Bacons Ideen hätten auch ihn sehr berührt. Sie könnten das eigenen Leben verändern. Der Künstler sei der eindrucksvollste Mensch, dem er in seinem Leben begegnet sei. Da es bisher keine größeren Veröffentlichung in deutscher Sprache gebe, habe er mit ihm sprechen wollen. Herausgekommen sei ein "Buck voller Schätze".Bacon sei dem Bösen existenziell begegnet und spreche immer noch menschlich auch über böse Menschen.
Das komplette Interview zum Nachlesen:
Mario Dobovisek: Als Jugendlicher hat er den Horror von Auschwitz erlebt, Jehuda Bacon. Er sah Tod und Leid, Nazi-Terror, unfassbare Unmenschlichkeit. Er überlebte das KZ und zwei Todesmärsche. Heute ist er 87 Jahre alt, ist Künstler. Und die Kunst war es auch, die ihm half, die eigene Menschlichkeit zu bewahren.
O-Ton Jehuda Bacon: "Ich wollte es bewusst nicht vergessen, aber nicht für ein Ziel der Rache oder so etwas benützen, sondern ich wusste, das ist ein Teil meines Lebens, und wie kann man auch dieses Erlebnis künstlerisch und menschlich für etwas Positives umwandeln. Weil ich denke, das ganze Leben - in meinem Fall ist es auch Auschwitz etc. - einen Sinn zu geben."
Dobovisek: Die Schrecken in etwas Positives umzuwandeln auch in der Kunst, sozusagen ein Leitmotiv Jehuda Bacons, einem der letzten Auschwitz-Überlebenden. Bei mir im Studio ist der Psychiater und Theologe Manfred Lütz. Er hat Jehuda Bacon oft getroffen, hat über seine Begegnung und über Jehuda Bacon ein Buch geschrieben, das heute erscheint, und ich grüße Sie, Herr Lütz.
Manfred Lütz: Guten Tag!
Dobovisek: "Solange wir leben, müssen wir uns entscheiden" - das ist der Titel Ihres Buches über Jehuda Bacon. Für was müssen wir uns entscheiden?
Lütz: Es ist eigentlich kein Buch über Jehuda Bacon, sondern es ist ein Dialogbuch halt. Er spricht in diesem Buch. Wofür wir uns entscheiden müssen, das hat er eigentlich nach dem Krieg erfahren bei Menschen, die ihn sehr beeindruckt haben, die ihm wieder den Glauben an die Menschheit zurückgegeben haben, dass wir uns für das Gute entscheiden sollen. Und dass Hitler gewonnen hätte, wie er es mir gesagt hat, wenn der Hass, den Hitler eigentlich gepredigt hat, wenn er jetzt auch hassen würde. Und das wollte er nicht.
Dobovisek: Wie hat Bacon es geschafft, das KZ zu überleben?
Lütz: Ein Lehrer hat seinen Schülern - darunter war auch er -, gesagt, bevor er nach Auschwitz deportiert wurde und dort vergast wurde: Merkt euch eins. Es gibt einen Funken, einen göttlichen Funken in jedem von euch, und der ist unzerstörbar. Und das hat ihn aufrecht erhalten. Er hat mir gesagt, die Nazis konnten mich vergasen, sie konnten mich zu Staub machen, zu Asche machen, aber dieser Funke bleibt. Und das Eindrucksvollste war eigentlich, dass er sagte: Diesen Funken gibt es sogar bei den SS-Leuten. Er hat in Auschwitz erlebt, dass sogar SS-Leute für einen Moment plötzlich ganz irrational gut waren. Und das hat er auch im Auschwitz-Prozess in Frankfurt zum Beispiel berichtet.
Dobovisek: Wie spricht er heute über seine Erlebnisse?
