Die Linken-Politikerin sagte im Deutschlandfunk, es wäre eine völlige moralische Bankrotterklärung der EU, wenn sie an den Beitrittsverhandlungen festhielte. Schließlich habe Erdogan mit den massenhaften Entlassungen von Beamten und Festnahmen von Oppositionellen infolge des gescheiterten Putsches vom Juli längst alle roten Linien überschritten.
Dagdelen argumentierte, die Erfahrungen der vergangenen Jahre hätten gezeigt, dass Erdogan durch die Beitrittsgespräche nur ermutigt werde, in seinem Land noch brutaler vorzugehen und noch mehr Demokratie abzubauen.
Zwar müsse man auch mit Diktatoren im Dialog bleiben, räumte Dagdelen ein. Doch gehe das Verhältnis der EU zur Türkei weit darüber hinaus - es bestehe vielmehr eine enge Kooperation, die auch Waffenlieferungen beinhalte. Zu einer solchen "Premiumpartnerschaft" mit einer Diktatur müsse man Nein sagen.
Dagdelen kritisierte auch den gestrigen Besuch Bundesaußenminister Steinmeiers in Ankara. Diese sei zu einem schwierigen Zeitpunkt erfolgt und habe nur wenig gebracht.
Das Gespräch in voller Länge:
Ann-Kathrin Büüsker: Es war der erste Besuch eines europäischen Außenministers seit dem gescheiterten Putsch im Juli. Frank-Walter Steinmeier hat gestern die Türkei besucht. Zunächst war nur ein Treffen mit seinem türkischen Amtskollegen angesetzt; dann kam aber doch noch spontan eine Einladung von Präsident Erdogan dazu - relativ kurzfristig das Ganze.
Über diesen Besuch möchte ich nun mit Sevim Dagdelen sprechen, Bundestagsabgeordnete der Linken. Guten Morgen!
Sevim Dagdelen: Schönen guten Morgen, Frau Büüsker.
Büüsker: Frau Dagdelen, vier Monate nach dem gescheiterten Putsch ist das der erste Besuch eines europäischen Außenministers in der Türkei. Hätte das nicht schon viel eher kommen müssen?
Dagdelen: Die Beziehungen sind gerade nicht die besten und insofern, ich halte es für ein bisschen schwierig. Ich halte auch den Zeitpunkt der Reise jetzt für schwierig. Was hat man mit dieser Reise bezweckt? Wenn es das Ziel war, das Besuchsrecht bei einer Parlamentsarmee für Bundestagsabgeordnete bei Bundeswehrsoldaten, bei der Stationierung zu erreichen, was eine Selbstverständlichkeit sein sollte, muss man sagen, Ziel ist nicht erreicht.
Vor allen Dingen wenn man bedenkt, dass wir als Mitglieder des Auswärtigen Ausschusses, des federführenden Ausschusses bei Bundeswehreinsätzen im Ausland jetzt die Gnade der türkischen Regierung offensichtlich bekommen haben, dort reisen zu können, dann frage ich mich, was ist mit meinen Kolleginnen und Kollegen. Das ist alles irgendwie nicht da und das sieht man ja auch an dem ganzen Drumherum bei der Reise.
"Es ist eine moralische Bankrotterklärung, mit einer Diktatur Beitrittsverhandlungen zu führen"
Büüsker: Aber Steinmeier war bei diesem Besuch ja um Dialog bemüht. Ist das nicht der richtige Weg, um mit Erdogan umzugehen?
Dagdelen: Dialog ist immer wichtig und auch richtig. Selbst mit Diktatoren bin ich dafür, dass man einen Dialog führt. Aber wissen Sie, die Zusammenarbeit, die Beziehung Deutschland-Türkei ist ja mehr als ein Dialog. Wenn wir beispielsweise weiter Waffen an die Türkei schicken und verkaufen, ist das alles andere als ein Dialog.
