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Ausgezählt - Schwarz-Rot hat seinen Preis

Die Wahl ist vorbei, die Arbeit für die Parteien nicht: Alle, die noch im Bundestag vertretenen sind, kommen für Regierungskoalitionen mehr oder weniger in Frage. Die FDP hingegen hat den Tiefpunkt ihrer Geschichte erreicht.

Ursula Münch im Gespräch mit Catrin Stövesand, mit Beiträgen von Christiane Wirtz und Gudula Geuther |
    Catrin Stövesand: Guten Abend und herzlich willkommen zu unserem Brennpunkt, der "Hintergrund" am Abend nach der Bundestagswahl. Die Wahlsiegerin Angela Merkel hat es jetzt in der Hand! Wie sie bei der Regierungsbildung vorgehen wird, das hat sie gestern in der "Berliner Runde" in ihrer üblichen unaufgeregten Art bereits angekündigt:

    "Schritt für Schritt. Das würde von uns gar nicht alleine abhängen. Vielleicht findet sich dann gar keiner, der mit uns was machen möchte."

    Finden wird er sich wohl, derzeit sieht alles nach Schwarz-Rot aus. Aber noch ziert er sich, der mögliche Koalitionspartner SPD. Wie die Sozialdemokraten in einem schwarz-roten Bündnis bestehen können, dem wollen wir in dieser Sendung nachgehen. Den höchsten Preis hat bei dieser Wahl bereits die FDP bezahlt. Sie muss nicht nur die Ministerposten, sondern auch die Plätze im Parlament räumen. Eine Analyse dieses Desasters ebenfalls im Laufe dieser Sendung. Beginnen wir aber mit der Wahlsiegerin, mit der Union! Dass sie, insbesondere die CDU, vertreten durch Angela Merkel, gestern für so viele Menschen "die Wahl" war, war trotz aller guten Umfragen überraschend. Über dieses Phänomen möchte ich jetzt mit Ursula Münch sprechen, sie ist die Direktorin der Akademie für Politische Bildung Tutzing und sie ist jetzt aus München zugeschaltet. Guten Abend, Frau Münch.

    Ursula Münch: Guten Abend Frau Stövesand.

    Stövesand: Frau Münch, Angela Merkel, die ja synonym für das Wahlprogramm der CDU stand, versteht es ausgezeichnet, sich zwar selten festzulegen und doch gleichzeitig so viele Positionen abzudecken, dass sich – wie wir jetzt wieder gesehen haben – so viele Wähler angesprochen fühlen. Wie gelingt ihr das?

    Münch: Es gelingt ihr dadurch, dass sie sich im Grunde nicht wirklich festlegt, dass sie Optionen offen lässt, es nicht zu sehr präzisiert. Es ist ihr zum Beispiel gelungen, das Thema Wirtschaftspolitik ganz stark zu besetzen. Sie ist diejenige, die, gemeinsam mit der Union natürlich, diese Kompetenz für Wirtschaftspolitik verkörpert, und das ist gerade in diesen Krisenzeiten, in den Zeiten, wo wir sehen, dass es in anderen Staaten eben nicht so gut läuft wie bei uns, das ist die zentrale Kompetenz für eine Bundesregierung.

    Stövesand: Die bisherige Bundeskanzlerin hat nun also erneut den Regierungsauftrag. Es gibt theoretisch zwei Möglichkeiten – Schwarz-Rot oder Schwarz-Grün. Für wie wahrscheinlich halten Sie ernsthafte Koalitionsgespräche zwischen Union und Grünen – auch angesichts des offenbar bevorstehenden Generationenwechsels an der Grünen-Spitze?

    Münch: Ich kann mir schon vorstellen, dass es vielleicht Gespräche gibt, ich glaube aber nicht, dass sie tatsächlich bei dieser Wahl, nach dieser Wahl tatsächlich ernsthaft geführt werden. Dazu sind beide Parteien, Union und die Grünen, noch zu weit voneinander entfernt.