Lütz: Erstens spricht er in einem wunderschönen Deutsch. Er ist im mährischen Ostrau geboren, seine erste Sprache ist Deutsch. Es ist ein Mensch, wirklich der eindrucksvollste Mensch, dem ich in meinem Leben bisher begegnet bin. Und deswegen habe ich dieses Buch auch mit ihm gemacht, weil es gibt bisher von ihm nichts Größeres in Deutsch. Das, was er sagt, ist etwas, was eigentlich für jeden Menschen wichtig ist. Das heißt, das ist ein Buch im Grunde jetzt voller Schätze, ein kostbares Buch mit Ideen, die einen selbst so berühren, dass man sein Leben ändert. Ich kann nur sagen: Mein Leben ist heller geworden, seit ich mit Jehuda Bacon gesprochen habe, und das wollte ich vielen anderen Lesern auch zugutekommen lassen. Und der Mann ist jetzt 87 Jahre alt. Es wird nicht mehr so lange möglich sein, das von ihm zu hören. Und die Konsequenzen, die er aus Auschwitz gezogen hat, das ist das Eindrucksvolle. Es gibt ja Menschen in Auschwitz, die sind verbittert gewesen. Das kann man auch gut verstehen. Aber dass man sozusagen aus Auschwitz eine humanistische Botschaft, die auch überzeugend gelebt wird, herausgeholt hat, das habe ich so noch nie erlebt. Ich war mit Jugendlichen vor einem Jahr da, die hatten Tränen in den Augen, als sie ihn hörten. Da habe ich überlegt, das muss man doch anderen Menschen auch vermitteln. Deswegen ist das für mich vielleicht das kostbarste Buch, was ich je geschrieben habe. Ich habe es eigentlich gar nicht, ich habe es nur aufgeschrieben, was er gesagt hat.
Dobovisek: Geben Sie uns bitte ein Beispiel, einen Eindruck davon, wie Jehuda Bacon es schaffen konnte, aus diesem Horror, diesem Terror etwas Positives zu drehen?
Lütz: Bacon ist ein demütiger, bescheidener Mensch
Lütz: Man kann es so sagen: Wenn man ihm begegnet. Es ist ein demütiger, bescheidener Mensch, immer freundlich, der wirklich menschlich gerührt ist, wenn er von den Menschen spricht, die ihm sozusagen den Glauben an die Menschheit wiedergegeben haben. Pschemisl Pitter, ein Pädagoge in Prag nach dem Krieg, hatte in einem Kinderheim jüdische Kinder, jüdische Waisenkinder und deutsche Waisenkinder, Hitler-Jungs, aufgenommen und zusammen erzogen und die so liebevoll behandelt, dass die nie auf die Idee kamen, sich gegenseitig zu verprügeln, was Bacon sagte, was hier vielleicht nahegelegen hätte. Und wenn er das dann berichtet, ich habe das in dem Buch auch beschrieben, dann hat er Tränen in den Augen. Dann erzählt er, wie Pitter in den Speisesaal kommt und ein Junge hat noch die Mütze auf. Dann hat er ihm die Mütze abgenommen, weil er dachte, das ist so ein Lausbub, der kennt sich nicht aus. Dann hat ihm ein Mitarbeiter gesagt: Nein, das ist der Sohn eines Rabbiners, deswegen hat er die Mütze aufbehalten. Dann hat er ihm sofort die Mütze wiedergegeben und 25 Jahre später haben die Jugendlichen ihn nach Israel eingeladen. Dann war wieder dieser Rabbiner-Sohn da. Und dann spricht er ihn an und sagt, bist du der Wolfi? Und dann sagt er, ja, ja, ich bin der Wolfi. Und dann sagt er: Ich muss mich noch mal entschuldigen für das, was ich Dir damals angetan habe. In dem Moment - ich bin jetzt auch wieder ganz gerührt -, in dem Moment hat dann Jehuda Bacon Tränen in den Augen.
Die Geschichten, die er aus Auschwitz berichtet, die berichtet er kühler, sagen wir mal, sachlich - sachlich. Er legt Zeugnis ab für das, was er erlebt hat. Und er ist als Zeuge im Auschwitz-Prozess in Frankfurt auch gehört worden, auch beim Eichmann-Prozess in Jerusalem.
