Das ist natürlich ein genialer Schachzug: das Barock-Klischee herbeizitieren, es dann kritisieren und dekonstruieren – und es dann doch ein klitzekleines bisschen bedienen und ausleben. Die Mannheimer Ausstellung will nicht gerade durch Prüderie auffallen; sie bedient durchaus unsere Schaulust, vor allem durch exquisite Leihgaben aus dem Kunsthistorischen Museum Wien, von Rembrandt bis Gentileschi. Aber sie weitet den Blickwinkel ins Kulturwissenschaftliche und macht dem Besucher klar, dass all die Vorurteile, die mit barocken Üppigkeiten hantieren, mit Pracht, Luxus und Dekadenz, mit Symmetrie und Herrschaft, Theatralik und übersteigerten Affekten, dass die nur einen Teil der Epoche beschreiben, zumeist Kunst und Architektur; dass vieles andere aber dabei unter den Tisch fällt, das nun in Mannheim ins Licht gestellt werden soll – die Fortschritte der Naturwissenschaft vor allem, Handel und Welteroberung, Hunger und Not, Frömmigkeit und Religionskriege.
Auseinandersetzung zwischen Glaube und Wissenschaft
Die Ausstellung erzählt in sechs Kapiteln, die als Raster auch für jede andere Epoche brauchbar wären: Raum, Körper, Wissen, Glaube, Ordnung, Zeit. Aus den niederen Ständen selbst ist kaum Realien erhalten, also muss von Armut und Dreißigjährigem Krieg dann doch wieder durch Bilder, Graphiken und Bücher erzählt werden. Neben den voluminösen Rubens-Leibern gab es durchaus auch ein an der Antike orientiertes Schönheitsideal; eine Rokoko-Schnürbrust als Body-Shaping ließ zudem wenig Raum für dralle Formen. Auch nehmen die geometrisierten Barockgärten des Absolutismus im Grunde schon die Rationalität der Aufklärung vorweg. Und all die Globen, Karten und naturwissenschaftlichen Geräte haben rein gar nichts von Taumel, Kitsch und Welttheater.
Grundkonflikt der frühen Neuzeit ist die Auseinandersetzung zwischen Katholizismus und Protestantismus und, noch schärfer, zwischen Glaube und Wissenschaft. Ein Objekt, das das sehr schön illustriert, ist das von dem Jesuiten Christoph Scheiner (*) entwickelte Heliotrop, mit dem Scheiner die Sonnenflecken entdeckte. Kuratorin Uta Coburger:
"Er hat sich darüber auch mit Galilei auseinandergesetzt, die beiden haben sich sogar gestritten in ihrem Briefwechsel, wer der erste war, der die Flecken entdeckt hat, und dann hat irgendwann der Jesuitenorden dem Herrn Scheiner seine Entdeckung verboten – weil sie gesagt haben, die Sonne ist ein Sinnbild Mariens, und Maria hat keine Flecken."
Auf den Spuren der Anatomie
Aber auch die Erforschung der menschlichen Anatomie hatte hintersinnigerweise eigentlich den Gottesbeweis zum Ziel. Christus war Mensch geworden, also versuchte man, den Schöpfer über die Anatomie besser zu verstehen …
"Eins der ungewöhnlichsten Objekte der Ausstellung, das noch nie ausgeliehen war von dem Leihgeber in Ingolstadt, ist ein Kruzifix aus Wachs mit einer Bauchklappe. Man kann dem Christus den Bauch aufklappen, und dann sieht man anatomisch genau sein Inneres, sein Gedärm".
Das sind Skurrilitäten, die man mit dem Barockbegriff nicht unbedingt verbindet. Oder dies: die Angst vor Wasser, die Angst vor Ansteckungen war allgegenwärtig: man puderte sich lieber. Ein Autodidakt, der Holländer Antoni van Leeuwenhoek, entdeckte im menschlichen Speichel dann die Bakterien – mit einem selbstgeschliffenen Mikroskop, einer winzigen Linse, die aber eine 130fache Vergrößerung bot.
Lassen wir die Höhepunkte der Schau beiseite, Rembrandt, Rubens, van Dyck, Gentileschi. Konzentrieren wir uns auf den Widerspruch zwischen Geist und Glauben, Wissenschaft und Frömmigkeit – wer so durch die Ausstellung geht, der wird reich beschenkt. Heutige Künstler spinnen als Zugabe barocke Stilleben ins Videozeitalter fort und lassen in Zeitlupe Granatäpfel explodieren – die Vergänglichkeit ist ein Thema der religiös aufgeladenen Gegenwart. Und ein bisschen barocke Demut kann auch heute nicht schaden: verschon uns, Gott, mit Strafen/und laß uns ruhig schlafen/ und unsern kranken Nachbarn auch.
* Anmerkung der Online-Redaktion: In einer vorherigen Version sowie in der Audio-Fassung wurde der Jesuit Christoph Scheiner fälschlicher Weise "Schreiner" genannt. Nach einem Hinweis einer aufmerksamen Nutzerin wurde "Schreiner" in "Scheiner" geändert.