    Stövesand: Bleibt also Schwarz-Rot. Von der letzten Großen Koalition hat die SPD ja nicht wirklich profitiert. Wie könnte ihr das diesmal Ihrer Meinung nach gelingen?

    Münch: Es ist tatsächlich das Problem, das ist auch der Widerstand innerhalb der SPD, dass man eben die Befürchtung hat, dass einen die Union im Grunde zu wenig Platz lässt, dass es der SPD wieder nicht gelingt, Themen und Personen offen sichtbar zu besetzen. Es ist eine Schwierigkeit, wenn zwei Parteien, die eigentlich ja miteinander rivalisieren sollten, im Wettbewerb stehen sollten, auf einmal in Kabinettsdisziplin eingebunden werden. Das ist das große Problem. Es war schon letztes Mal das Problem, aber da war die SPD ja noch stärker. Dieses Mal wäre sie ja gegebenenfalls wesentlich schwächer. Ihre Aufgabe wird sein, aus Sicht der SPD – also zunächst mal wird sie mit relativ hohen Forderungen einsteigen, zum Beispiel mit Stichwort Mindestlohn. Und sie muss versuchen, ein sozialdemokratisches Thema zu finden. Das könnte ein gesellschaftspolitisches Thema sein, das könnte die Frage sein, wie gehen wir mit einer alternden Gesellschaft um, wie gehen wir mit der zunehmenden Pflegebedürftigkeit um, wie gehen wir mit den älter nehmenden Arbeitnehmern um. Also, das könnte ein Thema für die Sozialdemokraten sein. Ganz wichtig ist, und das ist ihnen letztes Mal nicht gelungen in der letzten Großen Koalition, dass sie auch Personen brauchen, die das verkörpern. In der letzten Großen Koalition wurde das alles weggenommen.

    Stövesand: Da möchte ich gleich mit Ihnen noch mal drauf zurückkommen. Ich möchte jetzt einmal der Kollegin Christiane Wirtz das Wort übergeben, sie liefert uns eine Bestandsaufnahme nach dem gestrigen Ergebnis. Sie war am Wahlabend im SPD-Stammland NRW unterwegs, um zu schauen, wo sie steht, die alte Tante SPD.


    Die SPD will nicht in die Zweckehe
    Der Wahlabend in Herne. Die SPD trifft sich in der Straße des Bohrhammers, in den Flottmann-Hallen. Früher wurden hier Pumpen für den Bergbau hergestellt, heute steht Michelle Müntefering mit einer Kaffeekanne auf der Bühne.

    "Das ist was ganz Besonderes für mich und ich will diese Kaffeekanne in Ehren halten. Vielen Dank!"

    Weißes Porzellan mit blauem Strohblumenmuster – daraus trank Berta Schulz im vergangenen Jahrhundert den Kaffee. Berta Schulz saß von 1920 bis 1933 im Deutschen Reichstag, sie war eine der wenigen weiblichen Abgeordneten – und sie kam aus Herne. So wie Michelle Müntefering. Die steht gerührt vor dem Mikrofon, das kostbare Geschenk in der Hand, und strahlt in die Kameras. Sie ist soeben mit knapp 50 Prozent der Erststimmen für ihren Wahlkreis in den Bundestag gewählt worden.

    "Und das lässt mir den Stein vom Herzen fallen, denn es war nicht alles leicht in den vergangenen Monaten, und deswegen ist das ein gutes Ergebnis für uns alle."

    Auf der Leinwand über ihr laufen Bilder aus Berlin, live aus dem Willy-Brandt-Haus. Peer Steinbrück blickt in die Kameras, die Lippen zusammengekniffen, für ihn war auch nicht alles leicht in den vergangenen Monaten. Aber er kann sich am Ende nicht über das Ergebnis freuen. Nur 2,7 Prozent mehr als vor vier Jahren konnte er für die SPD holen – immer noch das zweitschlechteste Resultat in der langen Geschichte der Sozialdemokraten. 2009, das Ergebnis von 23 Prozent, hat ein Trauma bei den Genossen hinterlassen. Die verlorenen Stimmen werden der Agenda 2010 angelastet, aber auch dem Dasein als Junior-Partner in der Großen Koalition. Déjà-vu. Denn auch 2013 sehen sich die Genossen dem Würgegriff der Kanzlerin ausgesetzt. Angela Merkel – so stark wie nie zuvor.

