In einem Haus auf der Avenue B, Manhattan, Lower East Side, macht Jean-Michel Basquiat Graffiti-Kunst. Im Keller daneben entwickeln Sonic Youth ihre herbe Rockmusik. Und etwas weiter, am Christopher Street Pier, treffen sich die Homosexuellen und Transgender. Man könnte nostalgisch werden, welche subkulturellen Stränge mit internationaler Strahlkraft in den achtziger Jahren von New York ausgingen. Der Fotograf Ken Schles, Jahrgang 1960, war mittendrin:
"Alphabet City, Lower East Side: Ich zog 1983 in die Avenue B. Es war wie ein Kriegsschauplatz. Ständig Gewalt auf offener Straße, die Häuser heruntergekommen. Mir sind Freunde weggestorben, an AIDS, man sagte: Da kann man nichts machen. Du kamst da an, warst sofort in diese Szene integriert. Du wolltest die Welt entdecken - und die war komplett im Arsch."
Miete zahlte nur, wer gerade Geld hatte. Sonst eben nicht. Man wohnte dort, weil man ja eigentlich, so wie Ken Schles, Künstler werden wollte. "Invisible City" heißt seine große Fotoserie über New York in den 80ern: Dokumentarfotografie über Knutschende, Exhibitionisten, Existenzialisten - und Zugedröhnte, die mit heruntergelassener Unterhose von der Toilette eines Clubs die ganze Nacht lang einfach nicht mehr hochkommen.
Standortbestimmung einer Generation
"Du dachtest, hier in diesem Haus ging vor dir Claes Oldenburg aus und ein, großer Pop-Art-Künstler, aber was half dir das? Wenn du Kunst machen wolltest, musstest du dein eigenes Ding machen. Schwimm oder gehe unter! Heutzutage ist diese Zeit ein Mythos geworden, wie der Wilde Westen. Man hat angefangen die Achtziger zu verklären. Also ich bin da nicht so nostalgisch!"
Sie ist auch längst weggentrifiziert, diese Boheme aus der City. Genauso wie die billigen Unterkünfte für Homosexuelle und das eklatante Elend auf der Straße, das der Deutsche Miron Zownir in seiner New Yorker Zeit, etwa zeitgleich, fotografierte. Genauso ist das spezifische Inselgefühl aus Berlin verschwunden - ein anderer Schauplatz der Ausstellung, die Punks und Waver, eine andere Boheme, die damals ihre Wagenburg an der Mauer platziert hatten. Wir sind jetzt beim Konzept der Ausstellung in den Deichtorhallen: "Schles Silverthorne Zownir" ist mit drei Sälen und einem Kabinett groß aufgestellt. Von jedem Fotografen sind rund hundert Fotos zu sehen. Durchweg anlog fotografiert und fast alle schwarz-weiß. Deutlich verschiedene Stile und keine Gruppenschau, meint Kurator Ingo Taubhorn. Und doch gibt es etwas, was Ken Schles, Jeffrey Silverthorne und Miron Zownir verbindet:
"Dokumentarfotografie, das Stiefkind der künstlerischen Fotografie, weil man sie gleich in den Bereich der Magazinfotografie bringt. Der Blick, den wir jetzt von außen haben, ist ein historischer. Aber man muss sich schon, auch ich als Kurator, zusammenreißen, um nicht den romantischen Blick darauf zu werfen. Es ist in meiner Karriere als Ausstellungsmacher eine der persönlichsten, radikalsten Shows, die ich gemacht habe. Ich bin jetzt 58. An sich ist es auch eine Standortbestimmung meiner Generation."
"Ein Vehikel, sich mit dieser Zeit auseinanderzusetzen"
Die unerträgliche Leichtigkeit, Teil einer Jugendbewegung gewesen zu sein? Man wird die düsteren, von der Angst vor dem Atomkrieg und dem Waldsterben geprägten 80er wiedererkennen in Dutzenden von Zeitgeistfetzen. Auch die klare Frontlinie, was das Lebensgefühl anging, zwischen der New Economy von Thatcher und Reagan versus Teilen der Jugend, die Shoegazer tanzte und sich davon maximal distanzierte. Jüngere macht die Schau zu Zeitzeugen. Buchstäblich unverstellt dokumentierte Jeffrey Silverthorne menschliche Körper in Leichenschauhäusern. Oder er montierte, mit künstlerischen Bezügen ganz weit zurück zu Max Ernst, Man Ray und den Surrealimus, Männer- und Frauenkörper, vorne und hinten, so zusammen, dass er Transgender schon alleine laboratorisch in der Dunkelkammer definierte. Intimrasuren- und Frisuren waren übrigens in den 80ern kein Thema, auch das wird in der tabulosen Schau deutlich.
"Die drastische Sprache im Bereich des Sexuellen - wir müssen darauf hinweisen: erst ab 16, in Begleitung von Erwachsenen - ich bin offen für diese Art der Darstellung, die ich genau zu diesem Zeitpunkt richtig finde. Ausdruck einer persönlichen Befindlichkeit damals, die viel klarer ein politischer Ausdruck war als heute. Vielleicht ist dieser historische Blick auch für die einen oder anderen, die das extrem finden, ein Vehikel, sich mit dieser Zeit auseinanderzusetzen?"
Warum kreuzigte sich ein nackter Transsexueller auf offener Straße in New York selbst? Wieso ist ein junges Paar beim Sex auf einer Berliner Toilette um 1980 keineswegs peinlich berührt, sondern genießt geradezu die Provokation, dabei fotografiert zu werden? Anders als der Mainstream zu sein, Underground oder Independent zu sein, das war in den 80ern eben mehr als Attitüde und Option. Andererseits: Man versuche heute als Teenager einmal, sein eigenes Ding zu machen: Ruckzuck kommen Werbe- und Netzindustrie - und die eigenen Eltern - und machen das einfach nach. Keine Chance mehr zu revoltieren? Das Fazit zieht Ken Schles:
"Die Zeiten haben sich geändert, klar. Man muss ja Jungsein heute betriebswirtschaftlich sehen. Also über New York kann ich das sagen: Es gibt keinen Ort mehr, wo man so wie wir damals von der Hand in den Mund leben könnte. Berlin, New York, London, alle durchgentrifiziert."