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Ausweitung der Kampfzone

Auch Frauen dürfen das Buch "Ausweitung der Kampfzone" lesen, da ist der Ich-Erzähler, der sich zugleich als Autor ausgibt, großzügig. "Vielleicht sind Sie, geneigter Freund und Leser, ja selbst eine Frau", heißt es eingangs ". Das kann schon vorkommen; machen Sie sich nichts daraus." Kurz vor diesen tröstlichen Worten hat der namenlose Held bekannt, seit zwei Jahren in unfreiwilliger sexueller Askese zu leben. Seine Freundin Véronique warf ihn aus der gemeinsamen Wohnung, nachdem sie sich einer Psychoanalyse unterzogen hatte. Nun verabscheut er Analytiker und begegnet Frauen nur noch mit voyeuristischer Verachtung. Vor allem beruflich ehrgeizige Brillenträgerinnen schüren den Zorn des erotisch Frustrierten. Würde es nicht kitschig klingen, müßte man diese Chronik einer fortschreitenden Depression als einen Schrei nach Liebe bezeichnen, der zum reinen Haßgesang wird.

Katrin Hillgruber |
    "Ausweitung der Kampfzone" ist eine sarkastische Provokation, raffiniert gemacht, dabei unfähig zur Selbstironie. In Frankreich war das schmale Buch schon vor fünf Jahren erschienen und wurde unter anderem mit dem Grand Prix National des Lettres und dem Prix Flore für den besten Erstlingsroman ausgezeichnet. Der 41jährige Agrarökonom Michel Houellebecq hatte vor seinem Prosadebüt Gedichte und Essays verfaßt. Jetzt hat der österreichische Autor Leopold Federmair den literarischen Affront, der Frankreichs Rezensenten in Atem hielt, ins Deutsche übersetzt. Der Kritiker Michel Polac verglich den Roman mit einer Nadel, die das Hirn perforiert und steigerte sich in seiner Besprechung zu einer waffenscheinpflichtigen Metapher: "Ich habe dieses Buch zitternd in den Händen gehalten, wie einen geladenen Revolver." Im westlichen Nachbarland ist die Houellebecq-Manie bereits in die zweite Runde gegangen, seit im September '98 der Roman "Les particules élémentaires", "Die Elementarteilchen", veröffentlicht wurde. Bald werden 300000 Exemplare verkauft sein. Im kommenden Herbst soll Michel Houellebecqs zweites Buch auch auf Deutsch vorliegen. Ob sein Rundumschlag gegen die Permissivität und Theorievernarrtheit der 68er-Generation hierzulande eine ähnlich erhitzte Debatte auslösen wird, darf bezweifelt werden. Es ist verwunderlich, daß "Ausweitung der Kampfzone" nicht nur deutliche Anspielungen auf "Der Fremde" von Albert Camus enthält, sondern ausgerechnet an einen Roman von Jean-Paul Sartre erinnert. Der philosophische Exponent der 68er-Revolte hatte 1938 "La nausée", "Der Ekel", geschrieben. Der Held des Romans, ein hellsichtiger Neurotiker, kann der Existenz in der sogenannten Dreckstadt Bouville bloß mit Ekel begegnen. In "Ausweitung der Kampfzone" reagiert der lebensüberdrüssige Protagonist regelmäßig mit Erbrechen auf die Zumutungen seiner Umwelt. Das ist nicht die einzige Parallele zwischen den beiden bestechend rationalen Texten.

    Was in "Ausweitung der Kampfzone" als gedanklicher Reflex, als Aversion eines Außenseiters zu spüren ist, etwa der Widerwille des Ich-Erzählers gegenüber einerseits selbstbestimmten Frauen, andererseits Ausländern, verdichtet sich im Roman "Die Elementarteilchen" zur Weltanschauung. Es ist die Geschichte zweier Halbbrüder. Einer von ihnen will die Menschheit durch Genmanipulation von den Qualen der natürlichen Fortpflanzung erlösen. Angestrebt wird der leidenschaftslose, geschlechtsneutrale neue Mensch.

    Seit geraumer Zeit belastet das demagogische Wirken von Jean-Marie Le Pen das kulturelle Klima in Frankreich. Das führt zu mancher Überreaktion. So trennte sich die Literaturzeitschrift "Le Perpendiculaire" ("Das Lot") von ihrem Mitherausgeber Houellebecq nach Erscheinen seines politisch anrüchigen zweiten Buchs, obwohl sie "Ausweitung der Kampfzone" zuvor als Referenz für eine ganze Generation und als Markstein eines neuen realistischen Romantyps gefeiert hatte. Daraufhin kündigte Houellebecqs Verlag Flammarion der hauseigenen Zeitschrift. Nun kämpft "Le Perpendiculaire" ums wirtschaftliche Überleben.

    "Ausweitung der Kampfzone" ist als Reisegeschichte in kleinen Etappen abgefaßt. Der Programmierer einer Pariser Softwarefirma protokolliert nüchtern seine Vereinsamung. Er muß mehrere Bahnreisen unternehmen, um Dienststellen des Landwirtschaftsministeriums mit einem neuentwickelten Computerprogramm vertraut zu machen. Begleitet wird er von einem ausgesprochen häßlichen Kollegen namens Tisserand. Mit 28 Jahren leidet dieser bis zur Neurose darunter, noch nie mit einer Frau geschlafen zu haben. Nach dem Besuch einer Diskothek folgen die beiden einer Halbwüchsigen und ihrem schwarzen Freund in die Dünen. Der Ich-Erzähler drückt Tisserand ein Messer in die Hand - er soll sich endlich an der Welt rächen. Doch den verläßt der Mut. In der selben Nacht noch kommt er auf der Autobahn um, einer von vielen Todesfällen in diesem Roman.

    "Ich werde vereinfachen müssen, Schlag um Schlag Details vernichten"', kündigt der Erzähler an. Das fortschreitende Verlöschen menschlicher Beziehungen, so seine Überzeugung, erfordere eine knappere, ödere Textform. Das beschreibt die Ästhetik Michel Houellebecqs. Inmitten komplexer Regeln beobachtet der Protagonist die allgemeine Vereinzelung oder denkt über die paradoxe Nützlichkeit des Selbsmords nach. In erster Linie aber konstruiert er einen Dualismus aus Wirtschaftsliberalismus und sexueller Freizügigkeit. In beiden Systemen gelte das Recht des Stärkeren beziehungsweise Attraktiveren. Alle anderen hätten das Nachsehen. Der zentrale Satz des Thesenromans lautet: "Der Wirtschaftsliberalismus ist die erweiterte Kampfzone, das heißt, er gilt für alle Altersstufen und Gesellschaftsklassen. Ebenso bedeutet der sexuelle Liberalismus die Ausweitung der Kampfzone, ihre Ausdehnung auf alle Altersstufen und Gesellschaftsklassen."

    Als er seinem Chef bekennt, depressiv zu sein, isoliert sich der junge Angestellte endgültig von der funktionalen Gesellschaft. Er begibt sich freiwillig in die Nervenklinik und bricht zu einer letzten Reise auf. Der häßliche, vom Schicksal gestrafte Tisserand sagt einmal, er fühle sich wie eine Hühnerkeule unter Zellophan in einem Supermarkt. Houellebecq schätzt die Supermarkt-Metapher als ein Symbol für die seelenlose materielle Fülle, in der wir leben. Im Grunde seines Herzens ist der Skandalautor ein wildgewordener Kleinbürger. Er versteht es, aus Banalität und Kargheit Effekte zu erzielen.