Die Türkei ist allein im ersten Halbjahr 2016 von Platz 15 jetzt auf Platz acht der Bestimmungsländer der deutschen Rüstungsexporte vorgerückt und ich finde, das hat nichts mehr nur mit Dialog zu tun. Das ist eine enge Kooperation, eine Premium-Partnerschaft auch in anderer Hinsicht. Insofern finde ich, ja zum Dialog, aber nein zu einer Premium-Partnerschaft beispielsweise mit einer Diktatur, wie die Türkei eine unter Erdogan ist.
Büüsker: Sie sprechen sich ja auch für den Abbruch der Beitrittsverhandlungen der Türkei zur Europäischen Union aus. Warum?
Dagdelen: Ich finde, es ist eine wirklich völlige moralische Bankrotterklärung, mit einer Diktatur Beitrittsverhandlungen zu führen, und es ist ein kompletter Wahnsinn, an dem Kommissare wie Herr Oettinger von der CDU ja weiter festhalten wollen, und ich finde, dieser Wahnsinn muss jetzt aufhören. Es widerspricht auch den geltenden EU-Gesetzen. Voraussetzungen für Beitrittsverhandlungen sind Verbesserungen in Sachen Rechtsstaatlichkeit und Demokratie.
Büüsker: Die gibt es nicht, aber die könnte man durch Dialog vielleicht erreichen. Viele türkische Intellektuelle warnen davor, diese Beitrittsverhandlungen abzubrechen, weil das im Prinzip die weitere Isolation der Türkei bedeuten würde. Wie stehen Sie dazu?
Dagdelen: Ja, es gibt auch türkische Intellektuelle, die genau das fordern. Es gibt unterschiedliche Stimmen aus der Türkei. Aber aus der Perspektive der Menschen aus der Türkei kann man vielerlei auch nachvollziehen. Aber das Problem ist: Wir müssen doch hier in Berlin, in Brüssel unsere Entscheidungen treffen.
Wir müssen doch sagen, okay, halten wir fest an unseren Regeln und an unseren Gesetzen. Halten wir daran fest, dass wir sagen, Voraussetzung für weitere Beitrittsverhandlungen sind nach den geltenden Bestimmungen, Kopenhagener Kriterien etc. pp, Fortschritte in Sachen Rechtsstaatlichkeit und Demokratie und Menschenrechte. Dann müssen wir sagen, nein, in der Türkei herrscht genau ein Rückschritt in diesen Sachen, wie die EU-Kommission in ihrem sogenannten Fortschrittsbericht auch noch mal festgestellt hat, ein verheerendes Zeugnis ausgestellt hat.
Dann muss man sich doch selbst ernst nehmen. Oder natürlich ja, Berlin und Brüssel können auch sagen, wir nehmen uns selbst nicht ernst, uns ist es total egal, was in unseren Gesetzen drinsteht, wir werden auch eine Diktatur in die Europäische Union nehmen und einführen, selbst wenn die alles gleichschaltet, die Justiz, die Presse, die politische Opposition. Alles wird gleichgeschaltet plus es wird noch die Todesstrafe eingeführt plus laut Human Rights Watch und Amnesty International systematisch wieder Folter angewendet. Auch einen Folterstaat sind wir bereit, in die Europäische Union aufzunehmen. Dann soll man ganz ehrlich sein.
"Die roten Linien, die sind schon längst in der Türkei überschritten worden"
Büüsker: Die Wiedereinführung der Todesstrafe wurde ja bereits von zahlreichen EU-Politikern als rote Linie gekennzeichnet. Nun sagt Marc Pierini, ehemaliger EU-Botschafter in der Türkei, Erdogan will, dass die EU die Gespräche abbricht, weil die eigentlich das einzige sind, was ihn noch am Weg zur absoluten Macht hindert. Also dürfen wir ihm doch den Gefallen, die Gespräche abzubrechen, eigentlich gar nicht tun.
Dagdelen: Nein, das ist absurd. Das ist auch das, was die vermeintlichen Türkei-Experten seit Jahren hier predigen, und das ist auch das, was die Bundesregierung immer gepredigt hat in den letzten zehn Jahren. Je schlimmer die Situation in der Türkei geworden ist, hat man immer mehr Beitrittsgespräche geführt, neue Beitrittskapitel eröffnet, und das hat dazu geführt, was wir als Linke von Anfang an gesagt haben. Das führt zur Ermutigung von Erdogan, noch brutaler vorzugehen, noch mehr Demokratie abzubauen, noch mehr Rechtsstaatlichkeit abzubauen, und genau das ist in den letzten elf Jahren passiert.