    "Aber die Frage ist, wie will sie jetzt weiterregieren? Die Frage müssen wir ihr stellen und werden wir ihr stellen. Wir kämpfen für unsere politischen Ziele, auch nach der Wahl weiter. Für die Ziele, für die wir alle gemeinsam auf die Straße gegangen sind: was wir den Menschen versprochen haben, faire Löhne, gute Bildung und lebenswerte Städte."

    Will sagen, die SPD hat ihren Preis. Franz Müntefering steht im Publikum, er sagt kaum ein Wort, schon gar nicht zu Journalisten. Er sei nur als Gast hier, sagt er, aber auch das nur bei abgeschaltetem Mikro. Während seine Frau auf der Bühne steht, mit den Reportern spricht und im Internet die Wahlergebnisse checkt, hält er sich abseits, verfolgt die Balkendiagramme auf der großen Leinwand, versorgt die Familie seiner Frau mit Bier und Sprite. Zu gerne würde man wissen, was gerade in seinem Kopf vor sich geht. Bei der Wahl 2005 war er Parteivorsitzender, er führte die Koalitionsverhandlungen. Nach neun Wochen einigten sich damals CDU, CSU und SPD.

    "Das ist eine Lebensabschnittspartnerschaft, die wir jetzt machen, das trifft den Kern der Dinge. Also in der Sache streiten, aber wir wissen, wir müssen zusammen handeln."

    Acht Jahre später, genau genommen heute Morgen hat Angela Merkel Sigmar Gabriel ein Gesprächsangebot gemacht. Für sie wäre eine Große Koalition die denkbar beste Option – zumal im Bundesrat in den nächsten Jahren die SPD das Sagen hat. Doch am Wahlabend in Herne wollen die Genossen nichts wissen von einer solchen Vernunft-Ehe.

    "Also, ich kann mir Schwarz-Rot gar nicht vorstellen, das ist so in die Hose gegangen und wir haben quasi nur die Nachteile gehabt." - "Also Große Koalition wäre schlecht für die SPD. Ich wäre eher dafür, dass wir in die Opposition gehen." - "Ja, rot-rot-grün ist genauso schlecht wie eine große Koalition." - "Also Große Koalition wäre schlecht für die SPD. Ich wär also dafür, wenn wir lieber in die Opposition gehen." - "Irgendwas muss passieren, aber eine große Koalition auf keinen Fall."

    Den Zahlen nach wäre auch eine rot-rot-grüne Koalition möglich. Doch die hat Peer Steinbrück bereits vor der Wahl ausgeschlossen und denselben Fehler wie Andrea Ypsilanti wird er kaum begehen. Michelle Müntefering will sich zu Koalitionsfragen nicht äußern. Sie wartet auf das Angebot der Kanzlerin. Heute Abend noch fährt sie nach Berlin – zunächst ohne Kaffeekanne. Doch das Andenken an die SPD-Politikerin Berta Schulz wird einen Ehrenplatz in ihrem Berliner Abgeordnetenbüro finden. Am Dienstag treffen sich die alte und die neue SPD-Fraktion im Berliner Reichstagsgebäude. Franz Müntefering wird zum letzten Mal dabei sein, Michelle Müntefering zum ersten Mal. Der Generationswechsel – wie wird er im Alltag funktionieren?

