Alle im Dorf nennen sie "Baba Dunja", Großmutter Dunja. Aber alle - das sind nicht sehr viele. Denn Tschernowo liegt in der sogenannten Todeszone. Nach dem Reaktor, wie die Nuklear-Katastrophe im Volksmund knapp heißt, sind nur wenige alte Menschen hierhin zurückkehrt, zum Beispiel die dicke Marja oder der verwahrloste Petrow, der damals nur mit einer Tasche mit Unterwäsche und Notizbuch zurückgekommen war und eines der verlassenen Häuser bezog. Baba Dunja, ehemals medizinische Hilfsschwester, bringt ihnen Suppe oder Neuigkeiten aus der Zeitschrift "Die Bäuerin" und zieht ihr Gemüse im eigenen Garten. Sie ist die Dorfälteste, "keine 82 mehr", wie sie kokett an die Enkelin in Deutschland schreibt, die sie leider nur von Fotos kennt. Man besucht sie hier lieber nicht. Nur manchmal kommen Pakete von der Tochter Irina. Die umliegenden Dörfer sind menschenleer. Das winzige Tschernowo hat sogar einen eigenen Friedhof, weil keiner die Leichen haben will - die Nachbarstadt diskutiert wegen der Strahlengefahr bereits über die Einführung von Bleisärgen. Eine düstere Szenerie, eigentlich wie geschaffen für Prosa.
"Im ersten Jahr in Tschernowo wurden mir viele Fragen gestellt. Die schwierigsten kamen von Irina. Die sinnlosesten von den Reportern. Sie folgten mir auf Schritt und Tritt, wie Astronauten verpackt in ihre Strahlenanzüge. Baba Dunja, riefen sie durcheinander, welches Zeichen wollen Sie damit setzen? Wie wollen Sie dort überleben, wo kein Leben mehr sein kann? Würden Sie es zulassen, dass Ihre Familie Sie besucht? Wie sind Ihre Blutwerte? Haben Sie Ihre Schilddrüse checken lassen? Wen lassen Sie in Ihr Dorf einziehen?
Atmosphäre eines Zwischenreich
Fragen, die Baba Dunja nach all den Jahren nur noch mäßig interessieren. Sie hat sich eingerichtet zwischen Häusern, durch die Bäume wachsen. Manchmal kommt ein Biologe vorbei, der Untersuchungen macht und feststellt, dass Spinnen hier andere Netze weben als überall sonst und dass die Zikaden andere Töne von sich geben. Vom Birkensaft, den Baba Dunja für ihn frisch zapft, will er aber nicht probieren. Ansonsten helfen ihr die fantasierten Gespräche mit ihrem toten Mann über viele einsame Stunden hinweg. Sie weiß nicht einmal genau, ob sie nicht vielleicht schon selbst zu den Toten gehört, die hier im Laufe der Jahre starben und immer noch umhergeistern. Diese Atmosphäre eines Zwischenreichs vermittelt Alina Bronsky zunächst recht gut. Aber trägt sie einen ganzen Roman?
"Bei uns gibt es keine Zeit. Es gibt keine Fristen und keine Termine. Im Grunde sind unsere täglichen Abläufe eine Art Spiel. Wir stellen nach, was Menschen normalerweise tun. Von uns erwartet niemand etwas. Wir müssen weder morgens aufstehen noch abends ins Bett. Wir könnten es auch genau umgekehrt machen. Wir spielen es nach, wie Kinder mit Puppen und Kaufmannsladen das Leben nachspielen."
"Scheppernde Knochen" machen noch lange keine alte Frau aus ihr
Auch bei der Lektüre des Buches beschleicht einen das Gefühl, die Autorin spiele nach, was sie sich aus Zeitungsartikeln über die alten Tschernobyl-Frauen angelesen hat. Details wiederholen sich. Baba Dunja wird in ihrem langen, seltsam adressatenlosen Monolog nicht richtig zur Figur, die einen wirklich bewegt. Und "scheppernde Knochen" als Attribute machen noch lange keine alte Frau aus ihr. Der Handlungsbeschleuniger kommt dann doch aus dem Nichts. Petrow, der alte Mann, schwingt mal kurz und etwas überraschend die Axt, als ein fremder Mann mit seiner noch gesunden Tochter in der Todeszone ankommt, offenbar um das Kind krank zu machen und so Rache an einer Exfrau zu nehmen. Die Szene, die schließlich dazu führt, dass Petrow den Fremden tötet und Baba Dunja für Petrow die Gefängnisstrafe auf sich nimmt, wirkt unmotiviert und nicht auserzählt. Mit der Entscheidung, ihre Hauptfigur alle Vorfälle im bedeutungsschweren Präsenz schildern zu lassen, zieht Alina Bronsky eine Überdeutlichkeit ein, die der Stoff nicht verträgt. So fallen auch die weniger geglückten Sätze zu sehr auf.
"Die Gavrilows stehen da und teilen sich einen Gesichtsausdruck. Der sieht aus, als hätte ich ihnen vors Gartentor gekackt."
Nach "Scherbenpark", ihrem Debüt über russische Jugendliche in einem neuen Leben in Deutschland, hat Alina Bronsky noch mit zwei weiteren Romanen zeigen können, dass sie über eine detailreiche, lebendige Sprache verfügt, die einen Text zum Klingen bringen kann und ins Rollen bringt. Diesmal stagniert er auf einem Schauplatz, der alles schluckt. Leicht pathetisch wirkende Strecken-Innenschau wechseln mit Registrierungen jeder kleinsten Handlung Baba Dunjas. Diese Art ständiger Selbstversicherung bremst sie als starke, beschreibende Erzählerstimme aus. Ein Perspektivwechsel hätte dem Text gutgetan und ihn auf eine gesellschaftsrelevantere Ebene verholfen. Man hätte zum Beispiel gerne mehr darüber erfahren, warum westliche Medien ausgerechnet diese alte Frau zur Symbolfigur aufbauschen; und um welche geopolitische Wunde es genau geht. Über diese Mechanismen schweigt sich der kleine Roman aus. Baba Dunja kehrt nach dem Absitzen ihrer Gefängnisstrafe zurück in ihr Haus, wo die Spinnen alles besetzen und die Katze Junge bekommen hat - eines davon ohne Augen. Alina Bronsky wagt diesmal formal und literarisch zu wenig. Der "Bronsky-Beat", den Kritiker ihr einst bescheinigten, wird hier zur pittoresken Litanei.
Alina Bronsky: "Baba Dunjas letzte Liebe", Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2015, . 154 Seiten, 16 Euro.