Grundsätzlich halten wir die Regel für richtig, dass wir keine Leichen zeigen. Es geht um Würde. Ein "Schock-Bild" ins Netz zu stellen, einfach um Klicks zu bekommen, das ist unsere Sache nicht. Und wie ist es mit den Angehörigen? Was denkt in diesem Fall etwa die Familie des Jungen über das Foto? Wir wissen es immer noch nicht, trotz einer ersten Eilmeldung mit Aussagen des Vaters.
Ein Bild muss für uns - wie jede andere Information - Bedingungen erfüllen, um veröffentlicht zu werden. Es muss bedeutsam sein und es muss einen unverzichtbaren Beitrag zum Verständnis eines wichtigen Sachverhaltes leisten.
Muss man das Bild zeigen, damit die Menschen verstehen?
Relevant ist das Bild des dreijährigen Jungen ohne Zweifel, schon alleine durch seine Wirkung. Aber muss man es zeigen, damit die Menschen verstehen? Hier liegt unser größtes Problem. Seit Jahren berichten wir über den brutalen Krieg in Syrien. Seit Monaten berichten wir über die gefährliche und opferreiche Fluchtbewegung aus Syrien. Sind nicht schon viele, viel zu viele Kinder, Frauen und Männer auf der Flucht gestorben? Warum reicht das nicht aus, um Augen und Herzen zu öffnen? Warum muss es erst dieses Bild sein?
Stimmt die damit in vielen Zeitungen machtvoll verknüpfte Aussage "Europa hat versagt"? Ist die EU schuld am Tod des Kindes? Trägt nicht das Assad-Regime die Hauptverantwortung, was ist mit dem Zögern der Weltmächte in Sachen Syrien und IS-Terror?
Was ist mit den Kindern Afrikas?
Was wäre gewesen, wenn das Kind nicht von Aussehen und Kleidung her typisch europäisch wirken würde? Warum haben Bilder von toten Kindern zum Beispiel in oder aus Afrika nicht immer diese Wirkung? Warum wird generell so wenig über die Probleme von Kriegsflüchtlingen in Afrika berichtet? Was wäre gewesen, wenn es das Kind von Menschen vom Balkan gewesen wäre, die oft so leichthin "Wirtschaftsflüchtlinge" genannt werden?
Die Gründe dafür
All diesen Fragen und Zweifeln standen auch wichtige Argumente entgegen, die für eine Veröffentlichung sprechen. Eine Kollegin sagte spontan: "Den Tod des Jungen können wir leider nicht rückgängig machen. Aber wenn das Bild irgendeine positive politische oder gesellschaftliche Wirkung hat, dann lasst es uns zeigen." Und wir berichten ja in Nachrichten und Beiträgen tatsächlich über die Wirkung des Fotos. Warum zeigen wir es also nicht?
Wir haben das für uns so entschieden: Wir wollen das Bild des an den Strand angespülten Jungen nicht zeigen. Wir zeigen aber ein Foto mit dem Polizisten, der den Jungen wegträgt, auf denen man den Kopf des Toten nicht sieht, und die Zeitungstitel mit diesem Bild.
Sie können uns vorwerfen, wir würden uns nicht konsequent verhalten. Man kann sagen, wir hätten die falsche Entscheidung getroffen. Wir wissen noch nicht einmal, ob wir das in einer Woche oder einem Monat auch noch so sehen. Aber Sie kennen nun immerhin unsere Überlegungen.