    "Das werden die nächsten Tage zeigen …"


    Catrin Stövesand: Ein Beitrag von Christiane Wirtz. Wir haben es gerade noch einmal gehört. Noch ziert sich die SPD, und mit ihrer starken Position im Bundesrat hat sie ja auch ein Pfund für Forderungen. Ursula Münch von der Akademie Tutzing ist uns weiterhin zugeschaltet. Frau Münch, wie kann Ihrer Einschätzung nach das Zusammenspiel zwischen Bundestag und Bundesrat im Fall einer Großen Koalition funktionieren?

    Ursula Münch: Es wird wahrscheinlich oder würde etwas einfacher funktionieren als jetzt eine schwarz-grüne Koalition, dafür gibt es ja noch weniger Anknüpfungspunkte im Bundesrat, aber einfach wird es auch nicht sein. Die SPD ist im Bundesrat stark, das trifft zu, aber die SPD ist in allen Ländern mit Ausnahme Hamburgs ja in eine Koalition eingebunden und führt deshalb die Stimme im Bundesrat für das jeweilige Bundesland nie alleine, sondern muss sich normalerweise auf den grünen Koalitionspartner einstellen. Einfacher ist es natürlich in den Ländern, wo eine Große Koalition herrscht, aber das sind nur fünf im Augenblick. Insofern – das wird nicht ganz einfach werden.

    Stövesand: Warum will Ihrer Meinung nach Angela Merkel keine Minderheitsregierung?

    Münch: Das passt nicht zu Angela Merkel, und es passt nicht zu den Aufgaben, die die Bundesrepublik Deutschland doch vor sich hat, gerade auch mit Blick auf Europa. Meines Erachtens würde das im Grunde auch im Ausland, in der Europäischen Union, als Unsicherheitsfaktor gelten. Also, die Entscheidung, das von vornherein abzulehnen, halte ich für eine richtige. Darin sind wir noch nicht sozialisiert, das wäre in skandinavischen Ländern anders, in der Bundesrepublik wäre das ein Krisensymptom.

    Stövesand: Ich wollte mit Ihnen noch mal über Personalfragen sprechen. Hannelore Kraft ist ja nicht nur Regierungschefin des bevölkerungsreichsten Bundeslandes, sondern wird auch schon als neuer mögliche SPD-Bundesvorsitzende gehandelt. Welche politische Zukunft und Bedeutung hat Ihrer Meinung nach Hannelore Kraft künftig?

    Münch: Ich gehe schon davon aus, dass sie eine größere Bedeutung haben wird, dass sie unter Umständen tatsächlich irgendwann mal, in absehbarer Zeit vielleicht sogar, neue SPD-Bundesvorsitzende wird. Man darf aber auch nicht übersehen, es ist ihr ja auch schon Einiges angetragen worden, es ist ihr auch schon mehr oder weniger verblümt die Kanzlerkandidatur angetragen worden, bevor Steinbrück dann hineingesprungen ist. Das hat sie nicht gewollt. Nordrhein-Westfalen hat jetzt zwar besser abgeschnitten, die SPD in Nordrhein-Westfalen bei den gestrigen Bundestagswahlen mit knapp 32 Prozent, aber das liegt trotzdem deutlich unter den früheren nordrhein-westfälischen sozialdemokratischen Ergebnissen. Also, das ist jetzt nicht so, dass das das Patentrezept wäre, wenn die SPD sich jetzt auf Hannelore Kraft einschießen würde und sie eventuell als Parteivorsitzende wählen würde. Das allein wird das Problem nicht lösen.

    Stövesand: Ich möchte noch mal auf eine andere Personalfrage jetzt kommen, im nächsten Beitrag, denn Personalfragen waren wohl auch mitverantwortlich für das Debakel der FDP. Und personelle Konsequenzen werden gezogen. Der Bundesvorsitzende Philipp Rösler und weitere Spitzenpolitiker treten zurück. Die Freien Demokraten sind im Bundestag vorerst Geschichte. Und auf diese Geschichte liberaler und neoliberaler Politik blickt meine Kollegin Gudula Geuther:


