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Ausschau nach dem Göttlichen

Schon in den ersten Veröffentlichungen des Dresdner Lyrikers Christian Lehnert war die Auseinandersetzung mit Gott und der biblischen Überlieferung zentrales Thema. Auch "Aufkommender Atem", Lehnerts fünfter Gedichtband, geht der Frage nach, wie die Welt jenseits ihrer physischen Realität beschaffen ist.

Von Tobias Lehmkuhl |
    Die Katzen haschen nach dem Ahornblatt,
    das auf der Wiese treibt vor dem Gewitter.
    Ich aß fast nichts am Abend und bin satt
    die ganze Nacht, am Morgen schmecken bitter
    die Zungewurzel und das Augenlicht.
    Ich weiß nicht, was ich heute beten soll –
    in Bitten fassen, was an Sinn gebricht?
    Ich lese, lese mir den Rachen voll.


    Unüblich ist es in unserer säkularen Zeit, von Gott zu dichten, vom christlichen Glauben oder gar vom Gebet. Welche Gründe es dafür auch immer geben mag, einer wird sicher die Furcht sein, mögliche Leser, ungläubige Leser auszuschließen, ja abzuschrecken. Christian Lehnert allerdings zeigt in "Aufkommender Atem" wie schon in "Der gefesselte Sänger" oder "Der Augen Aufgang", das eine solche Furcht ganz unbegründet ist. Denn auf der Suche ist ein jeder, ein jeder Lyrikleser zumindest: Gedichte lesen heißt immer auch, von jener Wirklichkeit erfahren zu wollen, die nicht greifbar, die dank der Sprachkunst einiger weniger aber erahnbar ist, jenem metaphysischen Raum, der sich hinter den Dingen verbirgt.

    Du bist mein Schlaf und meine späte Stunde,
    du bist die Gier, von der ich nie gesunde,
    ich atme dich und atme, wenn du fehlst,
    den Brandgeruch, die Leere, wo du schwelst.
    Du bist die Glashaut, die gefüllt mit Staub
    Von Zeit spricht – feine Blutung, ungenau.
    Du bist, was ich vergaß, bist mir verborgen –
    nachdem ich nicht mehr bin, der frühe Morgen.


    Was fremd ist, was anders ist, weiß Christian Lehnert trickreich zu umkreisen. Aufgebaut ist sein neuer Gedichtband dabei als eine Art poetisches Tagebuch. Von November 2008 bis Dezember 2009 reichen die Aufzeichnungen, jeweils achtzeilige, meist gereimte Gedichte. Menschen tauchen in ihnen kaum auf, auch von Gott direkt ist selten die Rede. Die Gedichte in "Aufkommender Atem" sprechen vielmehr von sinnlichen Eindrücken, von Landschaften, meist Flusslandschaften, sie evozieren Tiergeräusche, Regentropfen, Nebelschleier. Es sind leise Gedichte, zugleich aber fest in der Form, stets von einer starken rhythmischen Struktur bestimmt. So klein und beiläufig sie auf den ersten Blick wirken, sind sie doch bis ins letzte durchgearbeitet, sind keine Gelegenheitsgedichte oder bloße Impressionen. Sie nehmen die Sprache ernst, wiegen das Gewicht eines jeden Wortes. Nur so, und das zeigen die Verse Lehnerts auf ein Neugeborenes, lässt sich dem mit Worten nahe kommen, was eigentlich unsagbar ist.

    Sie schläft, ihr Köpfchen hat noch keine Dauer,
    ist weich und offen, zuckt, das Pulsen trägt
    nur bis zum Bettrand, Schaum ins Schilf geweht,
    vom Osten kommt ein warmer Regenschauer,
    läßt Spieglungen im See erzittern. Morgen'
    Bedeutet nichts, berührt nicht dieses Kind,
    denn noch ist selbst sein Atem unbestimmt,
    und was es weiß, hat noch kein Wort.


    "Wo war der Augenblick Wärme, bevor ich ihn spürte", fragt Lehnert, "was ist es, das sich in den Zweigen regt, wenn letzte Blätter aus dem Vorjahr fallen". Der Dichter hält, wenn man so will, Ausschau nach dem Göttlichen. Andere würden es Liebe nennen, oder Poesie. Am Ende kommt es darauf nicht an. Entscheidend ist vielmehr, dass es Lehnert in "Aufkommender Atem" versteht, sinnliche Beschreibung und intellektuelle Reflexion behutsam miteinander zu verschränken. So kann man mit ihm schauen, mit ihm denken.

    Christian Lehnert: Aufkommender Atem.
    Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 98 Seiten, 17,90 Euro