß willkommen sein mußte. Goldgelbe Kaffees begannen sich in meinem Denkvermögen geltend zu machen, mein Gang war gedankengesättigt, was diejenigen am besten verstehen werden, denen das unverständlich ist..."

    Mit gekonnter Ironie distanziert sich Robert Walser immer wieder einmal, wenn seine Figuren es ihm zu bunt treiben, und lehnt es "natürlich" ab, sich für solche "Verstiegenheiten" verantwortlich zu fühlen. Von seiner "Räuber"-Figur sagte sein Erzähler: Wir bringen seine Verstandesangespanntheiten bloß zur Kenntnis. Er setzt hinzu: "Uns hält man gottlob für nüchtern. Guter Ruf ist ja schon an sich eine Nüchternheit." Doch im nächsten Satz schon ruft er die Frauen als "Schicksalsgenossinnen" auf, "einen graziösen Geheimbund gegen männliche Verdrossenheiten" zu bilden: "Organisiert euch, ich will euer Führer sein." Das klingt nun wiederum nichts weniger als "nüchtern". Und so sieht man, dass es Walser nicht auf den guten Ruf ankam, der in jenen Jahren und zumal in der Schweiz die Basis für ein auskömmliches Dasein war. Walsers Schreiben folgte unbeirrbar den Schlenkern seiner Phantasie sowie den beinahe unbemerkbaren Winken, mit denen die Worte einander suchen und meiden. Ihm kam es nicht darauf an, ob sie "in's Grab der allerklarsten Unklarheit und Ungeöffnetheit" fielen. Wir aber freuen uns, dass uns mit dieser Entzifferungsarbeit und den nun vorliegenden sechs Bänden der "Mikrogramme" eines der bedeutendsten Werke des 20. Jahrhunderts erschlossen, also wiedergeschenkt ist.