    Hand drauf: Die CDU-Vorsitzende Angela Merkel und der SPD Vorsitzende Franz Müntefering
    Hand drauf auf die Koalition: Angela Merkel und Franz Müntefering 2005 (AP)
    Ursula Münch, Direktorin der Akademie für politische Bildung Tutzing
    Ursula Münch, Direktorin der Akademie für politische Bildung Tutzing (picture alliance / dpa)
    Die FDP und der Gedanke der Freiheit
    Es waren dreizehn äußerst heterogene Landesverbände, die sich im Dezember 1948 in Heppenheim an der Bergstraße zusammenfanden. An dem Ort, an dem Liberale 1847 die Paulskirchen-Verfassung vorbereitet hatten. Und was sie zusammenhielt, war eine wirtschaftspolitische Weichenstellung, die der frühere Reichstagsabgeordnete und erste Parteivorsitzende Theodor Heuss schon vor der Gründung beschworen hatte:

    "Wir stehen heute in der Auseinandersetzung zwischen Sozialismus und freier Auffassung des wirtschaftlichen Lebens."

    Was sie zusammenhielt, erinnerte sich Wolfgang Mischnick – damals Jungdemokrat, später langjähriger Vorsitzender der Bundestagsfraktion:

    "Die Botschaft von Heppenheim war, dass die FDP die Partei ist, die den Gedanken der Freiheit für die Persönlichkeit in den Vordergrund stellt. Die den Gedanken des Rechtsstaates in den Vordergrund stellt. Und die darüber hinaus die Partei war, die die Einheit Deutschlands als eine der wichtigsten politischen Aufgaben ansah."

    Die Herkunft der Partei aus rechts- und linksliberalen Strömungen, die sich anfangs auch kein Grundsatzprogramm gab, prägte die FDP. Mit Theodor Heuss und Thomas Dehler auf der einen Seite, mit Figuren wie dem äußerst nationalkonservativen Erich Mende, erst Fraktions-, dann Parteivorsitzender, auf der anderen Seite. Das Bild in der Öffentlichkeit bestimmten vor allem starke Persönlichkeiten. Und von Anfang an die Rolle als lachende Kleine im bundesdeutschen Parteiengefüge. Als die einzige der ursprünglich vielen kleinen Parteien, die sich behaupten konnte.

    "Die Leute, die ein falsches Bild gerne gebrauchen, sagen, wir seien das Zünglein an der Waage."

    Mokierte sich schon früh der Württemberger Heuss:

    "Das sind wir aber gar nicht. Denn ein Zünglein geht hin und her und schwankt. Wir sind viel mehr etwas, was man in bestimmten Gegenden unseres Vaterlandes mit dem schönen Wort Waagscheißer bezeichnet. Wir sind nämlich in der Lage, Entscheidungen zu treffen. Und das ist eine interessante Stellung."

    In der oft spannungsreichen und mehrfach unterbrochenen Koalition mit der Union mit deren damals unklarem wirtschaftspolitischen Kurs war es die FDP, die vor allem die Soziale Marktwirtschaft prägte. Die Oppositionszeit während der ersten Großen Koalition nutzt die Partei zur Neuorientierung. Mit Walter Scheel, Hans-Dietrich Genscher, mit einer neuen Haltung zur Außenpolitik, die es später möglich machte, dass die Partei in der neuen Ostpolitik mitging. Und schließlich mit den Freiburger Thesen, die heute wie eine Kritik am Kapitalismus klingen.

    An der Seite Willi Brandts hatte die FDP die Reformpolitik der sozialliberalen Koalition mitgestaltet. Marktwirtschaft und Bürgerrechte standen gleichermaßen für den Markenkern der Partei. Aber in der Regierung Helmut Schmidt bröckelte nicht nur die Gemeinsamkeit mit der SPD, sondern auch wieder der Zusammenhalt der Fraktion. Der nochmalige Partnerwechsel 1982, angetrieben vom damaligen Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff, hin zu Helmut Kohl, führte wiederum, wie der frühere, zu Häutungen und zum Austritt jedes fünften Parteimitglieds. Für Linksliberale wie Hildegard Hamm-Brücher trug der Wechsel in der laufenden Legislaturperiode

    "Das Odium des verletzten demokratischen Anstands."

