Wenn Jürgen Becker sein Buch einen "Journalroman" nennt, dann deswegen, weil er das Erzählen anders definiert als es die Bestsellerliteratur tut. Erzählt werden Alltagsgeschichten, Aspekte des häuslichen Lebens in der Stadt wie auf dem Lande, vermischt mit Erinnerungen, die bis in die Kindheit des mittlerweile 83-jährigen Autors zurückgehen. Im Mittelpunkt steht eine Kunstfigur, der Becker, schon in früheren Büchern, den Namen Jörn Winter gegeben hat.
Kein Zweifel, dass es sich bei Jörn Winter, der hier agiert und zitiert wird, um ein Alter Ego des Verfassers handelt - die Kunstfigur dient dazu, eine gewisse Distanz herzustellen, zumindest der Form nach. Oft sagt Becker aber auch einfach "Ich". Der Journalroman ist weder ein Roman noch eigentlich ein Journal; ein Roman erzählt eine zusammenhängende Geschichte und ein Journal ist in der Regel mit Daten versehen, die die jeweiligen Notate bestimmten Tagen zuordnen – weder das eine noch das andere ist hier der Fall. Es handelt sich eben um ein eigenes Genre, den Journalroman, hervorgegangen aus den experimentellen Texten der Sechzigerjahre, nur dass das Erzählerische an Bedeutung gewonnen hat. Jörn hat zweifellos Ähnlichkeit mit seinem Verfasser, man könnte sagen: die beiden sind sich zum Verwechseln ähnlich. Aber Becker besteht darauf, dass es sich eben um eine Verwechslung handeln würde, nähme man den einen für den anderen; gegen Ende des Buchs geht er darauf ein:
"Mitunter bekommt der Verfasser, zu hören, dass Jörn doch immer sagt, was ihm, dem Verfasser, durch den Kopf geht. Dass Jörn keine fingierte, keine eigenständige Person ist und sich nur mit seinem Namen von der Person des Verfassers unterscheidet. Dass Jörns Wahrnehmungen und Erfahrungen, sein ganzer Lebenslauf mit dem des Verfassers übereinstimmen. Die Mutmaßungen, die Behauptungen, wie sie dem Verfasser vorliegen, sollen sie ihn in Verlegenheit bringen, im Sinne von: Wir durchschauen deinen Trick, wir sind dir auf die Schliche gekommen. Oder wird vielleicht erwartet, dass der Verfasser gesteht: Ja so ist es. Oder dass er groß ausholt zu einem Dementi, für das er ein ganzes Arsenal an Theorie bemüht."
Autobiografisches Schreiben
Jürgen Becker leugnet keineswegs, dass es sich um autobiografisches Schreiben handelt. Gleichwohl handele es sich nicht um ein und dieselbe Person, denn selbst "der unter meinem Namen Auftretende", so Becker, wäre als literarische Instanz jemand anderes, weil bereits das Beschreiben die Vorgänge verändert. Er sagt es seufzend, denn schließlich handele es sich hier um eine Binsenwahrheit, die jeder Schreibende kenne.
"Was Jörn erzählt, hat er so oder so erlebt, aber dann merkt er, dass immer wieder Erfundenes dazwischenkommt. Dabei hat er wenig Fantasie; das Erfinden ist nicht seine Stärke, eher ist es die Erinnerung, die, wenn sie aus der Zone des Vergessens nicht herausfindet, sich mit Erfindungen gewissermaßen weiterhilft."
Keine Daten, stattdessen Nummerierungen gliedern den Text. Die Nummern von 1 bis 66 bezeichnen vielleicht erzählerische Einheiten, Tagesrationen des 83-jährigen Autors. Thematische Sprünge gibt es dabei allemal. Oft nimmt der Text kleine Vorfälle in Haus und Garten, in der Nachbarschaft zum Anlass; oft verfährt er auch assoziativ, und sehr oft geht es um ein "Inventar der Verluste", ob es sich um Gegenstände handelt oder etwa um Personen:
"Einer aus der Verwandtschaft kam aus englischer Kriegsgefangenschaft heim. Seine Haut war gelb, er hatte im Afrikakorps gekämpft. Um das Abitur nachzumachen, ging er noch mal in unsere Schule mit. Als er später von der Brücke sprang, hieß es, komisch war er schon immer, der Fritz, und jetzt, eine Art von Wüstentrauma vielleicht."
