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Aus der Nachrichtenredaktion
In weiter Ferne, so nah

Das Nachrichtengeschäft lässt große Lücken in der Welt - über die Pariser Anschläge haben wir viel berichtet. Zu recht? Über die Anschläge in Nigeria, in Mali, im Libanon berichten wir weniger. Zu Unrecht? Unser Kollege Thorsten Funke hat über journalistische Relevanzkriterien nachgedacht, über das viel zitierte Bauchgefühl - und über einen dringend notwendigen Perspektivwechsel.

Von Thorsten Funke |
    Zu sehen sind viele Teelichter, und der Schriftzug "Je suis Paris" auf einem Blatt Papier.
    Worüber berichten wir? Worüber nicht? Was sind unsere Kriterien? Welche Rolle spielt das Bauchgefühl? (picture-alliance / dpa / Clement Mahoudeau)
    Googelt man "Paris Attacks", erhält man mehr als 31 Millionen Treffer. Googelt man "Kenya Attacks" sind es 33.000. Das ersetzt keine empirische Untersuchung, aber es verdeutlicht ein Phänomen, das wohl so alt ist wie die Massenmedien: Der Grad der Aufmerksamkeit, den Katastrophen und Anschläge, ja Ereignisse jeder Art, bei uns erhalten, hängt davon ab, wo sie sich zugetragen haben. In der Redaktion erreichen uns immer wieder Hörerzuschriften oder Kommentare auf Facebook und Twitter, die genau das kritisieren: Nach den Anschlägen von Paris zum Beispiel läuft die Berichterstattung zur Hochform auf, während die Meldungen über das Attentat von Beirut mit 44 Toten einen Tag vorher, ebenfalls vom IS verübt, eher eine Randnotiz gewesen sei. Wissenschaftler beschreiben dieses Phänomen mit Begriffen wie "mediale Aufmerksamkeitsökonomie".
    Das hier ist das Nachrichtenblog des DLF, also schauen wir einmal in unsere eigenen Karten: Am Abend des 12. November, als die Bomben in Beirut explodierten, haben wir natürlich darauf reagiert. Aber keine unserer Meldungen dazu war länger als zehn Zeilen. War das zu wenig? Möglicherweise. Aber war die Berichterstattung über Paris zu viel? Ganz bestimmt nicht.
    Räumliche Nähe, Neuigkeitswert, persönliche Betroffenheit
    Wenn Sie Journalisten, speziell Nachrichtenredakteure, danach fragen, wie sie ihre Entscheidungen fällen, hört man ein Wort ganz besonders häufig: Bauchgefühl. Journalismus ist keine exakte Wissenschaft. Gleichwohl gibt es Kriterien für nachrichtliche Relevanz, also eine Liste der Merkmale, die ein Ereignis berichtenswert machen. Räumliche Nähe ist eins davon, die Beziehung zum Ort ein anderes – in Paris waren schon viele unserer Hörer, in Beirut nur wenige, in Mali oder Nigeria noch weniger. Ein weiteres Merkmal ist der Neuigkeitswert: Der Nahe Osten und die genannten afrikanischen Länder sind seit vielen Jahren Schauplatz von Anschlägen, Paris ist es erst seit diesem Jahr. Der Terror dort zeugt von einer neuen Phase der Bedrohung, auch das hat ganz gewiss nachrichtliche Relevanz. Es gab wohl niemanden, der in den Redaktionen der Welt am Ticker saß und nicht sofort wusste, dass dies eine ganz große Geschichte ist. Und ja, es geht auch um die direkte Betroffenheit: Der Terror kommt zu uns, natürlich ist das ein großes Thema. Außerdem: Widmen Sie, die Hörer und Leser, Berichten über Kamerun genauso viel Aufmerksamkeit wie Berichten über eine europäische Metropole? Manche vielleicht. Viele aber nicht.