    Für die FDP folgten die Genscher-Jahre. Der frühere Innenminister leitete 18 Jahre lang das Außenamt. Und feierte seine größten Triumphe während der Wiedervereinigung.

    "Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise ..."

    konnte Hans-Dietrich Genscher den jubelnden DDR-Flüchtlingen in der deutschen Botschaft in Prag mitteilen. Vor den historischen Entwicklungen, wie dem Zwei-Plus-Vier-Vertrag, den Genscher mit aushandelte, verblassten auch die Affären, die Parteifinanzaffären etwa, die die Minister Lambsdorff und Möllemann zum Rücktritt zwangen. Die frühere Rolle Genschers hinderte Verluste der FDP nach der Wiedervereinigung nicht. 1998 fanden sich die Liberalen zum ersten Mal nach 29 Jahren in der Opposition wieder. Spaßpartei, Steuersenkungspartei, der Versuch der Konturgebung unter dem neuen Vorsitzenden Guido Westerwelle scheiterte zuerst. Vor allem das eine, beharrlich vorgetragene Versprechen

    "...und deswegen ist ein niedrigeres, einfaches und gerechteres Steuersystem die Mutter aller Reformen, meine sehr geehrten Damen und Herren!"

    führte die FDP 2009 zum größten Wahlerfolg ihrer Geschichte. Nutzen konnte sie ihn nicht.


    Catrin Stövesand: Ein Beitrag von Gudula Geuther aus unserem Hauptstadtstudio. Abschließend möchte ich mit unserer Expertin Ursula Münch noch kurz über die CSU sprechen. Sie hat, wie schon bei der bayerischen Landtagswahl, ein erfolgreiches Ergebnis eingefahren. Mit welcher Haltung kann Horst Seehofer Ihrer Meinung nach jetzt in die Verhandlungen für Schwarz-Rot gehen, Frau Münch?

    Ursula Münch: Er wird sehr selbstbewusst, wie wir ihn kennen, in solche Verhandlungen hineingehen, wird sich an verschiedenen Partnern reiben, sowohl an der CDU als auch an der SPD natürlich, aber er wird relativ schnell auch einsehen oder jetzt schon wahrnehmen, dass das die für die CSU schwierigste Konstellation ist. Die CSU hätte sich eine schwache FDP gewünscht und das eigene starke Ergebnis. Jetzt sich in einer großen Koalition zu finden, ist aus CSU-Sicht höchst problematisch, weil man da eben immer nur der ganz, ganz kleine Partner ist. Man wird weniger Gewicht haben, man wird weniger Programmatik lenken und bestimmen können, und man wird auch weniger Ministerposten haben, als man das wohl mit der FDP in einer kleinen Koalition hätte haben können, aber das ist jetzt einfach so.

    Stövesand: Nur kurz zum Abschluss Ihre Prognose: Pkw-Maut – kommt sie oder kommt sie nicht?

    Münch: Sie wird vielleicht in einer ganz stark abgeschwächten Variante kommen, aber das auch nur, wenn man sich über das Betreuungsgeld einigt. Also, es wird hin- und hergehen zwischen Betreuungsgeld und Pkw-Maut.

    Stövesand: Gut. Danke schön, Frau Münch, herzlichen Dank für Ihre Teilnahme, Direktorin der Akademie für Politische Bildung Tutzing, und vielen Dank an die Hörerinnen und Hörer für ihr Interesse. Am Mikrofon verabschiedet sich Katrin Stövesand. Einen schönen Abend noch.
    Die FDP-Politiker Walter Scheel (links) und Karl Hermann Flach 1972
    Bessere Zeiten: die FDP-Politiker Walter Scheel (links) und Karl Hermann Flach 1972 (dpa / picture alliance / Werner Baum)