Dobovisek: Er und vor allem auch seine Kunst, seine Zeichnungen, wie wichtig ist ihm die Kunst genau für diese Verarbeitung?
Lütz: Kunst hat ihn gerettet
Lütz: Ja da haben Sie Recht. Die Kunst hat mich gerettet, hat er gesagt. Er hat Bilder gemalt. Er hat zum Beispiel ein Bild gemalt, wo man die Schornsteine der Krematorien sieht und wo er seinen Vater in den Rauch gemalt hat. Der Vater ist vergast worden. Sie beide mussten darüber diskutieren, ob Jehuda sich für eine Gruppe von Jugendlichen meldet, die vielleicht gerettet würden und in einer Fabrik arbeiten müssten oder so. Und dann haben sie sich getrennt und Jehuda wusste, der Vater wird jetzt sterben. Nachher, als er beim Todesmarsch nach Mauthausen war, hat er überlegt: Vielleicht war es doch gut, dass der Vater das nicht noch erleben musste, er hätte es sowieso nicht überlebt. Und so ist er dann als Waisenkind nach Jerusalem gekommen und hat da auch in Jerusalem wieder Martin Buber erlebt, mit dem er befreundet war. So beginnt das Buch dann mit der Frage, woher kommt das Böse. Das heißt, dieses Buch ist nicht ein Buch über Auschwitz, sondern über das Wichtigste der Menschheitsgeschichte eigentlich, dass jemand sagt, der nicht Theoretiker ist, sondern der das praktisch erlebt hat, und das ist das, was ich so eindrucksvoll fand. Und die Antworten, die er darauf gefunden hat, sind etwas, was mich, seit ich ihn kennengelernt habe, auch in meinem Leben prägt. Jeder erlebt ja mal Leid und Schwierigkeiten, Probleme. Und wenn man dann erlebt, dass dieser Mensch so Schreckliches erlebt hat. Und dann ein so liebenswürdiger, zugewandter Mensch geworden ist, dann wird man sehr bescheiden mit all den Problemen, die man selber hat.
Dobovisek: Was können wir von Jehuda Bacon lernen, heute im Jahr 2016, in dem das Böse, das Schreckliche leider alles andere als ausgestorben ist?
Lütz: Zum einen, dass das Böse nicht eine psychische Störung ist. Ich werde ganz häufig von Journalisten jetzt gefragt als Psychiater, was haben die für eine Störung oder was sind die psychologischen Mechanismen, die jemand zum Terroristen machen. Und da kann ich immer nur sagen: Das sind keine Mechanismen, das ist das Böse. Der Mensch kann böse sein. Und das ist natürlich total unheimlich, so etwas. Man möchte dann von einem Psychiater hören, ja, wir haben da Mechanismen, wir wissen das, wir können das vielleicht behandeln oder verhindern oder prophylaktisch und so weiter. Nein, es gibt das Böse. Und dem ist Jehuda Bacon wirklich existenziell begegnet. Aber er hat dann im Frankfurter Auschwitz-Prozess beschrieben, dass ein SS-Mann, der ganz brutal war, plötzlich zehn Jugendliche genommen hat, antreten ließ und gesagt hat, jetzt abmarschieren. Und die dachten, die kommen jetzt in die Gaskammer. Dann hat er sie in einen Raum geführt und da war auf einem Tisch eine Salami, und dann hat er die Salami in zehn Teile geteilt und hat gesagt, esst. Und dann hat er gesagt, haut ab. Dann hat er gesagt, dieser Funke, dieser göttliche Funke war auch in diesem SS-Mann. Und wenn man als Auschwitz-Überlebender so menschlich auch über die anderen Menschen, über böse Menschen reden kann, dann ist man wirklich ein großer Mensch, obwohl er physisch ganz klein ist, der Jehuda Bacon.
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