Man belegt den Vorfall mit einer amtlich klingenden Vokabel, "Wüstentrauma", und wendet sich ab. Diesem Achselzucken, das gerade für einschneidende historische Vorgänge wie den Krieg und seine Folgen charakteristisch ist, stellt Jürgen Becker eine Chronik des Alltags entgegen, eine Geschichte der mehr oder weniger unscheinbaren Vorgänge – oder auch der unscheinbaren Verluste, aus denen sich der Verfasser hin und wieder einen Spaß macht, wie zum Beispiel hier:
"Jörn wollte es wissen und verlangte im Reisecentrum eine Bahnsteigkarte. Der junge Mensch am Schalter verstand nicht. Eine was? Jörn sagte, um den Bahnsteig betreten zu können, benötige er doch eine Bahnsteigkarte. Schwaches Lächeln. Er benötige einen Fahrausweis, für eine Bahnfahrt, nicht aber für das Betreten des Bahnsteigs. Jörn dankte und ging."
Zusammenprall eines Nachgeborenen mit dem Erinnerungsfundus des Älteren
Als es auf den Bahnhöfen noch Bahnsteigkarten gab, also bis etwa in die 60er-Jahre, gab es dort keine Reisecentren, sondern allenfalls Fahrkartenschalter. Und eben Sperren, die einen am barrierefreien Betreten des Bahnsteigs hinderten, wenn man jemanden zum Zug bringen oder empfangen wollte. Der Zusammenprall eines Nachgeborenen mit dem Erinnerungsfundus des Älteren löst keinen Verständnisfunken aus, sondern nur Irritation. Der Spaß bleibt einseitig. Nun stellt die Bahnsteigkarte sicher keinen gravierenden Verlust dar. Aber wo hätten Erinnerungen an vergangene Zeiten und ihre teils bizarren, teils prächtigen Erfindungen ihren Ort, wenn nicht in der Literatur?
Das Dorf Odenthal im Bergischen Land, idyllisch gelegen in der Nachbarschaft des gotischen Altenberger Doms, wo Becker teilweise lebt, ist ein fester Topos in seiner Prosa, Fixpunkt, Fluchtpunkt, wie man es nimmt. Vergegenwärtigung ist kein besonders schönes Wort, aber es ist kein Zufall, dass diese Prosa zu großen Teilen im Präsens gehalten ist.
"Jede Ortsbezeichnung kann Motiv einer Geschichte sein, die Erlebtes, wenn nicht ausführlich erzählt, für einen Moment doch vergegenwärtigt. (...) Aber Neues fällt dir dazu nicht ein? Es geht nicht um Neues, sagt Jörn, es geht darum, den Bestand zu sichten. Was ist noch vorhanden, was ist vielleicht hinzugekommen, was weiß ich noch, was ist weg. (...) Eine alte Baumgruppe kann ich immer aufs Neue beschreiben, aber wenn ich einmal merke, dass mein Beschreiben nichts Entdeckendes mehr hat, interessiert mich auch die Baumgruppe nicht mehr. Ich höre ja nicht auf zu staunen, mich zu wundern, aber das kommt auch nur, weil ich immer weniger begreife. Kann sein, dass ich nur noch schreibe, um mir etwas begreifbar zu machen. Wird etwas begreifbar? Ich weiß nicht, sagt Jörn, aber wenn draußen in der Nacht alles dunkel bleibt, die Küchenlampe hier macht jedenfalls die Küche hell."
Damit ist das Zentrum der Becker'schen Poetik beschrieben. Die dunkle Nacht und die erleuchtete Küche - die Metapher mag auch bedeuten: Ein großer Teil der Wirklichkeit bleibt im Dunkeln, bleibt unbeschrieben, unbegriffen, bleibt vielleicht so etwas wie dunkle Materie, aber einen überschaubaren Teil der Realität kann man gleichwohl beschreiben, begreifen, kann man gedanklich und sprachlich durchdringen und mit Licht erfüllen. Und das gelingt dem Büchnerpreisträger Jürgen Becker immer wieder exzellent.
Jürgen Becker: "Jetzt die Gegend damals", Journalroman, Suhrkamp, 162 Seiten, 19,95 Euro.