Aus der Nachrichtenredaktion
Nachrichten in Zeiten der Aufregung

München im Ausnahmezustand. Stundenlang ist alles unklar – außer dass Menschen gestorben sind. Wie kann eine Nachrichtenredaktion mit solchen Situationen umgehen?

Von Marco Bertolaso |
    Sie sehen Marcus da Gloria Martins, den Pressesprecher der Polizei München, auf den viele Mikrofone gerichtet sind.
    Marcus da Gloria Martins, Pressesprecher der Polizei München, gibt nahe dem Einkaufszentrum, in dem Schüsse gefallen sind, ein Statement. (picture-alliance / dpa / Matthias Balk)
    Wir wollen informieren. Meine Kolleginnen und Kollegen wollen das Wichtige erfahren, am besten als erste, und es dann so schnell es geht laut in die Welt rufen, immer. Gerüchte verbreiten, die Gesellschaft verunsichern, das wollen wir auf keinen Fall, nie.
    Ein Abend, der uns auf die Probe stellt
    Ein Abend wie der von München stellt uns auf die Probe. Ein junger Mann läuft Amok und tötet neun Menschen. Der 18-jährige Deutsch-Iraner hatte psychische Probleme, war in Behandlung. Die Tat ist sehr schlimm und traurig. Sie hat aber nichts mit Terrorismus zu tun.
    Das wissen wir heute. Warum aber war in den Stunden der Ungewissheit so viel von Terror die Rede und von einer islamistischen Spur? Die Polizei hat eine "akute Terrorlage" ausgerufen, was zunächst wohl nicht angemessen verstanden oder erklärt wurde. Aber von Islamisten war offiziell nie die Rede.
    Das Land ist aufgeregt, die Medien sind es auch
    Deutschland ist aufgeregt und die Medien sind es auch. Seit New York und Madrid, spätestens aber seit Brüssel, zweimal Paris und Nizza wird ein großer Anschlag in Deutschland für möglich gehalten. Einige Versuche wurden mit Glück und Geschick vereitelt. Und alle wissen, dass viele Informationen zu diesem Thema erst gar nicht öffentlich werden.
    Soweit ist die Nervosität also verständlich. In den Zeiten des RAF-Terrors sind die Menschen schließlich auch bei Böllerschüssen zusammengezuckt und es gab viele andere reflexartige Fehlschlüsse, auch in den Medien.
    Dem Druck der Eilmeldung widerstehen
    Was kann eine Nachrichtenredaktion tun in solchen Zeiten der Aufregung? Wir müssen dem Druck der Eilmeldung widerstehen. Wir melden, was wir für bestätigt halten. Diese alte passive Tugend reicht aber alleine nicht mehr. Wir müssen uns auch aktiv daran beteiligen, Gerüchte und Unterstellungen einzufangen, bevor sie politisch-gesellschaftliche oder andere Folgen haben.
    Beispiel München: die Spekulationen über einen islamistischen Anschlag waberten durch soziale Medien und hatten ihren Weg schon in einen ersten Pressekommentar gefunden, der allerdings später zurückgezogen wurde. In solchen Fällen können wir nicht unsere Hände in Unschuld waschen und denken: wir melden das nicht, das reicht. Wir müssen die Spekulationen offensiv angehen und klar stellen, dass es keinerlei Anhaltspunkte dafür gibt.
    Abwarten kann nicht mehr die Antwort sein
    Früher hätten unsere Nachrichtenredakteure vielleicht erst einmal abgewartet, bevor das Thema aufgegriffen wurde. Schließlich wusste man fast nichts. Das geht heute nicht mehr. Wir sind keine Radio-Nachrichtenredaktion mehr, die tagsüber halbstündlich und abends im Stundentakt informiert. Wir sind eine Nachrichtenredaktion, Punkt. Wir informieren über alle möglichen Kanäle. Wir wollen alle Menschen erreichen, ob sie nun Radio hören, Orientierung über deutschlandfunk.de suchen, ob sie Facebook, Twitter oder unsere Nachrichtenapp DLF24 nutzen.
    Beispiel München: vielleicht befanden sich ja in der Nähe des Tatorts einige der vielen Nutzer unserer Nachrichtenapp. Sie mussten per Eilmeldung erfahren, dass Gefahr droht, auch wenn wir noch nicht wussten, welche Gefahr es war und wie groß sie war. Und auch der Rest der Republik hatte wie immer einen Anspruch, von uns informiert zu werden.
    Herausforderung Echtzeit
    Wie andere Berufe auch hat sich der Nachrichtenjournalismus rasant verändert. Wir müssen in Echtzeit reagieren und eine Vielzahl an Verbreitungswegen bedienen. Mehr denn je müssen wir schnell sein, mehr denn je müssen wir abwägen. Das ist eine beachtliche Herausforderung.
    Das gilt erst recht, wenn wie im Fall München die Tage vorher mit Nizza und der Türkei alle Kräfte der Redaktion angestrengt haben und die Gefahr groß ist, in den Tickermodus zu verfallen, schon alleine aus Übermüdung.
    Und da war noch Köln
    Wir dürfen den Überblick nicht verlieren. In München gab es in diesem Jahr schon einmal wirklich Terrorwarnung. Das war in der Silvesternacht, als unter anderem der Hauptbahnhof geräumt wurde. Ganz Deutschland schaute nach München. Doch der eigentliche Terror der Silvesternacht fand am Kölner Hauptbahnhof statt und richtete sich gegen Frauen. Davon erfuhren Redaktionen und Öffentlichkeit erst schmerzvolle und beschämende Tage zu spät. Das darf nicht noch einmal passieren.
    Wir wollen dieser vielfältigen Herausforderung gerecht werden. Dazu werden wir unsere Arbeitsweise laufend überdenken müssen und Prioritäten verändern. Begleiten Sie uns dabei und sagen uns, wie Sie unsere Arbeit finden, zum Beispiel per Mail an die nachrichten@deutschlandfunk.de.