Die Bilanz ist eine ganz andere als das, was sich Brüssel und auch Berlin erhofft haben. Und es stimmt auch nicht, dass Erdogan die Europäische Union nicht wollen würde. Es war immer schon ein strategisches Ziel der Erdogan-Regierung, als er noch Ministerpräsident war, und auch selbst jetzt als Präsident, allein aus politischen und ökonomischen Gründen. Insofern halte ich diese Einschätzungen für wirklich völlig falsch. Sie sind nur mit der Brille der Brüsseler Behörde gemacht so nach dem Motto, wir dürfen da nicht mehr nachgeben. Aber ich finde, es ist genug nachgegeben worden.
Wir haben gesagt, bei der Todesstrafe ist die rote Linie gezogen worden. Ich finde, die roten Linien, die sind schon längst in der Türkei überschritten worden. 100.000 Menschen, Beamte haben ihre Arbeit verloren, 4.500 Firmen und Institutionen wurden verstaatlicht, 36.000 angebliche Verschwörer sind inhaftiert, 153 Journalisten sind in Haft, 2.000 Mitglieder der prokurdischen Linkspartei HDP sind bereits in Haft, darunter die Parteivorsitzenden und der Fraktionsvorsitzende, und jetzt hat Erdogan auch noch die größte Oppositionspartei, nämlich die Sozialdemokratische Partei ins Visier genommen. Die roten Linien sind längst überschritten und wenn Brüssel und Berlin sich ernst nehmen wollen und glaubwürdig bleiben wollen, müssen sie die Beitrittsverhandlungen aussetzen, also jetzt sofort stoppen.
"Die Sprache, die Brüssel und Berlin bisher gesprochen haben in Sachen Türkei, ist eine falsche Sprache"
Büüsker: Aber, Frau Dagdelen, kann das denn das einzige sein, was die EU tun kann? Beitrittsverhandlungen stoppen und dann?
Dagdelen: Es kann noch mehr gemacht werden. Beispielsweise die Vorbeitrittshilfen müssen gestoppt werden. Man muss sich doch mal wirklich ernst nehmen. Es versteht doch kein Mensch mehr, dass Erdogans Türkei zwischen 2007 und 2013 von der EU 4,8 Milliarden Euro an Vorbeitrittshilfen bekommen hat. Das ist immer bei Beitrittskandidaten der Fall.
Büüsker: Frau Dagdelen, ich verstehe Ihren Punkt. Aber ich würde tatsächlich gerne noch mal darauf hinaus: Was soll die EU tun? Beitrittsverhandlungen stoppen, okay, Gelder streichen. Und dann? Welche Möglichkeiten hat man dann noch?
Dagdelen: Wir führen ja immer noch einen Dialog. Wir führen ja immer noch Dialoge mit anderen Ländern. Ich bin davon überzeugt, dass die Sprache, die Brüssel und Berlin bisher gesprochen haben in Sachen Türkei, eine falsche Sprache ist. Und die Wirklichkeit, die bestätigt ja mich und nicht diejenigen, die diesen Kurs bisher gefahren sind, weil die Wirklichkeit verheerend ist. Es hat sich nichts verbessert, sondern es hat sich verschlechtert. Und auf Druck, das hat Erdogan schon gezeigt und auch die AKP-Regierung, auf Druck reagieren sie auch, beispielsweise in den Beziehungen Türkei-Russland. Warum gab es diese Annäherung …
Büüsker: Frau Dagdelen, wir müssen zum Schluss kommen, weil die Nachrichten folgen um sieben Uhr. - Ich danke Ihnen für das Gespräch. - Die Linken-Abgeordnete Sevim Dagdelen war das. Wir haben über die EU-Politik mit Blick auf die Türkei gesprochen. Vielen Dank für das Gespräch, Frau Dagdelen.
Dagdelen: Ich danke Ihnen auch.
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