    Der Medienwissenschaftler Friedemann Vogel von der Universität Freiburg fasst das so zusammen: "Es muss um etwas 'Neues' gehen, was ich noch nicht weiß oder was meine bisherigen Annahmen irritiert. Und es muss um etwas gehen, was meine Wünsche oder Ängste adressiert. Nachrichten über 'Alltägliches', 'Wiederkehrendes', als 'normal Hingenommenes' widersprechen dieser Aufmerksamkeitsökonomie, lohnen sich nicht und kommen daher seltener vor. 'Terror und Paris' passen in unserem Weltwissen nicht zusammen. Der Neuigkeits- und Betroffenheitswert von täglich zehntausenden Hungertoten weltweit oder eines explodierenden Busses in Bagdad liegt dagegen bei null."
    Es geht aber nicht nur um das Thema Terror. Blickt man grundsätzlich auf die Wahrnehmung der Welt in den Medien, dann entdeckt man in der Tat große Lücken (eine Tatsache, der wir durch unsere Kooperation mit der Initiative Nachrichtenaufklärung zu begegnen versuchen.).
    Jörg Sadrozinski, Leiter der Deutschen Journalistenschule in München und bis 2011 Chef von tagesschau.de, sagt: "Nachrichtenredakteure sollten ihre Auswahlkriterien ständig überprüfen." Durch die Globalisierung und durch das Internet habe sich die Berichterstattung über weit von Europa entfernte Länder aber bereits geändert, sei vielfältiger geworden. Als Beispiel nennt Sadrozinski, ganz alter ARD-Mann, die öffentlich-rechtlichen Korrespondentenblogs auf der Internetseite der Tagesschau. Medienwissenschaftler Vogel kritisiert andererseits, dass immer mehr Korrespondentenstellen bei Medien abgebaut werden.
    Wenig Gespür für Themen aus anderen Kulturkreisen
    Es ist, wie so oft, eine Frage der Perspektive. Wie sieht jemand die Berichterstattung hiesiger Medien, der sich professionell mit anderen Gegenden der Welt beschäftigt als Europa und Amerika? Anruf bei Sonja Hegasy vom Zentrum Moderner Orient in Berlin. "Es fällt sofort auf, wenn Themen im Westen nicht wahrgenommen werden, die anderswo Tagesgespräch sind", sagt sie. Die Islamwissenschaftlerin sieht einen Mangel an Gespür für Themen aus anderen Kulturen und kritisiert: "Ein Dialog auf Augenhöhe ist kaum möglich, wenn wir so wenig über diese Gesellschaften wissen. In Kairo oder Casablanca werden die Debatten in Europa verfolgt, umgekehrt kennt bei uns aber niemand den 'arabischen Habermas'." Etwa Denker wie Abdallah Laroui oder Mohamed Abed al-Jabri. Die Behauptung, es gebe in der arabischen Welt keine Debatte über Gewalt im Islam, so Hegasy, "ist haarsträubend".
    Besserung ist in Sicht. Mit Initiativen wie den Neuen deutschen Medienmachern (NdM), einer Gruppe von Reportern mit Migrationshintergrund, wird mehr internationaler und interreligiöser Sachverstand in die Redaktionen gespült. In der Journalistenausbildung gibt es Veranstaltungen wie die "Bildkorrekturen", in der Journalistenschüler mit internationalen Experten zusammengebracht werden und auf der für eine sensible und ausgewogene Berichterstattung geworben wird.
    Muss sich also etwas ändern? Noch einmal der Medienwissenschaftler Friedemann Vogel: "Es wäre Aufgabe der Redaktionen, den Konsumenten zu erziehen, statt ihm nach dem Mund zu reden." Sprich: Auch Themen bringen, die nicht auf den ersten Blick auf Interesse zu stoßen versprechen, aber dennoch wichtig sind. Nur mit Bauchgefühl zu arbeiten, so Vogel, "hielte ich für fahrlässig".